Etwa 40 Prozent der acht- und neunjährigen Kinder in Deutschland weisen einen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf, der nach den Richtlinien der vertragszahnärztlichen Versorgung therapiert werden sollte. Ein Vergleich mit entsprechenden Abrechnungsdaten unterstreicht zudem, dass sich dieser Behandlungsbedarf weitgehend mit der Versorgungsrealität deckt und es somit in diesem Bereich keine Unter- oder Überversorgung gibt.
Diese und zahlreiche weitere Ergebnisse zeigt das Forschungsprojekt „Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern“, das am 23. September 2022 in einer Pressekonferenz in Berlin gemeinsam durch das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ), die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und die Deutsche Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Zahnfehlstellungen und Kieferanomalien bei Kindern waren in diesem Umfang seit mehr als 30 Jahren nicht mehr flächendeckend ermittelt worden.
Prof. Dr. Rainer Jordan vom IDZ stellte als Studienleiter Aufbau und Ziele der DMS 6 als oralepidemiologische Studie vor. Sie strebt Schlussfolgerungen von der Stichprobe auf die Wohnbevölkerung in Deutschland an, hat aber neben deskriptiven Zielen auch analytische Ansätze.
Deutliche Hinweise auf medizinsch-prophylaktischen Nutzen
Prof. Dr. Dr. Peter Proff, Präsident der DGKFO erklärte: „Die Auswertung der Daten des kieferorthopädischen Moduls der DMS 6 zeigt, dass bei Anwendung der Richtlinien (Kieferorthopädische Indikationsgruppen, KIG) im Sinne eines kieferorthopädisch-epidemiologischen Index der theoretische Behandlungsbedarf bei den untersuchten 8- bis 9-Jährigen Kindern bei etwa 40 Prozent liegt. Ferner ist von einer Zunahme der Zahn- und Kieferfehlstellungen bis zum späten Wechselgebiss auszugehen. Zusätzlich ergaben die Analysen deutliche Hinweise auf den medizinisch-prophylaktischen Nutzen einer kieferorthopädischen Behandlung, der sich dann bei einer Folgeuntersuchung im Rahmen der DMS 7 weiter verifizieren lässt. Zusammen mit der 2021 veröffentlichten S3-Leitlinie „Ideale Behandlungszeitpunkte kieferorthopädischer Anomalien“ ist die Feststellung früherer Berichte im Sinne einer mangelnden Evidenz für die Notwendigkeit oder Wirksamkeit kieferorthopädischer Maßnahmen nicht zu halten. Die DGKFO wird sich auch in den kommenden Jahren mit Nachdruck dafür einsetzen, die Qualitätsstandards und die Evidenzlage der kieferorthopädischen Versorgung in Deutschland weiter zum Wohl der Patientinnen und Patienten zu verbessern.“
Der Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen über die ästhetischen Aspekte hinaus und die Wahl der Therapiemethoden waren in den vergangenen Jahren immer wieder auch in der Öffentlichkeit Gegenstand von Auseinandersetzungen, auch im Berufsstand selbst. 2018 hatte der Bundesrechnungshof die mangelnde Versorgungsforschung im Bereich KfO kritisiert und die Notwendigkeit kieferorthopäscher Behandlungen zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung infrage gestellt. Damals war das Bundesministerium für Gesundheit aufgefordert worden, dazu Stellung zu nehmen.
Problematische Entwicklung: Aligner-Shops
Konstantin von Laffert, Vizepräsident der BZÄK: „Es wurde festgestellt, dass Kinder mit Zahn- und Kieferfehlstellungen mehr funktionelle Einschränkungen bei der Lebensqualität aufweisen, weil sie mehr Schwierigkeiten beim Kauen haben. Außerdem haben sie öfter Schmerzen im Mund. Kariesfreie Kinder haben zudem seltener einen kieferorthopädischen Versorgungsbedarf. Dies zeigt das präventive Potenzial der Kieferorthopädie. Kieferorthopädie gehört in die Hände von Profis, denn hier wirken große Kräfte auf Zähne, die engmaschig zahnärztlich begleitet werden müssen. Das Fachgebiet der Kieferorthopädie ist ein Bestandteil der Zahnmedizin. Oft ist das Fachgebiet sogar so anspruchsvoll, dass ein eigener Fachzahnarzt Kieferorthopädie geschaffen wurde. Immerhin 57 Prozent der acht- bis neunjährigen Kinder haben zwar nach medizinischen Gesichtspunkten eine kieferorthopädische Behandlungsindikation, die die GKV aber nicht übernehmen kann. Diese Patientengruppe geht die Korrektur oft als junge Erwachsene an. Sogenannte ,Aligner-Shops‘ umwerben diese Zielgruppe: Patienten werden teilweise ohne ordentliche Befunde (Röntgenbild, Parodontal-, Kiefergelenkbefund, Implantatanalyse) und via Handyfoto selbst den Behandlungsfortschritt dokumentierend behandelt. Das kann zu großen zahnmedizinischen Problemen führen.“
Von Laffert ging noch etwas mehr auf dieses Problem ein. Eine Alignerbehandlung sei nicht nur ein bisschen Kosmetik – hier wirkten große Kräfte im Kiefer. Wer die Auswirkungen dieser Fehlbehandlungen einmal selbst gesehen habe, so von Laffert, erkenne, dass hier schwere Schäden bis hin zum Zahnverlust die Folge sein können. Er verwies auf einen Beitrag in der Fernsehsendung „Markt im Dritten“, die zeigte, dass Patienten in Aligner-Shops keine Zahnärztin/keinen Zahnarzt trafen. Der Patient kann nicht einschätzen, wie seine Situation ist, so von Laffert.
Weder Über- noch Unterversorgung in Deutschland
Zu den Studienergebnissen führte Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der KZBV, weiter aus: „Das Studienergebnis zeigt, dass der kieferorthopädische Behandlungsbedarf von Kindern und Jugendlichen von etwa 40 Prozent über viele Jahre konstant geblieben ist. Zudem sehen wir eine gleichbleibende Verteilung in den kieferorthopädischen Indikationsgruppen. Die Ergebnisse zur Frühbehandlung und der Vergleich mit weiteren Abrechnungsdaten belegen, dass es in der kieferorthopädischen Versorgung – anders als behauptet – keine Überversorgung gibt. Kinder mit einem kieferorthopädischen Behandlungsbedarf weisen einen deutlich höheren Anteil an kariösen Zähnen auf, als Kinder ohne kieferorthopädischen Behandlungsbedarf. Die Kieferorthopädie ist und bleibt daher essenzieller Bestandteil einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, die seit vielen Jahrzehnten ebenso konsequent wie erfolgreich von der Zahnärzteschaft umgesetzt wird. Dieser vorbildliche Versorgungsansatz führt zu nachhaltig rückläufigen Morbiditäten bei der Mund- und Allgemeingesundheit der Bevölkerung, zu weniger Folgeerkrankungen und letztendlich auch zu Kostenersparnis im Gesundheitswesen.“
Hintergrund der neuen Studie
Zahn- und Kieferfehlstellungen gehören neben Karies und Parodontalerkrankungen zu den häufigsten Gesundheitsbeeinträchtigungen der Mundhöhle. Die Studie „Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern“ ist das erste Modul der Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6), mit der die Mundgesundheit zufällig ausgewählter Personen in ganz Deutschland systematisch analysiert wird. Von Januar bis März 2021 wurden an 16 verschiedenen Orten in Deutschland annährend 700 Kinder im Alter von acht und neun Jahren wissenschaftlich untersucht. Die DMS 6 dient unter anderem als abgesicherte Grundlage für die künftige Ausrichtung der zahnärztlichen Versorgung und gesundheitspolitischer Grundsatzentscheidungen. Zudem soll die Untersuchung zu noch besseren Strukturen und Prozessen in Zahnarztpraxen beitragen.
Ausgewählte Ergebnisse:
- 10 Prozent der Studienteilnehmenden wiesen ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen eine Behandlung erforderlich machen.
- 25,5 Prozent der Studienteilnehmenden wiesen stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen dringend eine Behandlung erforderlich machen.
- 5 Prozent der Studienteilnehmenden wiesen extrem stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizinischen Gründen unbedingt eine Behandlung erforderlich machen.
- Kariesfreie Studienteilnehmende hatten seltener einen kieferorthopädischen Versorgungsbedarf als Kinder mit Karieserfahrung (37,1 Prozent vs. 44,7 Prozent).
- Bei einem kieferorthopädischen Versorgungsbedarf besteht häufig auch eine Einschränkung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität mit Schwierigkeiten beim Kauen von Nahrung. Gleichzeitig waren Studienteilnehmende ohne kieferorthopädischen Versorgungsbedarf häufiger kariesfrei. Diese Assoziationen geben Hinweise auf den medizinisch-prophylaktischen Charakter einer kieferorthopädischen Behandlung.
In der anschließenden Fragerunde ging es noch einmal um die Alignershops und Lösungsmöglichkeiten von Seiten der Politik. Dazu erklärte von Laffert, leider sei eine Anhörung im Bundestag im Mai 2021 mit sehr positiven Rückmeldungen wohl aufgrund vieler Ereignisse seitdem im Sande verlaufen, obwohl Handlungsbedarf klar erkannt wurde.
Zur Diskrepanz zwischen Bedarf und abgerechneten Fällen kieferorthopädischer Behandlungen bekräftigte Eßer, medizinisch im Hinblick auf Folgemorbiditäten sei es auf jeden Fall sinnvoll, diese Lücke zu schließen, doch sei es auch menschlich, dass nicht jeder mit Behandlungsbedarf zum Arzt gehe. Weitere Informationen zur DMS-6-Studie gibt es auf den Seiten der KZBV, der BZÄK und des IDZ.
Karen Nathan, Berlin