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Das Gesundheitssystem steht mit dem Rücken zur Wand – Dr. Uwe Axel Richter über Irrsinn, unmögliche Strukturreformen, bekannte Bastionen und die Werbeetats der Kassen
(c) Photo_Pix/Shutterstock.com
Dass in den Hauptstädten dieser Welt der politische Irrsinn nicht nur nach Wahlen zu Hause ist, wusste bereits Cicero. Immerhin soll von dem berühmtesten Redner das antiken Roms, seines Zeichens Anwalt, Schriftsteller, Philosoph und Politiker, der Ausspruch stammen: „Die Welt ist ein Irrenhaus“.
Allerdings galt er, zumindest nach dem Urteil späterer Geschichtsschreiber, auch als Opportunist. Disclaimer: Eventuelle berufliche oder charakterliche Übereinstimmungen mit heutig Handelnden wären lediglich „Reiner Zufall“. Was selbstredend auch für all die Umgefallenen gilt.
Ist Irrsinn steigerbar?
Bis vor wenigen Wochen war Irrsinn nach meinem Dafürhalten eine nicht steigerbare Entität. Mittlerweile bin ich mir angesichts der wirren Inszenierungen des Berliner Polittheaters nicht mehr sicher. Denn die (geplante) höchste Schuldenaufnahme aller Zeiten, kombiniert mit lauten Rufen nach gleichzeitigen Einsparungen (CDU) und gleichzeitiger Erhöhung der Steuern (SPD) und ohne Einigung bei den Koalitionsvereinbarungen auf halbwegs konkrete, weil nachvollziehbare Maßnahmen, hat schon was Skurriles. Die im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD angekündigten kleinen Steuersenkungen in Gastronomie und Landwirtschaft können als Begründung nun wirklich nicht herhalten.
Sondervermögen: Fastfood für Lobbyisten
Aber reicht das schon für die Einschätzung „Irrsinn“? Es sei daran erinnert, dass es für die geforderten Sondervermögen noch ausformulierte Gesetze braucht, welche der Bundespräsident sodann unterschreiben darf, bevor das Sondergeld verteilt werden kann. Derzeit befindet sich dieses Land lediglich in einem postorgiastischen Zustand nach kollektivem „Pseudofressanfall“ von Lobbyisten, Funktionären (auch aus dem Gesundheitswesen) und Partei- wie Landespolitikern im Anblick des am Horizont sichtbaren „Goldburgers“.
Zustände wie im alten Rom
Halten wir also fest: Das Sondervermögen ist weder vorhanden noch verteilt. Friedrich Merz (CDU) ist nach wie vor nur ein potenzieller Kanzlerkandidat. Deutschland hat immer noch einen geschäftsführenden Kanzler namens Olaf Scholz. Ein Sondervermögen unterliegt als Sonderschulden anderen Verwendungsregeln als die übliche Schuldenaufnahme von Bund und Ländern. Und wie das Vernunfttechtelmechtel von CDU und SPD, genannt Koalitionsverhandlungen, angesichts des ebenfalls mitspielenden grünen Schattenkoalitionärs ausgehen wird, ist noch nicht ausgemacht. Nennen wir es – statt Irrsinn – Zustände wie im alten Rom. Jetzt fehlt auf dieser politischen Bühne nur noch der Auftritt des Brutus, welcher den Möchtegern-Caesar …
Gesundheit und Pflege kommen zu kurz – meinen auch die Bürger
So gesehen kann man fast froh sein, dass die Gesundheits- und Pflegepolitik trotz der anstehenden enormen Aufgaben bis dato kaum Thema der Verhandlungen von CDU/CSU und SPD war. Was nicht bedeutet, dass die deutsche Bevölkerung diesen Umstand nicht negativ wahrnehmen würde. In einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des BKK-Dachverbandes von diesem Wochenende heißt es: „Die Deutschen blicken mit großer Sorge auf die Koalitionsgespräche in Berlin, wenn sie an das Thema ‚Gesundheit und Pflege‘ denken: 85 Prozent von ihnen glauben, dass dieses Thema in den aktuellen Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD zu kurz kommt. Lediglich acht Prozent glauben das Gegenteil“.
Kassen soll gegen die zweckfremde Verwendung der Gelder klagen können
„Dringenden Handlungsbedarf sehen die Bürgerinnen und Bürger bei den explodierenden Krankenkassenbeiträgen: Immerhin 91 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass trotz steigender Kassenbeiträge die Qualität der Gesundheitsversorgung gleichbleibt oder sogar noch schlechter wird. Von der Politik erwarten sie eine gerechtere Finanzierungsstruktur. 42 Prozent wollen, dass versicherungsfremde Leistungen, also Leistungen, die nicht in direktem Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung der Versicherten stehen, aus Steuermitteln finanziert werden. 81 Prozent sprechen sich sogar dafür aus, dass die Krankenkassen das Recht erhalten sollten, gegen die zweckfremde Verwendung ihrer Gelder durch die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen“.
Pulverfass Finanzierung der GKV
„Bei den GKV-Finanzen sitzen wir auf einem Pulverfass und die Lunte ist extrem kurz: politisch gewollt gibt es kaum noch finanzielle Spielräume, die Beitragszahler müssen staatliche Aufgaben finanzieren und gleichzeitig laufen die Ausnahmen ungebremst davon. Den Verhandlern muss jetzt klar sein, dass der Koalitionsvertrag eine Explosion verhindern und endlich Entlastung für die Versicherten und die Wirtschaft bringen muss“, so Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK-Dachverbands.
Umfrage: Bürger wollen Prävention vor Kuration
Ein letzter Aspekt aus dieser Umfrage, den sich die Koalitionsverhandler auf ihren Themenzettel schreiben sollten: 77 Prozent der Befragten fordern, dass die Erhaltung der Gesundheit und die Vermeidung von Krankheiten einen größeren Stellenwert bei den Leistungen der GKV haben soll. „Prävention gehört ganz oben auf die Prioritätenliste und fest in allen Politikfeldern verankert, damit die Menschen gar nicht erst krank werden. Schon allein deshalb muss das Thema Gesundheit jetzt prominent und ernsthaft auf den Verhandlungstisch der Koalitionsgespräche kommen. Die Krankenkassen wollen viel mehr für die Prävention tun, aber dazu muss die Gesundheitspolitik weg von dem Fokus auf Krankheitsverwaltung und Behandlung und hin zu einer Mentalität der Gesundheitsgestaltung“, fordert Klemm.
Echte Präventionsorientierung und situative Überforderung
Spätestens an dieser Stelle wird das neue Denken für die etablierten Kassenstrukturen schmerzhaft werden. Denn vorgenannte „Erkenntnisse“ lassen sich nicht mit dem üblichen Vorgehen öffentlicher Schuldzuweisungen und Erhöhung der Regelungsdichte beziehungsweise Bürokratielast für die Leistungserbringer erreichen. Diese Forderung nach Präventionsorientierung wirklich umzusetzen, verlangt eine Systemänderung, welche die Koalitionsverhandler angesichts der kurzfristig zu lösenden Probleme – Stichworte Krankenhausreform, Notfallreform, Sicherstellung der Versorgung – in Tateinheit mit den dramatischen Finanzierungsproblemen definitiv überfordern wird. Der Sprung ist zu groß und die Absprungbasis zu brüchig.
Totschlagargument „qualitätsabhängige“ Vergütung
Aber vielleicht geht es auch gar nicht um den großen Sprung. Denn angesichts der komplexen Aufgaben- und Verhandlungssituation hat die BKK in der Umfrage noch zwei weitere „positionsverbessernde“ Aspekte abfragen lassen. Ich zitiere: „Zudem sollte die Vergütung der Leistungserbringenden für medizinische Behandlung vorrangig von der Qualität abhängen: 59 Prozent der Befragten sprechen sich demnach für eine qualitätsabhängige Vergütung aus“. Und da das Thema Termine ja laut Kassen angeblich allen auf den Nägeln brennt: „Die Befragten wünschen sich außerdem endlich eine von Experten seit Jahrzehnten geforderte Integrierte Versorgung. 82 Prozent plädieren für eine Verpflichtung aller medizinischen Bereiche, die Behandlung und Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten gemeinsam und abgestimmt zu erbringen“.
Alte Bastionen: hier Kassen, dort Leistungserbringer
Und damit sind wir wieder bei der seit Jahrzehnten gewohnten Positionierung im deutschen Gesundheitswesen in den bekannten Bastionen: auf der einen Seite die Leistungserbringer, auf der anderen die Kassen. Deren Lieblingsforderung der vergangenen Wochen lautet „sofortiges Ausgabenmoratorium“. Dass dieses in der Konsequenz nicht nur die Leistungserbringer, sondern eben auch die Patienten aufgrund der weiteren Erosion der Versorgungsbasis treffen wird? Eh wurscht.
Die Vorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Dr. Doris Pfeiffer, will „keine Preis- oder Honorarerhöhungen mehr, die über die laufenden Einnahmen hinausgehen“. Angesichts der galoppierenden Ausgaben forderte sie einen grundlegenden Kurswechsel in der Gesundheitspolitik. Begründung: „Hier muss die Politik ran, denn zu oft müssen die Krankenkassen zu viel Geld für zu wenig Qualität bezahlen“. Einen Nachweis für die altbekannte Behauptung der minderen Qualität blieb man auch hier mal wieder schuldig.
Kassen lenken wie üblich von ihren Problemen ab
Aber es lenkt halt von dem grundlegenden Problem der Kassen ab, selbst zu sparen. Und zwar aus wirtschaftlichem Prinzip und nicht erst auf Druck der Politik. Und das gilt eben nicht nur für die gezahlten Bezüge der Vorstände und Vorständinnen, auch wenn die BILD-Zeitung letzte Woche titelte: „Während Beiträge raufknallen: Kassenchefs kassieren fettes Gehaltsplus!“ Sondern auch im Hinblick für eine generelle Kostensensibilität.
„Arme AOK“ gibt 85 Millionen Euro für Medialeistungen aus
Und da hat es schon ein erhebliches Geschmäckle, wenn der AOK-Bundesverband fast zeitgleich einen 85 Millionen Euro schweren Mediaetat für die kommenden vier Jahre ausschreibt und vergibt. Jens Martin Hoyer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes: „Die turnusmäßige Ausschreibung unseres Media-Etats bietet uns die Chance, das Profil der AOK als Gesundheitskasse im Markt qualitativ und kosteneffizient zu festigen.“ Ja, nee, alles klar.
Gleichzeitig schlägt man kassenseits Alarm, die Finanzlage der GKV ist absolut besorgniserregend. Da die Gesamtsumme der jährlichen Mediaspendings der gesetzlichen Krankenkassen ungefähr in der gleichen Größenordnung von 85 Millionen Euro liegen dürfte, sei die Frage erlaubt: Wann wollen die gesetzlichen Krankenversicherungen zu sparen beginnen?
Teurer „Wettbewerb“ um Kassenmitglieder
Wohl nicht bei der Werbung. Price Waterhouse Cooper (PwC) eines der großen Beratungsunternehmen in Deutschland, beschreibt eines seiner Beratungsangebote für gesetzliche Krankenkassen so: „Erfolgreich im Wettbewerb um Mitglieder – Rund 73 Millionen Menschen in Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. Um diese Zielgruppe konkurrieren auf dem Markt circa 100 Krankenkassen. Sie stehen in scharfem Wettbewerb zueinander. Gleichzeitig sind ihre Marketing- und Vertriebsmöglichkeiten begrenzt, weil sich die Leistungen und Beitragssätze der einzelnen gesetzlichen Krankenkassen (GKV) nur geringfügig unterscheiden und die Unternehmen sich in einem streng regulierten Markt bewegen. Wie kann in diesem Umfeld ein zielgerichtetes (digitales) Marketing aussehen? Wie können die gesetzlichen Krankenkassen sich positionieren und eine Marke aufbauen? Wie gelingt es ihnen, Mitglieder zu gewinnen und langfristig zu binden?“
Sechs reichen auch
Werte Politik, findet Euren Fehler! Hinweis: Die richtige Schublade nennt sich „Strukturkosten“. Und die Zauberkassenzahl lautet: sechs.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Foto: Verena GaliasDr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.
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