In ihrem Beitrag für die Kieferorthopädie 1/20 stellen die Autoren Dr. Thomas Binger und Dr. Jennifer Reiter einen differenzialdiagnostisch interessanten Patientenfall vor und laden die Leserinnen und Leser ein, sich an der Diagnostik zu beteiligen.
Anamnese, radiologische und klinische Befunde
Ein 16,5-jähriger Patient stellt sich nach Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung mit dem Überweisungsauftrag „Entfernung der retinierten Weisheitszähne“ vor. Die mitgebrachten Panoramaschichtaufnahmen zeigen den radiologischen Befund vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung (Abb. 1a) im Alter von 13 Jahren, den Befund im Verlauf der kieferorthopädischen Behandlung im Alter von 14,5 Jahren (Abb. 1b) und den aktuellen Befund nach Entbänderung im Alter von 16,5 Jahren (Abb. 1c). Bei der klinischen Untersuchung findet sich im Oberkiefer rechts bei Fehlen von Zahn 17 eine verkürzte Zahnreihe. Der Kieferkamm scheint distal von Zahn 16 etwas verdickt zu sein, die Schleimhaut im Bereich des zahnlosen Kieferkamms in Regio 17 ist unauffällig (Abb. 2). Anamnestisch war keine Zahnextraktion vorausgegangen. Eine im Rahmen der präoperativen Diagnostik angefertigte digitale Volumentomografie zeigt in Regio 17 einen scharf begrenzten osteolytischen Prozess mit vereinzelten Verschattungen (Abb. 3a und b).
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Um welchen Zahn handelt es sich Ihrer Meinung nach beim retinierten Molar im Oberkiefer rechts?
Welche differenzialdiagnostischen Überlegungen stellen Sie bezüglich des Prozesses in Regio 17 an?
Welche Therapie würden Sie empfehlen und wie schätzen Sie die Prognose ein?
Beurteilung des retinierten Zahns im Oberkiefer rechts
Das Wurzelwachstum des retinierten Zahns im Oberkiefer rechts zeigt ein Stadium, das dem von Zahn 27 entspricht. Die Weisheitszahnanlagen 28, 38 und 48 weisen noch keine Wurzelbildung auf, d. h., bei dem retinierten Zahn in Regio 17 muss es sich um den Zwölf-Jahr-Molar handeln, der aufgrund des pathologischen Prozesses kieferkammwärts seiner Krone am Durchbrechen gehindert wurde. Zahn 18 ist nicht angelegt.
Differenzialdiagnostische Überlegungen zur Dignität des Prozesses und Verdachtsdiagnose
Im Rahmen der Vergleichbarkeit der Panoramaschichtaufnahmen im Alter von 13, 14,5 und 16,5 Jahren erscheint die Position der Krone des retinierten Zahns im Oberkiefer rechts unverändert, was gegen eine Größenzunahme bzw. für ein extrem langsames Wachstum des Prozesses spricht. Zusammen mit der guten Abgrenzbarkeit der Läsion ist daher von einem gutartigen Prozess auszugehen. Für die differenzialdiagnostische Eingrenzung des Befunds sind die Verschattungen innerhalb der Aufhellung wegweisend. Feine, knochendichte Verschattungen innerhalb eines zystisch imponierenden Prozesses können bei einem kalzifizierenden epithelialen odontogenen Tumor (sogenannter Pindborg-Tumor), bei einem adenomatoiden odontogenen Tumor (AOT), einem ameloblastischen Fibrom, einem ameloblastischen Fibrodentinom oder -odontom gefunden werden. Eine eindeutige Diagnosestellung ist anhand des Röntgenbefunds nicht möglich.
Therapie und Prognose
Die operative Entfernung und pathohistologische Untersuchung eines solchen Prozesses ist zur Diagnosesicherung erforderlich. Diese ergab im vorliegenden Fall die Diagnose eines ameloblastischen Fibrodentinoms. Das ameloblastische Fibrodentinom gehört, wie das ameloblastische Fibroodontom und das ameloblastische Fibrom, zur Gruppe der benignen gemischten odontogenen Tumoren, welche sowohl epitheliale wie auch mesenchymale Komponenten besitzen1.Während das ameloblastische Fibrom als echter Tumor angesehen wird, werden das ameloblastische Fibrodentinom und -odontom eher zu den Hamartomen gerechnet1. Im Unterschied zum ameloblastischen Fibrom, das nur in sehr seltenen Fällen Verkalkungen enthalten kann, weist das ameloblastische Fibrodentinom zusätzlich dentinähnliche, das ameloblastische Fibroodontom außerdem noch schmelzähnliche Ablagerungen auf. Eine Assoziation zu einem im Durchbruch gestörten Zahn wird beim ameloblastischen Fibrodentinom und -odontom häufig gefunden2. Dagegen sind Zahnverlagerungen beim ameloblastischen Fibrom selten3. Während das ameloblastische Fibrom in allen Altersgruppen gefunden wird3, treten ameloblastische Fibrodentinome und -odontome in nahezu 99 Prozent der Fälle vor dem 20. Lebensjahr auf4. Das ameloblastische Fibrom kann eine Infiltrationstendenz aufweisen, wenngleich diese gering ist3. Eine solche fehlt beim ameloblastischen Fibrodentinom und -odontom5.
Die Therapie besteht in der einfachen Enukleation6. Diese gelingt wegen der vorhandenen Kapsel problemlos. Der retinierte Zahn kann belassen werden, wenn noch ein Durchbruch zu erwarten ist. Ameloblastische Fibrodentinome beziehungsweise -odontome rezidivieren nicht6.
Ein Beitrag von Dr. Thomas Binger, Saarbrücken, und Dr. Jennifer Reiter, Merzig-Besseringen
Literatur
1. Reichart PA, Jundt G. Benigne „gemischte” odontogene Tumoren. Pathologe 2008;29:189–198.
2. Piesold J, Meerbach W. Ameloblastisches Fibrom im Oberkiefer. Mund Kiefer Gesichts Chir 1997;1:174–178.
3. Jundt G, Reichart PA. Benigne odontogene ektomesenchymale Tumoren. Pathologe 2008;29:199–204.
4. Freyschmidt J, Ostertag H, Jundt G. Knochentumoren mit Kiefertumoren. Heidelberg: Springer, 2010.
5. Regezi JA, Sciubba J. Oralpathology. Philadelphia: Saunders, 1993.
6. Gundlach KKH. Odontogene Tumoren. Der MKG-Chirurg 2008;1:22–236.