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Auch Ethik- und Expertenrat erkennen grundlegende Defizite aufgrund der unzureichenden Datenlage bei Einführung einer Impfpflicht

(c) ImageFlow/shutterstock.com

Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung vom 26. Januar 2022 erstmals in einer „Orientierungsdebatte“ über eine mögliche Impfpflicht diskutiert. Die Vielfalt der Stimmen nicht nur aus den Parteien, sondern auch aus den Expertengremien und der Ärzteschaft zu einer solchen Impfpflicht gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 nimmt zu. Ein Grund: Zu einigen wesentlichen damit verbundenen Fragen fehlen verlässliche Daten. Ein Problem, das uns nach zwei Jahren Pandemie bei vielen Entscheidungen und Fragen immer wieder – und immer noch oder sogar zunehmend – begegnet.

In der Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministers am 14. Januar 2022 wies der Virologe Prof. Christian Drosten darauf hin, dass die Einführung einer Impfpflicht eine politische Entscheidung sei. Am Vortag dieser Pressekonferenz äußerte sich auch die Vorsitzende des Ethikrats, Prof. Alena Buyx, zu den aktuellen Überlegungen des Rats zur Impfpflicht.

„Zielgruppenspezifische Strategie“ zu Impfangeboten

Bereits im Dezember 2021 hatte der Ethikrat mehrheitlich eine Impfpflicht empfohlen1. Angesichts der aktuellen Entwicklungen benannte der Ethikrat nun Voraussetzungen beziehungsweise Bedingungen für die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht. Er kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es an einer echten zielgruppenspezifischen Strategie mit beispielsweise noch mehr niedrigschwelligen und flächendeckenden Impfangeboten fehle.

Welches sind aber die angesprochenen Zielgruppen, die eine solche spezifische Strategie erreichen sollte? Außer, dass ungeimpfte Menschen mit schweren systemischen Erkrankungen in einem Alter über 65 Jahren ein besonders hohes Risiko für schwere Verläufe einer Sars-CoV-2-Infektion besitzen, ist bisher zu weiteren Zielgruppen nicht sehr viel bekannt.

Angesichts der in den vergangenen Tagen häufig kritisierten Qualität der vorhandenen Daten weist Ethikrat in der Überarbeitung seiner Stellungnahme ganz offensichtlich auf die Notwendigkeit hin, der naturwissenschaftlichen Dimension der Forschung über das Virus an sich auch eine datengestützte gesellschaftliche Dimension des Infektionsgeschehens hinzuzufügen. Über welche Forschungsansätze und Methoden dies geschehen kann, ist mehrfach beschrieben worden2. Zielgruppen können zum Beispiel durch bevölkerungsrepräsentative Kohortenstudien zur deskriptiven und analytischen Darstellung des Infektionsgeschehens über definierte Zeitintervalle ermittelt werden. Schließlich geht es um mögliche Infektionsquellen und Orte in den zahlreichen wechselseitigen Wirkungszusammenhängen einer Gesellschaft.

Keine validen Erklärungen für regional unterschiedliche Ausbreitung

Blickt man auf die derzeit extrem ansteigenden Infektionszahlen in Deutschland, fällt auf, dass die regionale Ausbreitung in Deutschland sehr heterogen ist. So weisen Länder wie Thüringen und Sachsen, die vor kurzem noch als Hotspots des Infektionsgeschehens galten, (noch) sehr niedrige Neuinfektionen auf. Dagegen sind in Bremen – vor kurzem noch als Vorzeigeland für die Umsetzung von Impfungen auch bei besonderen Zielgruppen gepriesen– die Inzidenzwerte sehr hoch. Auch Hamburg verzeichnet starke Zuwächse. Warum? Die einzige bekannt gewordene Erklärung dafür, dass zunächst insbesondere der Norden Deutschlands stark steigende Infektionswerte zeigte, war der Hinweis auf die Konzentration in großen Städten. Angesichts der Bevölkerungsverteilung und der Anzahl der Großstädte im Norden eine nahezu hilflose Erklärung – es fehlen die oben genannten Daten.

Es ist nicht bekannt, wer in Deutschland geimpft und/oder genesen ist

Nach dem Bericht im „Tagesspiegel“ vom 21. Januar 2022 strebt das RKI eine komplette Erfassung des Infektionsgeschehens nicht mehr an3. Als begrenzender Faktor wird auf die PCR-Testkapazität hingewiesen. Trotzdem lassen sich aus den Inzidenzzahlen nach Aussagen des RKI weiterhin Trends ableiten – aber es bleiben Dunkelziffern.

Durch die stark steigenden Inzidenzen sind nunmehr die Belegungsraten mit Covid-Patienten auf den Normalstationen der Krankenhäuser verstärkt in den Fokus geraten. Auch der Expertenrat kritisiert die hier ebenfalls unzureichende Datenlage der tagesaktuellen Meldung. Wer dafür verantwortlich ist, wird derzeit breit diskutiert4 – denn auch dazu fehlen Daten.

Noch deutlicher wurde das Mitglied des Expertengremiums der Bundesregierung, der Virologe Prof. Hendrick Streek aus Bonn, in der ZDF-Sendung von Markus Lanz am 25. Januar 20225. Es sei nicht bekannt, welcher Anteil der Bevölkerung in Deutschland geimpft und/oder genesen sei. Das heißt nichts anderes, als dass Prävalenzstudien völlig fehlen und nur durch die Erfassung von Inzidenzen dazu keine Aussagen getroffen werden können.

Fazit: Nach zwei Jahren der Pandemie werden die schweren Mängel bei den Datenlagen und das Fehlen von Forschungsergebnissen immer offensichtlicher.
Angesichts der Komplexität der Entscheidung über eine gesetzliche Impfpflicht ist der anvisierte Zeitplan durch die Politik in den vergangenen Tagen schon relativiert worden. Zweifelsohne bedarf es bei einer solchen Entscheidung sehr grundlegender juristischer, ethischer und politischer Abwägungsprozesse. Die Bundesländer erkennen derzeit bereits die großen Schwierigkeiten bei der Umsetzung einrichtungsbezogenen Impfpflicht6.

Datengestütze Entscheidung wichtig für Vertrauen der Menschen

Hauptproblem – und deswegen können die Virologen und Pandemiemodulierer nicht oder nur bedingt helfen – sind die fehlenden Daten und Forschungsergebnisse zur Verbreitung des Virus und der Infektionsketten in der Bevölkerung ermittelt über entsprechende Kohorten. Das führt in der Diskussion über die Sinnhaftigkeit und Wirkung einer allgemeinen Impfpflicht zu Lücken, die Befürworter und Gegner je nach ihrer Interessenlage mit auf nicht validen Daten begründeten Argumentationen füllen.

Es ist höchste Zeit, neben den vielfach vorgebrachten juristischen und ethischen Argumenten den Forderungen nach einer datengestützten Entscheidung zur Impfpflicht nachzukommen. Nur so kann Vertrauen in eine verantwortliche Pandemiebewältigung erreicht werden.

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Reuterstadt Stavenhagen

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Foto: BZÄK/Lopata
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich (Jahrgang 1956) studierte Zahnmedizin in Rostock und war von 1981 bis 1990 in der Poliklinik für Stomatologie des Kreiskrankenhauses Malchin tätig. Nach der Wiedervereinigung ließ er sich am 1. Februar 1991 in eigener Praxis in Stavenhagen nieder, in der er bis heute als Zahnarzt tätig ist. Schon seit dem 29. April 1990 bis zum Oktober 2021 war er Präsident der neu gegründeten Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, seit November 2000 bis Juni 2021 auch Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer.

Oesterreich befasste und befasst sich intensiv mit soziologischen und gesundheitspolitischen Fragestellungen und Themen der Prävention und Gesundheitskommunikation, unter anderem im Vorstand der Initiative proDente, aber auch wissenschaftlich. Im September 2011 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Greifswald ernannt. Kontakt zum Autor per E-Mail an dr.dietmar.oesterreich@t-online.de.

Literatur
[1] „Wir sind alle so fertig und gereizt als Gesellschaft“, Spiegel-Interview[+] mit Alena Buyx, 13. Januar 2022
[2] „Unsere Gesellschaft ist keine große Petrischale“ Quintessenz News, Januar 2022
[3] „Wie das RKI die Corona-Lage im Blick behalten will“, „Der Tagesspiegel“ online
[4] „Klinken zeigen bei Datenlücken auf Lauterbach“, ntv.de
[5] Talkshow Markus Lanz, ZDF vom 25. Januar 2022
[6] „Länder attackieren Corona-Impfpflicht im Gesundheitswesen“, „Ärzte Zeitung“ online

 

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