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Prof. Dr. Margrit-Ann Geibel über die systematische orale Inspektion und die Erfahrungen mit einen Kurzlehrbuch und zugehöriger App

Systematische klinische Einordnung am Beispiel „Graft-versus-host disease“ (GvHD).

(c) Geibel

Die orale Inspektion der Mundhöhle durch das geschulte Auge der Zahnärztin und des Zahnarztes gewinnt für die Patientinnen und Patienten zunehmend an Bedeutung. Aus der Sicht derer ist die „Präventive Medizin“ das große Thema der Zukunft. Warum ist in diesem wichtigen Feld die Zahnmedizin eine bisher unterbewertete Dienstleisterin?

Die Untersuchung der Mundhöhle ist eine Basisuntersuchung in der Zahnmedizin. Der fließende Übergang von Medizin zu Zahnmedizin ist bei der extra- und intraoralen Inspektion sichtbar. Die frühe Erkennung von prämalignen Läsionen hat überlebenswichtige Bedeutung. Der geschulte Blick für kleinste Veränderungen in der Mundhöhle durch Fachpersonal im Sinne der Oralpathologie ist deshalb unerlässlich.

Mundhöhlenkrebs ist eine lebensgefährliche Erkrankung, die vielfach unterschätzt wird. Alleine 5 Prozent aller malignen Karzinome und Veränderungen befinden sich in der Mundhöhle. Dabei ist besonders auffällig, dass Männer (68,2 Prozent) häufiger daran erkranken als Frauen (31,8 Prozent)1. Aber auch die Früherkennung von Diabetes oder auch kardiovaskulären Erkrankungen sind im Rahmen der oralen Untersuchung durch das erfahrene Auge des Fachpersonals möglich2,3.

Weiterbildungskonzepte zu Mundschleimhauterkrankungen

Schwerpunkt meiner oralmedizinischen Forschung in den vergangenen Jahren ist die Erhebung von Forschungsdaten aus Befragungen bei Zahnärztinnen und Zahnärzten und den Studierenden der Zahnmedizin über den grundsätzlichen Bedarf an Weiterbildung über Mundschleimhauterkrankungen. Auf der Basis dieser Erhebungen und Untersuchungen zum Wunsch nach Weiterbildungen in diesem Themenkomplex bei den Studierenden der Zahnmedizin wurden verschiedene Weiterbildungskonzepte entwickelt.

Auf der Grundlage von zwei Dissertationen entstand in Kooperation mit der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, dem Zentrum für Innere Medizin und der Klinik für Dermatologie und Allergologie der Universität Ulm 2014 ein Lehrbuch über die Erkrankungen der Mundschleimhaut in der zahnärztlichen Praxis2–5. Für die Weiterentwicklung zur Verbesserung der oralmedizinischen Lehre wurde dem Wunsch der Kolleginnen und Kollegen und der Studierenden entsprochen und aus dem analogen Lehrbuch ein digitales Lehrformat in Form einer Mundschleimhaut-App „Tunimucoris“ entwickelt. Die wissenschaftliche Umsetzung wurde seit 2017 mit Forschungsmitteln des Landes Baden-Württemberg unterstützt.

Mundhöhle als Spiegel von Erkrankungen

Die Mundhöhle ist der Spiegel von weltweit verbreiteten Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes oder auch kardiovaskulären Erkrankungen (Abb. 1). Die Mundhöhle ist sehr gut durchblutet. Diese physiologische Eigenschaft erlaubt es, dass sehr frühzeitig Änderungen im Stoffwechsel oder auch bei der Durchblutung am Bindegewebe und an  Schleimhaut und Zunge diagnostiziert werden können.

Eine frühe Abstoßungsreaktion nach Transplantation äußert sich in der oralen Schleimhaut als „Graft-versus-host disease“ (GvHD) mit entsprechenden entzündlichen Reaktionen an der Zahnfleischpapille (Abb. 2). Eine myeloblastäre Anämie, verursacht durch Vitamin-B12-Mangel, kann als Verdachtsdiagnose durch Zungendiagnostik gestellt werden (Abb. 3).

Die akute myeloische Leukämie führt zu charakteristischen Schleimhautinfiltrationen an der marginalen Schleimhaut des Ober- und Unterkiefers (Abb. 3). Lichenoide Erkrankungen haben einen geschlechtersensiblen Aspekt. Sie äußern sich in der Mundhöhle als weiße, nicht abwischbare Veränderungen der Wangenschleimhaut der Zunge oder auch des Alveolarfortsatzes. Erkrankt sind überwiegend Frauen. Die Ursache ist unbekannt. Es wird von einer entzündlichen Autoimmunerkrankung ausgegangen, die auch andere Körperregionen befällt (Abb. 4).

Eine andere häufige, weiße Mundschleimhauterkrankung ist die Leukoplakie. Ursachen sind Noxen wie Rauchen, Alkohol oder auch mechanische Reize durch schlecht sitzenden Zahnersatz oder chronische Entzündungen durch überstehende Kronen- und Füllungsränder.

Die Leukoplakie kommt häufiger bei Männern vor. Zunge, Wangenschleimhaut und  Zungengrund sind Prädelektionsstellen für orale Karzinome (Abb. 5). Der oropharyngeale Raum kann ebenfalls mit inspiziert werden.

Eine strukturierte Befundung ist Grundvoraussetzung für die orale Diagnostik. Als Zeitpunkt für die Erhebung bieten sich die halbjährlichen zahnärztlichen Routineuntersuchungen an. Die systematische Inspektion der Mundhöhle und der angrenzen extraoralen Strukturen benötigt nach unseren Studien zusätzliche 10 bis 15 Minuten Zeit für die Befundung und die Dokumentation.

Die meisten Plattenepithelkarzinome entwickeln sich aus Vorläuferläsionen. Dabei ist das Risiko maligner Transformation umso höher, je heterogener, verruköser und verhärteter die Läsion erscheint, wobei vor allem bei Leukoplakien und Erythroplakien Vorsicht geboten ist6,7. Auch hier ist ein Unterschied zwischen den Geschlechtern zu erkennen. So liegt die Prävalenz der Leukoplakien für Männer bei bis zu 4 Prozent und für Frauen bei etwa 1 Prozent8,9. Als wichtigste Risikofaktoren sowohl für die Entstehung oraler Plattenepithelkarzinome als auch ihrer Vorläuferläsionen zählen der Konsum von Tabak und Alkohol (insbesondere hochprozentige Alkoholika), das Betelnusskauen, Vitaminmangelernährung und das humane Papillomavirus (HPV), insbesondere die Subtypen HPV 16 und 189,10.

Es hat sich aus unserer Sicht bewährt, die Schleimhautveränderungen der Mundhöhle nach Farben einzuteilen, um die klinische Zuordnung zu vereinfachen. Der/Die weitergebildete Zahnarzt/Zahnärztin kann das Spektrum der weißen Veränderungen zunächst sicher behandeln. Rote oder dunkel pigmentierte Veränderungen sollten allerdings sofort überwiesen werden (Abb. 6).

Um eine iatrogene Verschleppung zu vermeiden, sollten die Patienten/-innen spätestens nach zehn Tagen an die HNO- oder MKG-Fachrichtung weiter überwiesen werden. Wenn eine mechanische Ursache (überstehender Füllungsrand, schlecht sitzender Zahnersatz), vorhanden ist, kann zuerst zahnärztlich behandelt werden.

Die Größe und die Infiltration des Tumors in benachbarte anatomische Strukturen sowie Metastasierungen beeinflussen wesentlich die 5-Jahres-Überlebensrate nach Therapie11So weisen Patienten/-innen mit lokalisierten Tumoren im Mund- und Rachenraum eine 5-Jahres-Überlebensrate nach Therapie von 84,4 Prozent auf, Tumoren, die bereits in regionale Lymphknoten oder Organe metastasiert sind, verringern die Überlebensrate auf 66,0 Prozent und bei Fernmetastasen liegt sie bei 39,1 Prozent1. Damit ist die Bedeutung einer frühzeitigen Erkennung eindeutig belegt. Die Aufgabe der Zahnärzte/-innen bei der Prävention ist unbestritten hoch.

Mit Diagnosehilfen wie Toluidinblau, Autofluoreszenz, Chemolumineszenz sowie der Bürstenbiopsie wurde versucht, den Zahnärzten/-innen Möglichkeiten für eine gleichermaßen einfache wie sichere und noninvasive Diagnose zur Seite zu stellen. Jedoch haben all diese Systeme Limitationen im Praxisalltag, sodass sie im Sinne eines Screenings nicht evidenzbasiert angewendet werden können12,13. Goldstandard in der Diagnostik oraler Plattenepithelkarzinome bleibt somit vorerst die klinische Untersuchung mit optischem Palpationsbefund und bei entsprechend verdächtigen Läsionen die Inzisionsbiopsie mit anschließender pathohistologischer Aufbereitung für den eindeutigen Tumornachweis14,15. Obwohl es an Evidenz für ein routinemäßiges Screening mangelt, wird von den meisten Autoren/-innen und Fachgesellschaften eine regelmäßige taktile und visuelle Inspektion der Mundschleimhaut im Rahmen zahnärztlicher Kontrolluntersuchungen, insbesondere auch bei Risikogruppen (Tabak-, Alkoholkonsum, HPV etc.) empfohlen, da sie aufgrund der guten Einsehbarkeit der Mundhöhle und perioralen Bereiche auch einfach durchführbar ist14,15. Die Empfehlungen an die deutsche Zahnärzteschaft stützen sich auf zwei Leitlinien: die S3-Leitlinie „Mundhöhlenkarzinom, Diagnostik und Therapie“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) und die S2k-Leitlinie „Diagnostik und Management von Vorläuferläsionen des oralen Plattenepithelkarzinoms in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK)16,17.

Kurzlehrbuch mit einfachem Ampelsystem

Unser Forschungsziel war es, ein praxisnahes Kurzlehrbuch zu erarbeiten, das bedarfsorientiert aufgebaut ist. Im Kurzlehrbuch, aber auch in der App hat es sich bewährt, zu den häufigsten bebilderten Mundschleimhauterkrankungen ein einfaches Ampelsystem zu hinterlegen. Von den Anwendern als sehr positiv empfunden wurde auch die kurze klinische Verfahrenshinweise mit Verdachts- und Differenzialdiagnosen sowie Therapievorschlägen (Abb. 6).

Das Kurzlehrbuch kann natürlich nur einen Überblick über die häufigsten Erkrankungen der Mundschleimhaut und ihren engen Zusammenhang mit der oralen Medizin geben. Das Lehrbuch ist sehr praxisorientiert. Umgesetzt werden sollte ein einfaches und praxisnahes Befundungs- und Diagnosevorgehen. Ein Schwerpunkt unserer Forschungen war auch die Datenerhebung  möglicher relevanter Unterschiede bei der Verdachtsdiagnose aus dem geschlechtersensiblen Blickwinkel, um in der zahnärztlichen Praxis zu einer ggf. schnelleren Verdachtsdiagnose zu kommen.

Befragung von Studierenden und Zahnärzten

Zur Entwicklung einer mobilen „E-learing“-Plattform wurden im Rahmen einer Dissertation Befragungen unter Zahnärzten/-innen und Studierenden durchgeführt, wobei beide Gruppen einer Prä-Befragung unterzogen wurden. Deren Ergebnisse dienten zum einen dazu, den Bedarf an einer Lehr-App zum Thema Erkennung und Diagnostik von Mundschleimhauterkrankungen zu ermitteln, zum anderen, um Ideen und Anregungen für das Design, die Struktur und den Aufbau der App zu sammeln18. Außerdem wurden Zahnärzte/-innen in einer Weiterbildung und Studierende an der Universität nach ihrer Meinung zur Qualität ihrer universitären Ausbildung befragt.

Der Großteil der befragten Zahnärzte und -ärztinnen (60,0 Prozent, n = 33) stufen die Universitäten, an denen sie studiert haben, im Hinblick auf die Lehre in der Mundschleimhautdiagnostik auf einem befriedigenden bis guten Niveau ein. Auffällig ist, dass die Bewertungen „mangelhaft“ und „ungenügend“ fast ausschließlich von Zahnärztinnen vergeben werden (Abb. 7).

Im Gegensatz dazu sind die Studierenden mit ihrer universitären Ausbildung zur Diagnostik von Mundschleimhauterkrankungen eher unzufrieden. Wobei die Studentinnen tendenziell unzufriedener sind als ihre männlichen Kommilitonen. Ihr häufigstes Urteil ist „mangelhaft“, gefolgt von „ausreichend“. Deutlich mehr männliche Studierende vergeben die Note „gut“ (Abb. 8).

Vergleicht man die zahnärztliche und die studentische Stichprobe miteinander, so fällt auf, dass die Zahnärzte/-innen mit der von ihnen im Bereich Mundschleimhautdiagnostik genossenen Ausbildung zufriedener sind als die befragten Studierenden. So vergeben sie deutlich häufiger die Noten „sehr gut“ bis „befriedigend“, wohingegen die Studierenden häufiger mit „ausreichend“ bis „ungenügend“ bewerteten (Abb. 8). Im Hinblick auf die Gestaltung der Textbeschreibungen zeigen sich folgende Präferenzen: Ausführliche Texte wünschen sich 9,6 Prozent (n = 5) der gesamten Stichprobe, darunter keine Frau und 15,6 Prozent (n = 5) aller Männer. Die Texte nur kurz und knapp als Stichpunkte zu formulieren, fordern 90,4 Prozent (n = 47) der Probanden. Analysiert nach dem Geschlecht entspricht das dem Wunsch von 100,0 Prozent (n = 20) der weiblichen und 84,4 Prozent (n = 27) der männlichen Befragten. Eine Gliederung der App nach der Farbe der Erkrankungen wollen 94,2 Prozent (n = 49; Abb. 9).

Was können Zahnärzte von der App erwarten?

Im Aufklärungsgespräch mit Patientinnen und Patienten eine App verwenden zu können, ist für 36,0 Prozent (n = 31) der Studierenden wichtig. Eine durch Bilder unterstützte Hilfestellung bei der Diagnose von Mundschleimhautveränderungen sehen 97,7 Prozent (n = 85) als nützliches Feature. Die direkte Verlinkung zu möglichen Differenzialdiagnosen wollen 93,1 Prozent (n = 81) in der App wiederfinden. Von 90,8 Prozent (n = 79) wird die Beschreibung expliziter Unterschiede als positiv bewertet. Das Aufzeigen verschiedener Behandlungsmöglichkeiten sehen 79,3 Prozent (n = 69) der Studierenden als eine wichtige Funktion. Einen optischen Hinweis darauf, ob eine Neoplasie als gefährlich einzustufen ist und eine Überweisung an Spezialisten/-innen erfolgen sollte, halten 79,3 Prozent (n = 69) für ein besonders hilfreiches Feature. Den pathohistologischen Befund empfinden 47,1 Prozent (n = 40) als wichtig. Die App auch als Lernhilfe bzw. zur Unterstützung beim Lernen heranziehen zu können, ist 58,6 Prozent (n = 51) wichtig. 34,5 Prozent (n = 30) sehen dieses Feature als neutral und 6,9 Prozent (n = 6) als unwichtig an (Abb. 10).

Aus diesen in den Jahren 2017 bis 2019 erhobenen Daten haben wir die App Tunimucoris für die Mundschleimhautdiagnostik weiterentwickelt. Sie wird seither in der Lehre eingesetzt.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Margrit-Ann Geibel, Ulm

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Qdent 02/2022 Studium & Praxisstart

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