Wie muss die Politik Zahnärzte in der Pandemiezeit unterstützen? Wie können digitale Lösungen in Zahnarztpraxen von Nutzen sein – und wie sind sie es nicht? Diese und weitere Fragen hat Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), dem Ärztenachrichtendienst „änd“ im Interview beantwortet.
Quintessence News veröffentlicht dieses Interview kurz vor der (erneut online stattfindenden) Vertreterversammlung der KZBV vom 28. bis 30. Oktober 2020 mit freundlicher Genehmigung des änd.
Herr Dr. Eßer, in einem gemeinsamen Positionspapier mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung fordern Sie einen Schutzschirm, der auch für Zahnärzte gilt. Denn anders als anderen Ärzten ist Zahnärzten infolge der Pandemie nur eine Liquiditätshilfe gestattet worden, die sie vollständig zurückzahlen müssen. Warum, glauben Sie, durften Zahnärzte nicht unter den Schutzschirm schlüpfen?
Dr. Wolfgang Eßer: Die Frage ist berechtigt, muss aber eigentlich der Politik gestellt werden. Die Zahnärzteschaft hat in der Hochphase des Corona-Lockdowns einen hervorragenden Job gemacht und ihre Verlässlichkeit und Belastbarkeit auch in Krisenzeiten erneut unter Beweis gestellt. Ich erinnere hier auch noch einmal an die ebenso geräuschlos bewältigten Herausforderungen im Zuge der Flüchtlingskrise, die wir ebenfalls ohne jede Unterstützung der Politik gemeistert haben. Meine Hochachtung und mein Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen sowie ihren Teams, die in dieser unübersichtlichen Krisensituation für ihre Patienten da waren, als es drauf ankam. Zahnärztinnen und Zahnärzte als Heilberufler waren und sind fester Kern des ambulanten Versorgungssystems und damit der Daseinsvorsorge in unserem Land.
Wir wurden während des Lockdowns vor neue Aufgaben gestellt und haben Entscheidungen treffen müssen, die bis an die Grenzen der Belastbarkeit gingen. Aber es ist uns gelungen, gemeinsam ein effizientes Krisenmanagement umzusetzen. Das Infektionsrisiko in Praxen konnte minimiert, die Versorgung bei maximalem Infektionsschutz aufrechterhalten und die Schmerz- und Notfallversorgung von infizierten und unter Quarantäne stehenden Patienten gewährleistet werden. Aus dem Stand wurde ein Netz von Behandlungszentren in 30 Kliniken und 170 Schwerpunktpraxen für die Akut- und Notfallversorgung aufgebaut. Auch haben wir deren Versorgung mit Schutzausrüstung trotz schwierigster Beschaffungsbedingungen in einem geradezu chaotischen Markt gewährleistet.
Trotzdem scheint die Politik diese Leistung nicht anzuerkennen - zumindest nicht, was einen echten Schutzschirm für Zahnarztpraxen angeht …
Eßer: Das ist für uns völlig unverständlich. Aufgrund ebenso extremer wie abrupter Fallzahlrückgänge haben KZBV und die KZVen mit aller Kraft dafür gekämpft, dass der finanzielle Schutzschirm zur Sicherung der Gesundheitsversorgung auf Zahnarztpraxen ausgeweitet wird. Dennoch haben wir keine Berücksichtigung im Krankenhausentlastungsgesetz gefunden. Auch die Covid-19-Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung, mit der unsere Forderung nach paritätischer Lastenteilung zwischen Kassen und KZVen bereits auf eine 30-70-Verteilung abgeschwächt worden war, wurde durch das SPD-geführte Finanzministerium auf eine reine Liquiditätshilfe mit 100-prozentiger Rückzahlungspflicht bei Überzahlung gestutzt.
Dass die Politik unter Bedienung lange gepflegter Vorurteile gegen die Zahnärzteschaft schlussendlich keinen echten Rettungsschirm für den Berufsstand aufgespannt hat – so wie das für Ärzte, Psychotherapeuten, Kliniken, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen und andere Berufsgruppen geschehen ist – das hat uns schockiert. Diese Ungleichbehandlung hat uns und die Praxisteams tief getroffen. Wir werden das nicht so schnell vergessen.
Berechtigte Anliegen eines ganzen Versorgungsbereiches wurden ignoriert. Die Folgen werden besonders diejenigen spüren, die für die Zukunft des zahnärztlichen Versorgungssystems und den Erhalt einer gut funktionierenden, flächendeckenden Patientenversorgung gewährleisten sollen. Denn die hundertprozentige Rückzahlungspflicht trifft gerade junge Praxen hart. Zugleich geht ein verheerendes Signal an Studierende und angestellte Zahnärzte aus, die eine Niederlassung planen.
Von März bis Mai haben Zahnarztpraxen Fallzahlrückgänge in Höhe von bis zu 40 Prozent und mehr verzeichnet. Hatten sich die Fallzahlen in der Zwischenzeit - das heißt, bis die Neuinfektionen vor einigen Wochen wieder anstiegen - wieder beruhigt?
Eßer: Im Zuge der Aufhebung des Lockdowns hat das Leistungsgeschehen tatsächlich langsam wieder zugenommen. Hatten wir im Sommer noch die Hoffnung, langsam wieder auf ein Ausgangsniveau wie vor der Pandemie zurückzufinden, ist diese Entwicklungen massiv durch die aktuelle Dynamik mit steigenden Infektionszahlen und parallel dazu einer Konzentration des Infektionsgeschehens in bestimmten Bereichen oder Hotspots bedroht. Wir stellen uns erneut auf erhebliche Einbrüche im Versorgungsgeschehen ein.
Was hat das aktuelle Infektionsgeschehen für Konsequenzen für die Zahnärzte und wie muss die Politik Ihrer Meinung nach darauf reagieren?
Eßer: Die bislang gewonnenen Erkenntnisse aus der Pandemie haben wir in unserem kürzlich veröffentlichten Papier „Corona- Pandemie: Lehren und Handlungsbedarfe aus der Perspektive der vertragszahnärztlichen Versorgung“ aufgezeigt und unsere Schlussfolgerungen in konkrete Vorschläge zur Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Pandemien gekleidet und an die Politik adressiert. Unser Ziel ist es, die Krisenreaktionsfähigkeit des Versorgungssystems zu stärken und weiterzuentwickeln.
Der Sicherung vorhandener Versorgungsstrukturen während und über Krisenzeiten hinaus kommt höchste Bedeutung zu. Um das zu erreichen, muss insbesondere eine verzerrungsfreie Fortschreibung der Gesamtvergütung für 2021 und 2022 gewährleistet werden. Pandemien und andere nationale Katastrophensituationen bringen eine massive Verzerrung des Versorgungsgeschehens mit sich und sind in keiner Weise repräsentativ. Deshalb darf eine krisenbedingte Abnahme des Leistungsgeschehens, wie wir sie in der Pandemie erleben, nicht Grundlage für die Weiterentwicklung von Morbiditätsparametern, Kostenstrukturen oder Honoraren sein.
Die mit der vollständig rückzuzahlenden Liquiditätshilfe geschaffene Ungleichbehandlung gegenüber anderen Heilberufsangehörigen hat zahnärztliche Versorgungsstrukturen aufs Spiel gesetzt und riskiert diese aktuell weiterhin beim Fortdauern der Pandemie in 2021. Dies war und ist unverantwortlich und muss beendet werden! Wir fordern daher, dass in Anlehnung an die ärztliche Schutzschirmregelung auch für Vertragszahnärzte Ausgleichszahlungen für solche Praxen ermöglicht und von den Kassen finanziert werden, die besonders hart von pandemiebedingten Honorareinbrüchen betroffen sind. Ich appelliere eindringlich an die Politik, die Ungleichbehandlung der Zahnärzte rückgängig zu machen und im Rahmen anstehender Gesetzgebungsverfahren unsere Vorschläge aufzugreifen. Nur so kann die zahnärztliche Versorgung ein Stück krisenfester gemacht werden.
Könnten digitale Angebote Abhilfe schaffen, falls sich Patienten erneut nicht in die Praxen trauen?
Eßer: Zunächst einmal: Keine Patientin und kein Patient muss derzeit Angst haben, zum Zahnarzt zu gehen. Seit Beginn der Pandemie haben die Kolleginnen und Kollegen dafür gesorgt, dass die zahnärztliche Versorgung bei maximalem Infektionsschutz aufrechterhalten und das Infektionsrisiko in den Praxen minimiert wird. Darauf zielen unsere Maßnahmen nach wie vor ab.
Digitale Lösungen und Anwendungen werden für Zahnarztpraxen und Patienten im Behandlungsalltag grundsätzlich zunehmend wichtiger. So können etwa mit Videosprechstunden bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Beeinträchtigung - zum Beispiel im Vorfeld eines Zahnarzttermins - Symptome abgeklärt und die aufsuchende Versorgung besser organisiert werden. Weitere mögliche Szenarien sind in der Nachkontrolle einer umfangreicheren Behandlung sowie in der Erörterung anstehender prothetischer Planungen zu sehen. Ebenso sind Videofallkonferenzen mit Pflegepersonal und gegebenenfalls videogestützte Telekonsilien arztgruppenübergreifend sinnvoll. Diese technischen Möglichkeiten effizient und bringen viele Vorteile für alle Beteiligte, also Zahnärzte, Heime, Patienten und Kostenträger - auch und besonders in Zeiten der andauernden Pandemie.
Gleichzeitig gilt: Eine eingehende, gründliche Untersuchung sowie fachlich gesicherte intraorale Befunde und präzise Diagnosen setzen immer zwingend den persönlichen Kontakt mit dem Behandler in der Praxis oder in der Pflegeumgebung voraus.
Sie sprachen es gerade an: Seit Oktober dürfen Zahnärzte Videosprechstunden, Videofallkonferenzen und Telekonsilien abrechnen. Stehen Ihre Kollegen Ihrer Einschätzung nach dem eher skeptisch gegenüber oder sind sie willens, die Möglichkeiten anzubieten?
Eßer: Zahnärztinnen und Zahnärzte sind ein technikaffiner Berufsstand. Schließlich arbeiten wir nicht erst seit gestern in Hightech-Praxen. Wir erkennen große Möglichkeiten darin, mit der sinnvollen Ausgestaltung der Digitalisierung die Versorgung der Menschen weiter zu optimieren, sichere Kommunikationswege zu schaffen und Bürokratie besser bewältigen zu können. Telemedizin ist hier ein wichtiger Baustein, das wird auch von den meisten Praxen so eingeschätzt. Vor allem in der Kommunikation – etwa mit Pflegekräften – können Fallkonferenzen einen großen Mehrwert entfalten. Dadurch profitieren besonders vulnerable Gruppen wie Pflegebedürftige und Menschen mit Beeinträchtigung.
Auch beim Austausch mit Kollegen werden Telekonsilien sinnvoll sein. Wir führen etwa aktuell mit den Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen Gespräche, wie sich diese Technik eventuell bei der Früherkennung von Veränderungen der Mundhöhlenschleimhaut einsetzen lässt, um Vorzeichen von Krebserkrankungen rechtzeitig zu erkennen. Hier könnte zum Beispiel in einem Chat zwischen Zahnarzt und MKG oder MKG- Klinik über den Austausch von Bildern ein zeitgleicher Informationsaustausch erfolgen und Empfehlungen zur weiteren Diagnostik oder Therapie ausgetauscht werden. Auch hier gilt: Telekonsilien ersetzen niemals notwendige weitere Untersuchungen wie Biopsien zur Absicherung einer Diagnose. Da wir Zahnärzte diejenige Berufsgruppe sind, die häufig den Erstkontakt zu Patienten mit intraoralen Veränderungen haben, die dann einer weiteren Abklärung oder Kontrolle bedürfen, sehe ich hier ein weites Anwendungsfeld.
Welche Erfahrungen haben die Kollegen mit digitalen Lösungen bislang gemacht?
Eßer: Digitale Verfahren sind bereits seit Jahren fester Bestandteil der zahnärztlichen Versorgung. Dazu zählen etwa Softwarelösungen im Bereich von Administration, Diagnostik, Therapie und Verwaltung ebenso wie Intraoralscanner zur Erstellung digitaler Gebissmodelle. Unser Berufsstand begreift die Digitalisierung mehrheitlich als Chance für die Verbesserung der vertragszahnärztlichen Versorgung. Dass bereits weit mehr als 90 Prozent der Zahnarztpraxen an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sind, zeigt die Bereitschaft und Aufgeschlossenheit der Kollegen in der Versorgung. Allerdings dürfen bei allem Optimismus die Belange der Zahnärzteschaft nicht aus dem Blick geraten. Es muss darauf geachtet werden, dass die zahlreichen Neuerungen zeitlich, wirtschaftlich und organisatorisch umsetzbar sind.
Die steigenden bürokratischen und finanziellen Belastungen sehen wir mit großer Sorge, sie behindern die zeitnahe Einführung digitaler Lösungen und Strukturen. Die Digitalisierung beschränkt sich keinesfalls auf die Phase der Einführung. Sie wird fortdauernder Bestandteil des Praxisalltages sein. Umso mehr ist die Politik gehalten, die Rahmenbedingungen jetzt und künftig unter Berücksichtigung der bereits dargestellten Kriterien zu gestalten.
Ist die Telematikinfrastruktur (TI) mit ihren Anwendungen wie der elektronischen Patientenakte, die im Januar eingeführt werden soll, für Zahnärzte eine Arbeitserleichterung?
Eßer: Wir wollen die Digitalisierung als handelnder Akteur voranbringen und die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung weiter verbessern und effizienter gestalten. Chancen für Versorgungsverbesserungen wollen wir nutzen, zugleich aber auch Risiken benennen und Gefahren abwehren, die aus einem Übermaß an Technikgläubigkeit im Wartezimmer von Dr. Google & Co entstehen können.
Die TI soll für Zahnärzte eine positive Ergänzung im Versorgungsalltag sein. Sie muss zur Entlastung etwa bei Anamnesen und Diagnosen, Therapie und Verwaltung beitragen, so dass Zahnärzte endlich wieder mehr Zeit für Patienten haben, anstatt in Verwaltung und Bürokratie zu ersticken. Wir erhoffen uns unter anderem von den Anwendungen Elektronischer Medikationsplan, Notfalldatenmanagement und dem Kommunikationsdienst KIM sowie später von der elektronischen Patientenakte – sofern diese die ohnehin schon exzellente Behandlungsqualität in den Praxen unterstützen und mit Bürokratieentlastung einhergehen. Zahnärztliche Leuchtturmprojekte, die wir als Berufsstand weiter aktiv voranbringen, sind das elektronische Zahnbonusheft sowie das elektronische Antrags- und Genehmigungsverfahren.
Wo liegen die Gefahren der TI?
Eßer: Um die Mitwirkung des Berufsstandes beim Erfolg der TI nicht zu verspielen, muss insbesondere der stabile Betrieb der TI und ihrer medizinischen Anwendungen gewährleistet sein. Auch auf uns wird es bei Anwendungen wie der elektronischen Patientenakte ankommen, wenn diese erfolgreich sein sollen.
Wir fordern daher, dass künftig ausschließlich Anwendungen in die Fläche gehen, die ausreichend unter Praxisbedingungen getestet wurden und stabil und sicher laufen. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass innerhalb der Vertragszahnärzteschaft die TI nicht mehr als kostentreibendes Ärgernis wahrgenommen wird. Praxen dürfen daher nicht beim laufenden Betrieb der TI, also beim Austausch von Komponenten, bei der Behebung von Störungen oder bei der Anpassung der Praxisverwaltungssysteme auf Kosten sitzen bleiben. Erst dann kann die maßvolle Einführung neuer Anwendungen folgen. Kontraproduktiv sind hingegen die Reduktion von Feldtests bei wichtigen TI-Komponenten und Diensten. Schnelligkeit um jeden Preis vor Praktikabilität und Zuverlässigkeit darf nicht das Mittel der Wahl sein, um unrealistische gesetzliche Fristen zu halten.
Erstveröffentlichung auf änd.de am 21. Oktober 2020, 10:27 Uhr, Autor: mh. Die Interviewfragen wurden laut änd-Redaktion schriftlich beantwortet. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des änd.
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