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Zur Therapie für das deutsche Gesundheitswesen – Dr. Uwe Axel Richter zu zwei Jahrzehnten Irrsinn

(c) alexskopje/Shutterstock.com

„Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Ich weiß nicht, wie Shakespeare bei Kenntnis der bereits mehr als zwei Jahrzehnte währenden Digitalisierungsbemühungen im deutschen Gesundheitswesen formuliert hätte, möchte aber ergänzen: „… und das flächendeckend.“

Formulieren wir etwas freundlicher und verwenden statt Wahnsinn das Wort Irrsinn. Einen Beleg dafür lieferte vergangene Woche zum wiederholten Male die KBV. Deren aktuelle Umfrage zu elektronischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und E-Rezept, an der sich rund 6.000 Praxen beteiligt hatten, ergab: „Praxen würden gerne mehr digital arbeiten – doch die Technik funktioniert einfach nicht“. Hauptprobleme: Konnektor und Programmabstürze, Fehlermeldungen, schlecht erreichbarer IT-Service.

Telematikinfrastruktur ist und bleibt das Problem

Größtes Hindernis für die Anwendung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) seien der Umfrage zufolge Probleme mit der Telematikinfrastruktur (TI). Für mehr als 60 Prozent der Praxen, die die eAU noch nicht einsetzen, sei dies einer der Hauptgründe, warum sie weiterhin das alte Verfahren nutzen. Technisch Probleme auch mit der Software oder dem KIM-Dienst (Kommunikation im Medizinwesen) würden zum Teil über Monate nicht behoben. Keiner fühle sich zuständig, hieß es. Zwei Drittel der Praxen gaben an, dass die IT-Dienstleister und -Anbieter schlecht erreichbar seien.
Von den technischen Problemen sind nicht nur die Praxen betroffen, sondern – man mag es glauben oder nicht – auch die Krankenkassen glänzen bei der eAU mit häufigen Fehlermeldungen. Da mag man gar nicht daran denken, was passieren wird, wenn laut Plan Anfang 2023 auch noch die Arbeitgeber aufgeschaltet werden.

Heilberufler wollen Digitalisierung

Die Heilberufler wollen Digitalisierung, so verlautete es jedenfalls aus der KBV. Man darf hinzufügen: aus der KZBV auch. Und deren Mitglieder? Die wollen nicht die Digitalisierung, die haben schon Digitalisierung. Denn nahezu 100 Prozent der Arzt- und Zahnarztpraxen sind digital, was in noch stärkerem Maße auch für die Apotheken gilt. Nur darüber redet keiner mehr, weil das längst zum Standard geworden ist. Diese Digitalisierung funktioniert und leistet, was sie soll. Im Kontext ist sie ist allerdings „nur“ Arbeitsmittel.

Leider geht jedwede begriffliche Trennschärfe verloren, sobald wir über die Digitalisierung im Gesundheitswesen sprechen. Bei der TI geht es um die Strukturebene. Hier reden wir von einer politisch geforderten Digitalisierung, die anderen Zielen folgt – zum Beispiel Reduktion der Kosten, Verbesserung der Zusammenarbeit, Transparenz (auch für den Patienten) oder auch Erhöhung der Patientensicherheit. Auch bei diesen Zielen wird fast jeder Heilberufler mitgehen, sofern Datensicherheit, Datenschutz, Funktionssicherheit und Aufwandsneutralität gewährleistet sind.

Operative Realität und Politik passen nicht zusammen

Leider sind das jedoch nur die Minorziele – und selbst deren Erreichen ist, schaut man sich das Dashboard der Gematik an, offensichtlich fast unmöglich. Wie Fieberkurven wird dort der tägliche Digitalisierungstand vermeldet. Man mag es Transparenz nennen oder Druckaufbau. Jedenfalls passen die bis dato erreichten Kennzahlen weder zu den gesetzlichen Vorgaben noch zum Digitalisierungspotenzial. KIM ist dafür ein gutes Beispiel, ist doch dieser Dienst Voraussetzung für die eAU. Schaut man nun in die KIM-Gematikbroschüre und vergleicht das dort ausgewiesenen Digitalisierungspotenzial (Arztbrief: 144 Millionen pro Jahr, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: 77 Millionen pro Jahr, Heil- und Kostenplan: sieben bis 15 Millionen pro Jahr) dann wird, vorsichtig formuliert, der Weg ein weiter sein. Doch statt sich auf die das Erreichen der gesetzlichen Ziele zu konzentrieren, wird wohl auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach den Spahn‘schen Weg beschreiten und das nächste digitale Gesetzesfeuerwerk abbrennen. Aus 20 Jahren Misserfolg leider nichts gelernt.

Digitalisierung als Mittel zum politischen Zweck 

Nun zu den Zielen auf der politischen Metaebene, bei der die Digitalisierung als Mittel zum Zweck erscheint. Denn die permanenten politischen Reibereien und das Gesetzes-Fingerhakeln à la Spahn und Konsorten beginnen an der Stelle, wo die Politik versucht, mit Hilfe der Digitalisierung die „geschlossene“ Struktur des deutschen Gesundheitswesens verändern oder gar aufhebeln zu wollen: Sektorengrenzen verschieben, die aus politischer Sicht mächtigen oder gar zu mächtigen Körperschaften einhegen, den selbstverursachten Bürokratiewahnsinn (wie das DRG-Fallpauschalensystem) irgendwie organisierbar machen etc. pp. Oder aber die „Effizienzreserven im System“ heben zu wollen, auch so ein Digitalisierungs-Buzzword der ersten Stunde. Sicher gibt es diese Reserven, aber deren Erkennnen und Heben wird die politische Großzügigkeit im Leistungsgeschehen nicht kompensieren.

Irrsinn mit Methode

Was dabei herauskommt, lässt sich zum Beispiel an den horrenden Administrierungsaufwänden der Rabattverträge für Medikamente sehen. Oder es gilt, bestimmte Leistungsbereiche neu zu strukturieren, hier zum Beispiel den Apothekenbereich. Man nenne das Ziel E-Rezept, bastele einige mehr oder weniger sinnvolle Patientenvorteile daran, damit es eine gesellschaftlich akzeptierte Sinnhaftigkeit ergibt, und sorge so ganz automatisch für steigende Marktanteile der Versandarzneimittelindustrie zu Lasten der Apotheken. Oder zugunsten der Softwareindustrie, siehe das milliardenschwere Budget im Krankenhauszukunftsgesetz. Die Reihe ließe sich noch sehr lang fortsetzen.

Insofern verwundert es nicht, dass sich die Heilberufler stetig in der Rolle der Bremser oder gar Verhinderer wiederfinden. Werden die hochgesteckten politische Ziele mal wieder nicht erreicht, ist die politische Schuldfrage schnell geklärt.

Stimmt die Diagnose?

Seit mehr als zwei Jahrzehnten gilt die Digitalisierung als das Heilmittel all der tatsächlichen, vermeintlichen oder auch hausgemachten Probleme des „Medizinwesens": Qualität rauf, Kosten runter, mehr Transparenz, durchlässige Sektorengrenzen, bessere Zusammenarbeit, mehr Transparenz etc. Und jede neue digitale Entwicklung, nennen wir es Fortschritt, wird die Liste verlängern. Hingegen ist die Liste der aus Sicht der Politik und der viele Gesundheitsökonomen und Berater zu verabreichenden Medizin zur Behandlung der Missstände bemerkenswert kurz und seit mehr als 20 Jahren unverändert: mehr Digitalisierung.

Falsches Mittel und/oder falsche Anwendung

Logisch ist das nicht. Und sinnvoll angesichts der exorbitanten Kosten im Verhältnis zu den in zwei Jahrzehnten erreichten Ergebnissen schon gar nicht. Wenn eine Therapie aber offensichtlich nicht in dem Maße wirkt, wie permanent behauptet, ist entweder das Heilmittel nicht das richtige – oder aber dessen Anwendung falsch.Vielleicht sollte Lauterbach bei seiner Suche nach einer neuen Strategie bei diesem Gedanken ansetzen, bevor das Pferd ganz totgeritten ist.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

 

Lesen Sie zum Thema Digitalisierungsstrategie auch die Kolumne „Strategie für die Digitalisierung – aber was ist das Ziel?“

 

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