Am 5. Oktober 2022 blieben in Hamburg mehrere hundert Arztpraxen geschlossen, bundesweit protestierten niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und ärztliche Standespolitik gegen die Sparpläne des Bundesgesundheitsministers Prof. Karl Lauterbach. Vor allem die Streichung der Neupatientenregelung im GKV-Finanzstärkungsgesetz (GKV-FinStG) wird kritisiert. Hinzu kommen Forderungen, die steigenden Energiekosten und die Inflation auch in der ambulanten Versorgung abzufedern. Die Bundesärztekammer fordert einen MFA-Solidaritätsbonus.
Die Aktionen waren vielfältig und erstreckten sich, wie in Brandenburg, zum Teil über die ganze Woche. Auch im Saarland sind längerfristig Aktionen geplant. Einige Ärzteverbände, Kammern und Kassenärztliche Vereinigungen hatten für den Mittwoch vergangener Woche zu Fortbildungen eingeladen, wie die Ärzte Zeitung berichtet.
Rund 1.300 Ärztinnen und Ärzte samt Praxisteams nahmen in Hamburg an einer Fortbildungsveranstaltung mit dem renommierten Referenten für Notfallmedizin Dr. Sven-Peter Augustin in den Räumlichkeiten der KV Hamburg teil: „Der Notfall in der Praxis – die Praxis als Notfall?“ Die Fortbildungsveranstaltung fand während der regulären Praxisöffnungszeiten statt. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten Transparente, mit denen sie auf die verheerenden Folgen einer fehlgeleiteten Politik aufmerksam machten.
Dittmer: 200.000 Euro gutes Einkommen
Unterstützung fanden die Ärzte in einigen Bundesländern auch bei ihren Gesundheitsministerinnen und -minister. Der Bundesrat und auch Abgeordnete aus der Regierungskoalition hatten bereits gefordert, die Neupatientenregelung beizubehalten. Dem erteilte inzwischen die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Sabine Dittmer (SPD) eine Absage. Dittmer, selbst bis 2010 noch als Hausärztin tätig, erklärte im Interview mit der Ärzte Zeitung, dass laut Statistischem Bundesamt „das zu versteuernde Arzteinkommen nach Abzug aller Kosten im Schnitt bei über 200.000 Euro per anno liegt. Das ist ein gutes Einkommen, behaupte ich mal. Vielleicht sehen das die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen anders. Aber ich finde, das ist ein ordentliches Einkommen. Und auch für die Corona-Schutzimpfung wurde die Ärzteschaft mit einer hohen Vergütung entlohnt.“
Hartmannbund sieht „beeindruckenden Erfolg“
Der Vorsitzende des Hartmannbundes, Dr. Klaus Reinhardt (auch Präsident der Bundesärztekammer), hat die bundesweiten Proteste gegen die geplante Streichung der Neupatientenregelung und die Sparpolitik der Kassen als „beeindruckenden Erfolg“ bezeichnet. „Die Aktionen quer durch die Republik haben bereits jetzt deutlich gemacht, dass das Thema in der Fläche angekommen ist, die noch folgenden werden dies unterstreichen“, sagte Reinhardt. Nicht nur die große Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen, sondern die Entschiedenheit, mit der sie aufgetreten seien, habe keinen Zweifel daran gelassen, dass man nicht bereit sei, eine dramatische Verschlechterung der Versorgung von Patientinnen und Patienten widerstandslos hinzunehmen. Reinhardt: „Mein Eindruck ist auch, dass bei unseren Patientinnen und Patienten längst angekommen ist, dass es uns bei den Protesten nicht um unsere Befindlichkeiten, sondern um ihre Versorgung geht, die wir unter den vom Bundesgesundheitsminister vorgesehenen Bedingungen schlicht nicht mehr gewährleisten können“. Nun gehe es darum, diese Botschaft auch in die Köpfe der Bundestagsabgeordneten zu bekommen, damit diese unter dem Eindruck der Proteste in ihren Wahlkreisen nach Berlin zurückkommen und dort Ende Oktober im Bundestag gegen das geplante Ende der Neupatientenregelung stimmen.
Warnung vor faulen Kompromissen
Mit Blick auf zaghafte Botschaften aus dem Gesundheitsministerium, man denke über eine Modifizierung der Gesetzespläne nach, warnte Reinhardt vor faulen Kompromissen. „Wir brauchen die klare Botschaft und die Sicherheit, dass wir auch künftig unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen ‚alte‘ und neue Patientinnen und Patienten in unseren Praxen versorgen können. Nicht mehr und nicht weniger!“
Lauterbach erteilt GKV-SV-Forderungen nach Nullrunden Absage
Unterstützung vom Minister bekam die Vertragsärzteschaft allerdings bei einem anderen Thema. Der GKV-Spitzenverband hatte im September gefordert, beim ärztlichen Honorar „Nullrunden“ festzuschreiben. Der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hat daher die „schnelle und unmissverständlich ablehnende Reaktion“ von Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach via Twitter auf den „unfairen Vorstoß des GKV-Spitzenverbands“ begrüßt. Zugleich fordern die drei Vorstände Dr. Andreas Gassen, Dr. Stephan Hofmeister und Dr. Thomas Kriedel in einem Brief an den Minister, dass die Auswirkungen der Energiepreisverteuerung und der Inflation auf die Praxen aufgefangen werden müssen.
Mit seiner Reaktion habe Lauterbach „nicht nur die zentrale Rolle“ der Niedergelassenen bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten hervorgehoben, „sondern auch anerkannt, dass Inflation und steigende Energiekosten vor den Türen der Arztpraxen keinen Halt machen“, betonen die KBV-Vorstände und fügen hinzu: „Wir müssen Sie allerdings auch beim Wort nehmen können.“
Kassen wollen Vergütung einfrieren
Hintergrund ist laut KBV, dass der GKV-Spitzenverband in seiner Stellungnahme zum Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetz den Gesetzgeber aufgefordert hat, den niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten einen Inflationsausgleich für die Jahre 2023 und 2024 vorzuenthalten. Dementsprechend soll der Orientierungswert für das Jahr 2024 auf dem Niveau 2023 und Punktwertzuschläge für die Jahre 2023 und 2024 auf den Stand von 2022 eingefroren werden.
Dieser Vorschlag laufe laut KBV nicht nur auf eine doppelte Nullrunde hinaus, sondern bedeute durch die Inflation im Lande eine reale Mittelkürzung für die Arztpraxen von 8 bis 10 Prozent pro Jahr, heißt es in dem Brief weiter. Diesen Vorschlag habe der GKV-Spitzenverband entgegen anderslautender Äußerungen in der Sitzung des Bewertungsausschusses am 14. September 2022 in die Politik eingebracht.
KBV zieht sich bis 12. Oktober aus Gremien zurück
„Einen solchen Affront der Kassenseite gegenüber der Ärzteschaft hat es noch nie gegeben.“ Als Reaktion darauf habe sich die KBV bis einschließlich 12. Oktober aus den Gremien der Selbstverwaltung zurückgezogen, betonten die Vorstände. „In dieser Zeit müssen wir gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen die Lage neu beurteilen bevor wir an die unterschiedlichen Verhandlungstische zurückkehren können.“
Der Erhalt der ambulanten Infrastruktur könne nur dadurch gewährleistet werden, „dass die finanziellen Auswirkungen der massiven Energiepreisverteuerung aufgefangen“ würden. Das betreffe in gleicher Weise die höheren Kosten durch die Inflation. In diesem Zusammenhang bitten die KBV-Vorstände den Minister, während „der Neubeurteilung der Situation“ mit ihnen „in Austausch darüber zu treten“, an welche Maßnahmen er im Hinblick auf den Ausgleich von Inflation und Energiekosten denke.
Ärzteschaft fordert MFA-Solidaritätsbonus
In Vorfeld der Proteste hatte die Bundesärztekammer Ende September bereits Unterstützung für die Praxen und insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefordert. „Die aktuelle Diskussion um die Abfederung der stark steigenden Energiepreise und der allgemeinen Kosten konzentriert sich viel zu sehr auf die großen Unternehmen. Dabei gerät vollkommen aus dem Blick, dass auch kleinere Arbeitgeber, wie beispielsweise Arztpraxen und deren Mitarbeiter, unter der hohen Inflation leiden“, so Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. Wenn die Politik hier nicht gegensteuere, drohten im schlimmsten Fall Einschränkungen bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Praxen unter besonderem Druck
Reinhardt rief den Gesetzgeber dazu auf, insbesondere den Medizinischen Fachangestellten (MFA) endlich die Wertschätzung entgegenzubringen, die sie verdienten. „Die Ärztinnen und Ärzte wissen ganz genau, was sie an ihrem Fachpersonal haben. Viele Praxisinhaber wären sicher gern bereit, ihre MFA in diesen schwierigen Zeiten durch Bonuszahlungen zu unterstützen. Gleichzeitig müssen sie selbst aber gerade starke Einbußen verkraften. Daher ist es jetzt an der Zeit, dass die Politik Verantwortung übernimmt und einen MFA-Solidaritätsbonus beschließt“, forderte der BÄK-Präsident. Dieser könne über die Arztpraxen an die Mitarbeiter weitergeben werden.
Hohe Kostensteigerungen, reglementierte Preise
Auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte stünden aufgrund der jüngsten Entwicklungen unverschuldet unter besonderem wirtschaftlichem Druck. So träfen im Gesundheitswesen die hohen Kostensteigerungen auf reglementierte Preise, weshalb diese nicht mehr über die reguläre Vergütung ausgeglichen werden könnten. „Die Punktwertsteigerung von 2 Prozent, die der Erweiterte Bewertungsausschuss für das kommende Jahr beschlossen hat, bleibt deutlich hinter der Inflation zurück. Für das Jahr 2024 fordern die Krankenkassen sogar eine Nullrunde. Das ist ein absoluter Affront. In Anbetracht einer Inflationsrate von etwa 8 Prozent läuft eine Nullrunde auf eine erhebliche wirtschaftliche Belastung in der ambulanten Versorgung hinaus. Bei vielen Praxisinhabern reduziert sich durch die steigenden Kosten der Praxisertrag in erheblichem Umfang“, so Reinhardt. Erschwerend komme hinzu, dass der vertragsärztlichen Versorgung durch die von Bundesgesundheitsminister Lauterbach geplante Streichung der Neupatientenregelung zusätzlich rund 400 Millionen Euro entzogen würden. „Das Verhalten der Krankenkassen ist absolut unverantwortlich, sie gefährden dadurch vorsätzlich die Patientenversorgung“, so BÄK-Präsident Reinhardt.
Entlassungen und verringerte Sprechzeiten möglich
Das könnte zudem dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte unter wirtschaftlichem Druck Praxismitarbeiter entlassen müssen. „Das träfe dann mit den MFA gerade diejenigen, die in den letzten Jahren einen enormen Beitrag zur Bewältigung der Coronapandemie geleistet haben. Nachdem die Politik ihnen schon den Coronabonus verwehrt hat, düpiert sie diese systemrelevante Berufsgruppe ein weiteres Mal“, kritisierte Erik Bodendieck, Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen der Arzthelferinnen/Medizinischen Fachangestellten. Logische Folge eines solchen Personalabbaus in den Praxen sei eine Einschränkung der Sprechstundenzeiten.
„Auch ein Praxisinhaber kann die Grundprinzipien wirtschaftlichen Handelns nicht auf Dauer ignorieren. Weniger Personal bedeutet weniger Termine für die Patientinnen und Patienten. Damit stehen am Ende alle schlechter da. Die politisch Verantwortlichen haben es jetzt in der Hand, den drohenden Versorgungseinbruch zu verhindern“, so Bodendieck.