Noch knapp zwei Wochen, und es ist vorbei, endlich! Nein, nicht mit dieser Kolumne (hoffe ich jedenfalls), sondern mit einem denervierenden Wahlk(r)ampf. Man muss nicht so weit gehen wie die Kollegen von Apotheke-adhoc, die ihren aktuellen Podcast mit der Überschrift versahen: „Dieser Wahlkampf macht uns krank“.
Sie zielten dabei aber auf das Versagen der Politik in der Coronabekämpfung ab. In dem kürzlich von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet vorgestellten Zukunftsteam(!), welches nach seiner Festlegung noch nicht einmal den Status eines Schattenkabinetts hat, findet sich für den Bereich Gesundheit und Pflege: niemand.
Ob das nach über anderthalb Jahren Corona-Pandemie als gutes Omen gedeutet werden kann? Wohl eher nicht, denn auch weitere höchst relevante Zukunftsthemen blieben bis dato im Wahlkampf mehr oder minder im Dunklen. So auch das Thema Nachhaltigkeit, welches in der Zahnmedizin bereits auf dem Weg von einem wichtigen zu einem der Topthemen der nächsten Jahre ist. (By the way: Der Bundesverband für nachhaltige Zahnheilkunde, kurz BNZK, spiegelt nicht die Nachhaltigkeit im obigen Sinne. Der BNZK ist schlicht die Interessenvertretung der zahnärztlichen i-MVZ Deutschland.)
Dass das Thema Nachhaltigkeit kaum im Wahlkampf vorkommt, obwohl es in fast allen Wahlprogrammen häufig Erwähnung findet, mag an der dem Thema innewohnenden Komplexität liegen. Denn nachhaltiger zu leben und zu wirtschaften, sagt sich leicht. Wenn alle wissen, von was die Rede ist. Bei diesem Thema reicht es eben nicht, nur diesen Begriff zu verwenden. Viel wichtiger ist, dass in der Gesellschaft ein gemeinsames Verständnis des „Nachhaltigkeitskonzeptes“ vorhanden ist. Eine gute und kurze thematische Einführung bietet hierzu ein Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung.
Im Dickicht der widerstreitenden Anforderungen
Daher sind Definitionen das eine – unsere hochkomplexe Lebenswirklichkeit mit Nachhaltigkeit in Deckung zu bringen jedoch etwas ganz anderes. Ein Beispiel: Beim Blick auf die Zahnarztpraxen sagt es sich leicht, Plastikmüll zu reduzieren indem auf Plastikbecher verzichtet wird. Die Umsetzung ist deutlich schwieriger und vor allem langwieriger. Denn es ist nicht nur eine Frage der Kosten und der Verfügbarkeit von Ersatzmaterialien, sondern eben auch der Hygienevorschriften. Letztere haben ebenfalls ihren Anteil an so manchen Verpackungs„orgien“ der Dentalindustrie. Aber eben nicht ausschließlich.
Und ehe man sich versieht, findet sich der kleine Plastikbecher in Bezug auf die Nachhaltigkeit in einem Dickicht zu klärender ökonomischer, wissenschaftlicher und regulatorischer Fragestellungen wieder. Natürlich sind diese lösbar, nur halt nicht mal eben im Vorbeigehen (siehe auch das Statement von BZÄK-Vizepräsident Konstantin von Laffert weiter unten). Deshalb sind Nachhaltigkeitskonzepte so wichtig, denn Zahnräder, die nicht ineinandergreifen, bewegen auch nichts – außer sich selbst. Insofern ist das Thema Nachhaltigkeit ohne entsprechendes und konsentiertes(!) Konzept nicht zu bewältigen.
17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen
Versuchen wir also das Thema politisch zu greifen und schauen dazu in die Wahlprogramme 2021. Dass die Grünen bei der Verwendung des Wortes Nachhaltigkeit weit vorne liegen, verwundert wenig, assoziieren wir in diesem Land beim Thema Nachhaltigkeit meist Naturschutz. In absteigender Reihe folgen CDU, SPD, Linke und FDP. Die AfD belässt es beim Wort „nachhaltig“ unter anderem im Zusammenhang mit dem Thema Wald.
Bis auf die AfD beziehen sich alle anderen Parteien im Bundestag bei der Frage, was denn unter Nachhaltigkeit im Wesentlichen zu verstehen sei, auf die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Diese 17 globalen Ziele, häufig abgekürzt als SDGs, „Sustainable Development Goals“, wurden im Jahr 2015 als Agenda 2030 verabschiedet.
Die Bundesregierung beschreibt es so: „Die Agenda ist ein Fahrplan für die Zukunft. Mit der Agenda 2030 will die Weltgemeinschaft weltweit ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und dabei gleichsam die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft bewahren. Dies umfasst ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Alle Staaten sind aufgefordert, ihr Tun und Handeln danach auszurichten. Deutschland hat sich bereits früh zu einer ambitionierten Umsetzung bekannt“. Dass die Klimaziele des Pariser Abkommens häufig im gleichen Zusammenhang genannt werden, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Doch „nachhaltig“ ist bei den Parteien noch so einiges mehr. Die SPD will unter dem Stichwort Gesundheit unter anderem den „Nachhaltigkeits-Wildwuchs an selbst kreierten Labeln von Unternehmen zur Nachhaltigkeit ihrer Produkte beenden und ein verbindliches staatliches Label entwickeln“. Und hat beim Thema Frieden gleich noch mehr Nachhaltigkeitsziele auf der Pfanne, nämlich die der WTO, der World Trade Organisation. Deren Ziele kennt natürlich auch jeder…
… und noch ein Siegel dazu
Mit den Siegeln hat es auch die CDU/CSU. Denn die wollen im Zuge des von ihnen ausgerufenen Modernisierungsjahrzehnts die Nachhaltigkeit insbesondere in der Landwirtschaft weiterentwickeln. Im Zuge von GAP – die Abkürzung kannte ich in diesem Zusammenhang auch nicht, bedeutet Gemeinsame Agrarpolitik – wollen sie die Nachhaltigkeit in der Land- und Forstwirtschaft sichtbar, messbar und bezahlbar machen. Und zum Ökosiegel ein Nachhaltigkeitssiegel für konventionelle Agrarprodukte entwickeln. Die Beschaffung des Staats soll zusätzlich an Nachhaltigkeitsindikatoren ausgerichtet werden. Da erwartet man als Leser dieses Programms geradezu freudig erregt deren bürokratische Umsetzung.
Bei Bündnis 90/Die Grünen durchdringt das Thema Nachhaltigkeit alle Facetten des „Lebens“, bis hin zur Vorgabe in der Ausbildung von Kulturberufen(!). Für den Bereich Gesundheit gilt, dass die Verknüpfung von Klimaschutz und Gesundheit Motor der Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit ist. Selbst E-Gaming kann hier seinen Beitrag leisten …
Gemeinwohl und Nachhaltigkeits-TÜV
Auffällig ist, dass Nachhaltigkeit häufig zusammen mit dem Wort Gemeinwohl auftaucht. Allerdings in einer sehr einseitigen Bedeutung. Beispiel gefällig? Gemäß den Vorstellungen der Partei ist nachhaltiges Unternehmertum dem Gemeinwohl verpflichtet. Das soll 100 Prozent Vermögensbindung an das Unternehmen bedeuten, Gewinne werden reinvestiert oder gespendet. In diesem Zusammenhang heißt es dann auch, Managergehälter, die über 500.000 Euro liegen, sollen nicht mehr als Betriebskosten anerkannt werden. Und dann soll noch ein Nationalrat für Frieden, Nachhaltigkeit und Menschenrechte eingerichtet werden. Gleichzeitig will man gemäß Wahlprogramm einen Nachhaltigkeits- und Menschenrechts-TÜV einführen, mit dem relevante Gesetzesentwürfe auf Vereinbarkeit mit den UN (=VN)-Nachhaltigkeits- und Klimazielen sowie Menschenrechtsabkommen überprüft werden.
Die FDP gibt sich hinsichtlich Nachhaltigkeit programmatisch etwas bescheidener, will aber auf Basis erwähnter UN-Ziele endlich die Agenda 2030 umsetzen, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) entlang dieser Ziele und Indikationen weitentwickeln, „da diese 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung ein wichtiger Beitrag zur Gestaltung der Globalisierung sind“. Nicht zu vergessen die Digitalisierung und damit auch nachhaltige Rechenzentren: „Wenn wir die Chancen der digitalen Transformation für mehr Nachhaltigkeit nutzen wollen, müssen wir bei den Rechenzentren als Basisstruktur dieser Entwicklung beginnen“.
Allgemeinplätze im Wahlprogramm
Und die Linke? Die stellen unter dem Stichwort Klimaschutz, ökologische Krise erstmal fest, dass unter den Bedingungen des freien Weltmarktes Nachhaltigkeit auf Dauer nicht möglich ist. „Bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen müssen Werte wie Fürsorge, Nachhaltigkeit und Gesundheit im Zentrum stehen“. Ansonsten soll die Bahn am Gemeinwohl und der ökologischen Nachhaltigkeit statt am Bilanzgewinn ausgerichtet, keine neuen Autobahnen gebaut werden und die energetische Nachhaltigkeit – Stichwort Bauen – mehr Gewicht bekommen. Die AfD will, wie bereits erwähnt, die Wälder schützen und den Migrationsdruck vor Ort nachhaltig senken.
Mehr Übergriffigkeit des Staates
So viel zum Thema gewollte Nachhaltigkeit in den Parteiprogrammen. Auffällig ist auch hier: die Freiheit für den Bürger wird entgegen den Ankündigungen nicht größer, vielmehr wird die Übergriffigkeit des Staates weiter steigen. Begriffe wie Gemeinwohl werden ohne Erläuterung okkupiert und in die Parteiendoktrin integriert, Freiheit und Selbstverantwortung sind – mit Einschränkungen bei zwei kleineren Parteien – weiter auf dem Rückzug. Insbesondere das Parteiprogramm der Grünen wirkt wie Zucker: Eingängig und „lecker“ zu lesen, aber bei genauer Betrachtung mit erheblichen Spätfolgen auf der nach oben offenen Sozialismus-Skala.
Politik schafft dauerhafte Probleme
Wenn man bedenkt, welche dauerhaften Probleme die Politik in den vergangenen Jahren mit den einfachsten „Siegeln“ zum Beispiel beim Thema Zucker, der Kennzeichnung der Inhaltsstoffe von Lebensmitteln, ja selbst bei der Wiederverwendung von vornehmlich kunststoffhaltigen Verpackungen – der „Grüne Punkt“ im „Gelben Sack“, den im Übrigen Verbraucher und Hersteller/Händler bezahlen müssen –, erzeugt hat, dann wundert der Angang der Parteien mit noch mehr und dabei erheblich komplexeren Siegeln für den Bürger schon. Aber vom „Grünen Punkt“ lernen, heißt steuerneutral finanzieren lernen. Das lässt einiges für die Zukunft erwarten.
Zahnarztpraxis um den Faktor Umweltbewusstsein stärken
Doch zurück zur Zahnmedizin. Auch hier ist beim Thema Nachhaltigkeit ein Siegel am Start, „Die Grüne Praxis“. Man kann sich angesichts der Siegelritis durchaus darüber streiten, ob ein weiteres Siegel Sinn macht. Aber wenn sich Produzenten und Anwender über Nachhaltigkeit in Produktion, Vertrieb/Logistik und Anwendung auseinandersetzen und versuchen, die „Marke Zahnarztpraxis um den Faktor Umweltbewusstsein zu stärken“, dann geht es in die richtige Richtung. Dies umso mehr, wenn auch zwischen Anwender und Industrie ein Austausch darüber einsetzt, wie viel Verpackung denn wirklich notwendig ist. Das ist ein erfolgversprechender Weg – und nicht ein weiteres staatliches Nachhaltigkeitssiegel, welches angesichts der Komplexität der einzelnen Branchen zum Scheitern verdammt sein wird.
Zahnärzteschaft ist auf dem Weg
Die gute Nachricht ist, dass sich die Zahnärzteschaft der Wichtigkeit des Themas bewusst ist. Dass Nachhaltigkeit kein Thema für einfache Antworten ist, ist auch Konstantin von Laffert, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer und unter anderem für diesen Themenkreis zuständig, bewusst. „Nachhaltigkeit in der Zahnarztpraxis kann man nicht nur auf die simple Frage nach Plastik- oder Pappbechern reduzieren. Eine Studie aus Großbritannien zum Beispiel zeigt, dass ein Großteil des CO2 in Zahnarztpraxen durch Anfahrt der Patientinnen und Patienten und des Personals entsteht. Die Förderung der Nutzung zum Beispiel des ÖPNV von Mitarbeiterinnen kann also ebenso wie Solar- oder Windenergie auf dem Dach den ökologischen Fußabdruck einer Praxis verringern. Auch völlig neue Ideen, wie die Begrünung von Außen- und Innenwänden, die zu einem besseren Raumklima und dem verringerten Einsatz von Klimaanlagen führen kann, macht den Unterschied.
Viele kleine Veränderungen summieren sich – und die BZÄK sammelt momentan Ideen, die vielleicht die Praxen motivieren, einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Im Mittelpunkt steht aber natürlich weiterhin die Prävention und die Mundgesundheit der Patientinnen und Patienten. Denn auch weniger Füllungen und Zahnersatz und stattdessen mehr Prophylaxe sind gelebte Nachhaltigkeit“, so von Laffert.
Noch ein letztes zum Thema Komplexität: Die 17 seitens der UN definierten Nachhaltigkeitsziele werden „flankiert“ von weiteren 169 Zielvorgaben.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.