Wenn Prof. Dr. Karl Lauterbach auf Tagungen oder Konferenzen auftaucht, darf man sich nach seinen Wortspenden des unreflektierten Rauschens im Medienwald sicher sein. Plakativ formulierend und radikal simplifizierend, inszeniert er sich und seine Vorstellungen für sämtliche Probleme des Gesundheitswesens, von denen wahrlich genug einer Lösung harren.
Das Wörtchen „eine“ darf man dabei getrost wörtlich nehmen, denn die Hauptlösung lautet für ihn (und viele andere Gesundheitspolitiker) seit mehr als 20 Jahren: Mehr Digitalisierung bringt die Heilung des deutschen Gesundheitswesens – also unserem – von den vielfältigen Leiden wie angeblich mangelnder Qualität, (zu) hoher Sektorengrenzen, mannigfacher Effizienzverluste und seit neuestem sogar vor den Grundregeln der Ökonomie.
Der „European Health Data Space“ und die Gesetzgeberitis
Nun gut, wem beim Blick auf die Telematikinfrastruktur (TI) und deren Leistungsfähigkeit zum Wohle des Gesundheitssystems an dieser Stelle begründete Zweifel kommen, dem sei gesagt: Alles wird, ja muss besser werden, denn nun steht der EHDS – der European Health Data Space beziehungsweise Europäische Gesundheits-Datenraum – vor der bundesdeutschen Digitalisierungstür. Bitte das Akronym EHDS nicht verwechseln mit ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Obwohl diese auch als Diagnose für die seit zwei Jahrzehnten andauernde Gesetzgeberitis und deren Ergebnisse im Bereich Digitalisierung des Gesundheitswesens treffend wäre.
Das Problem der Digitalisierung sind nicht die Einrichtungen
Deshalb erst einmal Grundsätzliches. Das „klitzekleine“ Problem der Digitalisierung sind nicht die knapp 150.000 Arzt- und Zahnarztpraxen, die (noch) rund 1.900 Kliniken (Quelle: Statistisches Bundesamt), die rund 16.000 Pflegeheime und 15.400 ambulanter Pflegedienste (Quelle: Statistisches Bundesamt). Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Gemeinsamkeit aller digitalen Anwendungen in diesen Bereichen ist: Sie funktionieren und machen trotz stetig steigender Komplexität – als Beispiel sei nur das Handling der Rabattverträge für Arzneimittel genannt –, das, was sie sollen: fehlerfrei Daten verwalten und speichern bei nahezu 100 Prozent Verfügbarkeit. Die undifferenzierte, dafür aber stetig wiederholte Behauptung seitens der Politik und interessierter Kreise aus der Digitalwirtschaft, dass „die“ Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht funktioniere, ist schlichtweg falsch.
Die Vernetzung der Akteure funktioniert nicht
Und doch funktioniert eines nicht wie gewünscht: die „Metaebene“, die Vernetzung der Akteure und der Versorgungdaten. Weil es zwar viele politische Ziele gibt, aber eben keinen Plan. Das politisch projizierte Wunschbild eines vernetzten Gesundheitswesens für mehr Qualität und kostengünstigere Versorgung ist auch nach 20 Jahren TI nur bruchstückhaft realisiert. Davon können auch die allseits bejubelten digitalen Gesundheitsanwendungen nicht mehr ablenken. Nur „App“ zu sein reicht eben nicht, um in der Versorgung evidenzbasiert mitspielen zu können. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Und eine Abrechnungsziffer zu haben …
ePA soll das Herzstück der Vernetzung werden
Hört man Karl Lauterbach zu, dann ist das Herzstück einer sinnvollen Digitalisierung und im Übrigen auch der Vernetzung die elektronische Patientenakte, kurz ePA. Auch diese „Planungen“ für eine vollständige Übersicht der Versorgungshistorie eines Patienten starteten vor 20 Jahren. Heute ist die ePA immer noch eine einzige Baustelle ohne allseits konsentierte Datenstruktur, auch wenn der Gesundheitsminister in der Öffentlichkeit wie auch im Parlament immer noch so tut, als ob alles „easy peasy“ wäre.
Aber ist es nicht. Hier sei nur an die Abstimmungs- und Implementierungsaufwände mit den Share- und Stakeholdern – ganz abgesehen von der grundsätzlichen Problematik der Datenstrukturen – zur Realisierung des Medikationsplans erinnert. Und da war der Patient nicht mal Teil des Prozesses wie bei der ePA! Bei dieser hat nämlich der Patient gemäß dem politischen Willen ein Wörtchen mitzureden hinsichtlich dessen, was in seiner digitalen Akte abgelegt werden soll. Ohne zynisch zu sein: Zum Glück hat die Politik bereits gesetzlich geregelt, wer die Daten beziehungsweise den unstrukturierten Freitext, also Datenbrei, zu welchen Kosten in die ePA zu füllen hat.
Lauterbachs Inszenierung der digitalen Reise
Ein Beispiel, wie die digitale Reise und deren Inszenierung weiter gehen soll, ließ Lauterbach vor wenigen Tagen auf der gemeinsam von Handelsblatt, Tagesspiegel, Wirtschaftswoche und Zeit veranstalteten Konferenz „Europa 2023“ vom Stapel. Auch hier waren Digitalisierung und Daten der argumentative Anker seiner Ausführungen. Wie soll es anders sein, versuchte Lauterbach als erstes mit dem Argument zu punkten, dass zukünftig mit mehr Pandemien zu rechnen sei, weil ja mehr Menschen und Tiere auf zunehmend engerem Raum leben würden. Das sei ein exponentielles Risiko, so der Minister. Aber auch die alternden Babyboomer, deshalb seien zukünftig mehr Demenzen und Krebserkrankungen zu erwarten. Und dann noch der Fachkräftemangel. Bei allem spiele, so der Bundesgesundheitsminister, die Digitalisierung eine große Rolle.
„KIS“ sollen in die ePA hinein kommunizieren
Auf besagter Konferenz haute der Minister dann aber doch einige hochinteressante Statements raus, hier wörtlich zitiert nach einer Veröffentlichung des Ärztenachrichtendienstes vom 7. Februar 2023: „Das deutsche Gesundheitssystem könnte in der Versorgung, aber auch in der Forschung deutlich besser sein, wenn es eine gelungene Digitalisierung gäbe“. Es sei bestürzend, wo man jetzt stehe. „Die elektronische Patientenakte ist weitestgehend Illusion. Es gibt keine Anwendungen“. Es gebe auch keine wirklich gut funktionierenden Krankenhausinformationssysteme (KIS). […] „Denn wir werden auch dafür sorgen müssen, dass die Krankenhausinformationssysteme miteinander kommunizieren können und in die ePA hinein kommunizieren.“
Firmen sollen von den Daten profitieren
Und dann kam er auf den European Health Data Space zu sprechen und die Notwendigkeit, die vorhandenen Daten in Deutschland zusammenführen zu können. Damit solle dann Forschung und Versorgung gemacht werden. Auch Firmen sollen an oder mit den Daten – im geschützten Datenraum – forschen können. „Das wollen wir ausdrücklich dafür öffnen.“ Womit dann klar ist, in welche Richtung die zwei von Lauterbach für 2023 angekündigten Gesetzesraketen zur Digitalisierung starten werden.
Komplexität wird nicht reduziert, im Gegenteil
Zur Beruhigung will der Minister noch bis März, wohlgemerkt dieses Jahres, eine neue(?) Digitalisierungsstrategie erarbeiten lassen. Man darf sich angesichts der in den vergangenen Jahren gemachten Erfahrungen sicher sein, dass auch diese Werke die bereits vorhandene Komplexität nicht reduzieren, sondern weiter verstärken werden. Denn schließlich muss ja auch das deutsche Gesundheitswesen irgendwie an den seitens der EU konzipierten Europäischen Gesundheits-Datenraum angeflanscht werden.
„Dosenöffner“ EHDS für eigene Pläne
Dieser einheitliche europäische Datenraum, dessen Vorteile und Risiken in der deutschen Öffentlichkeit bis dato kaum wahrnehmbar diskutiert wurden und für den derzeit die Struktur und Leistungsfähigkeit der TI nicht einmal ansatzweise geeignet ist, scheint für Lauterbach und seine Mitstreitenden hochwillkommen. Denn ein europäischer Datenraum benötigt ein ähnliches, wenn nicht identisch aufgebautes deutsches Pendant und damit strukturierte Daten und einheitliche Sprachsysteme. Das sollte doch helfen, die Bedenken und Vorbehalte hinsichtlich der Datensicherheit effektiv abzubiegen und ehemalige Versprechungen, die den Bürgern die Angst vor der Digitalisierung nehmen sollten, einkassieren zu können. Vor allem den verharmlosenden Spruch aus den Anfängen der TI (und vor dem Gendern), dass „der Patient Herr seiner Daten“ sei. Siehe elektronische Patientenakte.
Ein gut gefüllter Datenraum für die KI
Die Daten sollen in dem gesicherten Datenraum – wie auch immer dieser aussehen soll – der Wissenschaft und ausdrücklich auch der Industrie offenstehen. Als Datenquellen nannte Lauterbach explicit die elektronische Patientenakte, Kassenabrechnungsdaten, Genomdaten und Registerdaten. Und er sagte auch, dass die Daten pseudonymisiert zur Verfügung stehen und so aufbereitet sein sollen, dass sie KI-fähig seien.
Derzeit 356 medizinische-wissenschaftliche Register
Um die Dimension des Projekts respektive der Aufgabe(n) einzuordnen, ein kurzer Blick auf die zahlreichen Register in Deutschland. Diese werden gerne unter der im politischen Diskurs negativ konnotierten Bezeichnung „Datensilo“ subsummiert. Will heißen: Eine übergreifende Forschung mit Gesundheitsdaten ist damit kaum möglich. Die vielen in Qualitätskriterien und Datenstruktur unterschiedlichen medizinisch-wissenschaftlichen Register hatte bereits Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister der vorigen Legislatur, als Problem ausgemacht und im Jahr 2019 ein „Gutachten zur Weiterentwicklung medizinischer Register zur Verbesserung der Dateneinspeisung und -anschlussfähigkeit“ beauftragt. Das Ziel war, wie aus dem Namen des Gutachtens hervorgeht, klar umrissen: Verbesserung des Zugangs und der Nutzbarkeit für Forschung und Versorgung. Allein das Gutachten benennt 356 medizinisch-wissenschaftliche Register, davon sind 21 gesetzliche Register, beispielsweise das Bundeskrebsregister. Und es werden noch einige hinzukommen. So sollen die mit dem Implantateregistergesetz aufzubauenden Register 2023 mit dem Register für Brustimplantate starten, 2024 folgt das Register für Endoprothesen etc.
Die Daten für gesetzliche Register kommen dabei von den medizinischen Einrichtungen und bedürfen gemäß Gesetz keiner Einwilligung des Patienten. Für alle Register gilt jedoch, dass weder einheitliche Qualitätskriterien noch eine Zentralstelle existieren. Was allerdings auch keine Überraschung ist, sind doch deren Stoßrichtungen jeweils sehr unterschiedlich – klinisch, epidemiologisch, Überwachung der Patientensicherheit etc. pp.
Ist der Patient wirklich noch Herr seiner Daten?
Dass der Patient nicht mehr Herr seiner Gesundheitsdaten ist, ist im übrigen DSGVO konform. Und zwar immer dann, wenn ein begründetes öffentliches Interesse im Bereich Gesundheit besteht.
Und nach all diesen Ausführungen versteht man auch den tieferen Sinn des letzten Absatzes auf Seite 83 des Koalitionsvertrags besser. „Wir beschleunigen die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes sowie deren nutzenbringende Anwendung und binden beschleunigt sämtliche Akteure an die Telematikinfrastruktur an. Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out). Die Gematik bauen wir zu einer digitalen Gesundheitsagentur aus. Zudem bringen wir ein Registergesetz und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO“.
Gematik – vom Muli zum Rennpferd, dank wirtschaftlicher Datennutzung
Ob das mit der Freiwilligkeit und der TI so funktionieren wird, darf bezweifelt werden. Aber aus dem Muli Gematik ein rassiges Rennpferd namens digitale Gesundheitsagentur zu machen, ist durchaus vorstellbar. Dann nämlich, wenn man die bessere wirtschaftliche Nutzung der Daten meint.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.