Die Bundesärztekammer (BÄK) hat am 30. April 2024 ein Konzeptpapier mit Überlegungen zur Neustrukturierung der ärztlichen Versorgung vorgelegt, in derem Fokus die primärärztliche Versorgung steht. „Die Gesundheitsversorgung in Deutschland steht vor massiven Herausforderungen, die Mut für Veränderungen und tiefgreifende Strukturreformen erfordern. Unter anderem brauchen wir einen strukturierteren Zugang zu Gesundheitsleistungen, klar definierte Behandlungspfade und mehr sektoren- und berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit,“ so BÄK-Präsident Dr. Klaus Reinhardt.
Anlaufpunkt für alle gesundheitlichen Anliegen
Dem Papier „Koordination und Orientierung in der Versorgung“ zufolge soll die primärärztliche Versorgung zum Normalfall werden. Die primärärztliche Versorgung soll in der Regel durch eine Hausärztin beziehungsweise einen Hausarzt erfolgen. Dafür sollen die Patientinnen und Patienten eine Arztpraxis verbindlich wählen. Dieser „erste Anlaufpunkt“ übernimmt für alle gesundheitlichen Anliegen die primärärztliche Versorgung sowie die Koordination einer notwendigen Weiterbehandlung bei Fachärztinnen und Fachärzten.
Fachärzte sollen bei Chronikern übernehmen können
Bei Patientinnen und Patienten mit einer besonders im Vordergrund stehenden chronischen Erkrankung, die eine intensive und kontinuierliche fachärztliche Versorgung erfordert, kann die Behandlungskoordination durch die behandelnde Fachärztin bzw. den behandelnden Facharzt erfolgen.
Überweisung, wenn erforderlich
Das Primärarztsystem müsse so sinnvoll gestaltet sein, dass es nicht zu einer unnötigen Mehrbelastung ärztlicher Einrichtungen führt. „Eine Überweisung der Patientin bzw. des Patienten durch Hausärztinnen und Hausärzte soll kein Gatekeeping sein, sondern dann erfolgen, wenn ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich oder absehbar ist”, heißt es in dem Papier der Bundesärztekammer.
Zum Konzeptpapier der BÄK: „Koordination und Orientierung in der Versorgung“
Zum Positionspapier des SpiFa: „Patientensteuerung in der Regel- sowie Akut- und Nofallversorgung“
SpiFa mit eigenem Positionspapier
Parallel veröffentlichte auch der Spitzenverband der Fachärztinnen und Fachärzte (SpiFa) ein eigenes Positionspapier zur Patientensteuerung. Dieser fordert eine differenziertere Systematik der Überweisungen. Der SpiFa-Vorsitzende Dr. med. Dirk Heinrich erklärte dazu, die Praxen der niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzte müssten endlich von den Patientinnen und Patienten entlastet werden, „die dort aus medizinischen Gründen nicht hingehören“. „Jedoch warnen wir vor einfach gedachten Lösungen. Eine reine hausärztliche Primärversorgung mit generellem Überweisungsvorbehalt zur fachärztlichen Versorgung wäre bereits aus Gründen der hausärztlichen Kapazität ein Supergau für die medizinische Versorgung. Neben dem Direktzugang zur niedergelassenen Augenheilkunde und Frauenheilkunde braucht es daher einen fachärztlichen Direktzugang für Patientengruppen, die wegen ihrer Erkrankungen regelhaft und regelmäßig ambulant fachärztlich betreut werden oder die wegen einer episodenhaften Erkrankung längere Zeit eine fachärztliche Versorgung brauchen“.
Streit um finanzielle Steuerungsinstrumente
Die BÄK hat auch konkrete Vorstellungen zur finanziellen Steuerung ihrer Vorschläge. Um Verbindlichkeit zu erreichen, sollte die Einschreibung in eine primärärztliche Praxis in der Regel für mindestens zwölf Monate erfolgen. Finanzielle Steuerungsinstrumente sollten erst dann erwogen werden, wenn sich das System etabliert hat und unter anderem ein verlässlicher und schneller Zugang in die jeweiligen Versorgungsstrukturen gegeben ist.
Für den SpiFa gehören bessere Patientensteuerung und das Ende der Budgetierung auch fachärztlicher Leistungen zusammen. Heinrich: „Wenn der fachärztliche Behandlungsbedarf festgestellt wurde, darf es keine Budgetierung der fachärztlichen Leistungen geben. In einem primärztlichen System gibt es keine legitime Rechtfertigung für die Budgetierung fachärztlicher Leistungen! Deswegen muss die Entbudgetierung kommen.“
Digitale und telemedizinische Angebote der Selbstverwaltung
„Perspektivisch muss das Prinzip ‚digital vor ambulant vor stationär‘ genutzt werden, um die Ressourcen der jeweiligen Versorgungsebenen optimal zu nutzen und Patientinnen und Patienten frühzeitig und niederschwellig auf ihrem Weg in eine bedarfsgerechte Versorgung zu unterstützen und zu leiten“, fordert die BÄK. Maßgeblich sei hierbei, dass digitale und telemedizinische Angebote unter Einbindung der ärztlichen Selbstverwaltung weiterentwickelt und im etablierten System (116 117) angeboten werden. Außerdem sollten die interprofessionelle Versorgung in Teamstrukturen und die Stärkung sektorenverbindender Versorgung als ganzheitlicher Ansatz einer zukünftigen Gesundheitsversorgung betrachtet werden.
Reform der Notfallversorgung für Fachärzte essenziell
Für den SpiFa gehört aus fachärztlicher Sicht die Reform der Notfallversorgung mit einer intelligenten Patientensteuerung in diesem Bereich ebenso zum Thema. Die Fachärztinnen und Fachärzte in den Kliniken müssten mehr Zeit bekommen, um sich um ihre Patienten zu kümmern. „Dazu müssen die Notaufnahmen von den Patientinnen und Patienten entlastet werden, die aus medizinischen Gründen dort nicht hingehören“, so der stellvertretende SpiFa-Vorsitzende Prof. Dr. Hermann Helmberger. „Es braucht auch hier eine intelligente Patientensteuerung und eine bessere Verzahnung und Vernetzung von Rettungsdienst, Notaufnahmen, KV-Bereitschaftsdienst und niedergelassenen Praxen. Für uns ist klar: In Akut- und Notfallsituationen können die Hausärztinnen und Hausärzte nicht die alleinigen Gatekeeper sein, sonst landen die Patienten weiterhin direkt in den Notaufnahmen der Krankenhäuser.“
Akteure frühzeitig einbinden
Reinhardt begrüßte, dass sich auch Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für mehr Steuerung in der Patientenversorgung aussprechen. „Entscheidend ist, dass alle betroffenen Akteure frühzeitig in den Prozess eingebunden werden, um die Reform von der Konzeption bis zur konkreten Umsetzung eng zu begleiten“, betonte der BÄK-Präsident. (MM)