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Eine Betrachtung und Literaturdurchsicht unter besonderer Berücksichtigung des Henne-Ei-Problems

(c) shutterstock.com/Alexander Raths

Angesichts der weltweit rasch alternden Bevölkerung besteht die wohl wichtigste Herausforderung der zahnärztlichen Prothetik in naher Zukunft darin, Patienten mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten und anderen neurologischen Krankheiten zu behandeln, was sich durch keine noch so ausgefeilte computergestützte dentale Technologie signifikant beeinflussen lassen wird. Autorin Dr. Limor Avivi-Arber betrachtet in ihrem Beitrag für die Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion 1/20 die These von der gegenseitigen Beeinflussung kognitiver Fähigkeiten durch Zähne und Kaufähigkeit unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Literatur. 

Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ der Quintessenz Verlags-GmbH. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Der kognitive Abbau gehört zu den am stärksten beeinträchtigenden Leiden und betrifft weltweit etwa 48 Millionen Menschen. Kognition ist ein Sammelbegriff für zahlreiche Prozesse, wie Wissensbildung, Gedächtnis, Denken, Logik und Entscheidungsfindung. Die Störung dieser Prozesse wirkt sich negativ auf die Alltagsfunktionen und die Lebensqualität aus. Da es kein Medikament gibt, das den Verlust kognitiver Fähigkeiten effektiv verhindern oder heilen kann, suchen Ärzte und Patienten nach alternativen Ansätzen. Ganz im Sinne von Marcus Tullius Cicero aus dem Jahr 65 v. Chr. wonach „es die körperliche Ertüchtigung alleine ist, welche die Lebensgeister unterstützt und den Geist in Schwung hält“,1 hat ein Großteil der Forschungsarbeiten der vergangenen zehn Jahre viel dazu beigetragen, die allgemeine Vorstellung zu stärken, körperliche Betätigung sei eine Art Wunderdroge, die den kognitiven Abbau verhindern und sogar heilen könne.

Auf dieser Welle der öffentlichen Zustimmung und ganz im Sinne der Studien über Sport und kognitive Funktionen hat wohl kein anderes Thema der oralen Physiologie so viel Interesse geweckt, wie die Bedeutung der Zähne und der Kaufähigkeit für die kognitiven Funktionen. Diese Studien legen nahe, dass der Verlust von Zähnen bei älteren Menschen ein epidemiologischer Risikofaktor für den Abbau kognitiver Fähigkeiten und sogar für Alzheimer ist. Außerdem soll ausreichendes Kauen ebenso wie körperliche Ertüchtigung nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand, die Alltagsaktivitäten, die Stimmung und die Lebensqualität verbessern. Wiederholtes Kauen beim Gesunden sowie die Verbesserung der Kaufähigkeit nach oraler Rehabilitation sollen auch eine effektive und preiswerte Wundermedizin sein, welche kognitive Funktionen verbessert und dazu beiträgt, einen entsprechenden Abbau zu verhindern, zu erschweren oder sogar umzukehren. Leider werden die Schlussfolgerungen vieler dieser Studien durch ein ungeeignetes Studiendesign eingeschränkt; etwa wegen einer fehlenden Langzeitbeobachtung, unzureichender Kontrollgruppen und einer unsachgemäß durchgeführten statistischen Auswertung. Viele dieser Studien stützen sich zudem bei der Diagnostik von Patienten mit Verlust von kognitiven Fähigkeiten bezüglich des Zahnstatus und der Kaustörungen auf die Angaben der Patienten sowie auf schnell und leicht einsetzbare, aber veraltete und unverständliche Screening-Instrumente (zum Beispiel die 1975 Mini Mental State Examination2). Außerdem ist die Dateninterpretation oft fragwürdig. Zu kognitiven Funktionsstörungen und kognitivem Abbau tragen potenziell viele Faktoren bei, wie der sozioökonomische Status, soziale Unterstützung, Bildung, Gesundheit und gesundheitsassoziiertes Verhalten (zum Beispiel Rauchen, Alkohol- und Drogen- und sogar Kaffeekonsum), körperliche Aktivität und psychischer Gesundheitsstatus. Anders gesagt gibt es zu viele potenzielle Störfaktoren, um sie alle kontrollieren zu können.

Eine entscheidende Frage, die diese Studien aufgeworfen haben, ist jedoch, ob ihre Hypothesen einen Sinn ergeben. Dies erinnert mich an die perfekte Evidenz aus Einzelfallberichten, die einen Zusammenhang zwischen einer Hirndegeneration und motorischer Funktion belegt: Die Seescheide ist ein Meerestier, das in seinen jungen Jahren ein rudimentäres Nervensystem mit einem zerebralen Ganglion (das heißt, ein Gehirn) besitzt. Dieses Gehirn erzeugt Muskelkontraktionen, durch welche die Seescheide im Meer herumschwimmen kann. Die adulte Seescheide hingegen schwimmt nie wieder, nachdem sie sich auf einem Stein niedergelassen und sich mit diesem verbunden hat. Da sie nicht mehr schwimmen muss, degeneriert ihr Gehirn. Der Zusammenhang zwischen dem Kauen und den kognitiven Funktionen ergibt aufgrund dessen, was wir über die wichtige Rolle der natürlichen Zähne beim Erhalt der lebensnotwendigen Kaufunktion, über Produktion und Kontrolle des Kauens und der kognitiven Funktionen sowie ihrer Interaktionen durch das Gehirn und über die Gehirnkapazität zur Anpassung seiner neuronalen Schaltkreise und Produktion neuer Schaltkreise (Neuroplastizität) bei Einschränkung dieser Funktionen durch Verletzungen (wie einen Zahnverlust), Krankheiten (zum Beispiel Schlaganfall) oder Altern, wissen, einen gewissen Sinn.

Zahnverlust verändert die Nahrungsauswahl

Es gibt zwar keine starke Evidenz, die einen Kausalzu­sammenhang zwischen der Anzahl der Zähne und dem kognitiven Abbau im hohen Alter belegt, wohl aber gute Evidenz dafür, dass der Verlust von Zähnen mit oder ohne prothetischen Ersatz die Nahrungswahl beeinflusst und dazu führen kann, dass keine ausreichende Nährstoffzufuhr mehr erfolgt. Eine Verbesserung der Kaufunktion führt hingegen zu einer besseren Ernährung und mehr Sozialkontakten. Außerdem zeigen die Belege, dass die Ernährung wichtig für den allgemeinen Gesundheitsstatus ist, da sie das Risiko für viele Krankheiten reduzieren und die kognitive Funktion bei gesunden Erwachsenen schützen und sogar verstärken kann, während eine Mangelernährung die kognitiven Funktionen stören kann. Trotzdem profitieren manche Patienten abhängig von Alter, Geschlecht, Ausbildungsstand, Art und Schwere des kognitiven Abbaus und Begleiterkrankungen (wie Depression und Schlaganfall) stärker als andere von einer verbesserten Ernährung. Somit scheint es möglich, dass der bei unbezahnten und teilbezahnten Patienten zu beobachtende Verlust der kognitiven Fähigkeiten eher auf einer Mangelernährung beruht, als auf dem Zahnstatus oder der Kaufunktion. Somit verbessert eine bessere Kaufunktion die Nährstoffaufnahme und diese wiederum die kognitiven Funktionen.

Was passiert beim Kauen im Gehirn?

An der Produktion und Kontrolle der Kaubewegungen sind der primäre somatosensorische Kortex, der primär motorische Kortex und die angrenzende kortikale mastikatorische Region beteiligt. Der prämotorische Kortex und die supplementär-motorischen Areale sind an der Vorbereitung und Planung der Ingestion, der visomotorischen Kontrolle und den für das Verständnis der ingestiven und mastikatorischen Aktionen erforderlichen kognitiven Funktionen beteiligt. Allerdings spielen auch zahlreiche andere Gehirnregionen, wie die an der Verarbeitung von kognitiven (zum Beispiel präfrontaler Kortex und Assoziationsfelder des zerebralen Kortex) und emotionalen (zum Beispiel Amygdala) Informationen und Erinnerungen (zum Beispiel Hippocampus) beteiligten Regionen, eine wichtige Rolle beim Kauen. Diese Gehirnregionen sind miteinander über ein reiches Netzwerk neuraler Schaltkreise verbunden, die das Kauen modulieren können, wobei letzteres auch die kognitiven Funktionen und die Emotionen sowie das Gedächtnis beeinflussen kann.

Eine begrenzte Anzahl von Studien hat gezeigt, dass eine im Alter eingeschränkte Kaufunktion mit altersbedingten degenerativen Veränderungen im peripheren neuromuskulären System sowie den an der Produktion und Kontrolle des Kauens beteiligten Gehirnregionen verbunden ist. Mit dem Alter degenerieren alle Zellen des Körpers, auch die Neurone. Man geht davon aus, dass sich die neurale Morphologie etwa ab einem Alter von 30 Jahren verändert. Während sich die Anzahl der Neurone kaum ändert, beginnen ihre Dendriten und Synapsen langsam zu degenerieren. In der Folge kommt es zur allmählichen Degeneration der neuralen Schaltkreise. Daher überrascht es nicht weiter, dass mit dem Alter die sensiblen, motorischen und kognitiven Funktionen abnehmen. Außerdem ist die Neuroplastizität in „alten Gehirnen“ zwar geringer ausgeprägt als in „jungen Gehirnen“, aber trotzdem noch vorhanden, sodass auch sie neue Tricks erlernen können – es wird nur schwieriger und erfordert mehr Zeit und Motivation, sich an die Veränderungen der Okklusion anzupassen.

Neuroplastizität

Wegen der vitalen Bedeutung der Kaufunktion für den Erhalt des normalen Lebens entstehen beim normalen Altern Kompensationsmechanismen, die sich der neuroplastischen Kapazität des Gehirns bedienen, um zusätzliche Gehirnregionen zu rekrutieren, die an der Verarbeitung von kognitiven und Gedächtnisfunktionen beteiligt sind. Somit hängt die Kaufunktion älterer Menschen stärker von diesen zusätzlichen Hirnregionen ab, die sensorische, motorische und kognitive Hinweise liefern, um durch die Kompensation der altersbedingten neuralen, muskulären und sensorischen Ausfälle das Kauen zu erleichtern. Denkbar ist ­allerdings auch, dass die Rekrutierung zusätzlicher Hirn­regionen die Unfähigkeit widerspiegelt, die korrekten und spezifischen Hirnregionen zu rekrutieren, die für einen effektiven Kauvorgang erforderlich sind (das heißt Maladaptation). Außerdem sind diese Hirnregionen empfänglich für die verheerenden altersbedingten Effekte, die sich mit einer deutlichen Abnahme der kognitiven Funktionen und des Gedächtnisses manifestieren und somit zur altersbedingten Kaustörung beitragen. Da diese Hirnregionen zudem Informationen aus dem sensomotorischen Kortex erhalten, der wiederum Signale aus der oralen Region erhält (einschließlich Zähnen und Kaumuskeln), können Veränderungen der Zähne und des Kauens die Kognition und das Gedächtnis beeinflussen.

Daher sind weitere Studien erforderlich, um das Henne-Ei-Problem zu lösen: Unterstützt die Kaufunktion die kognitiven Funktionen oder ermöglicht die kognitive Leistungsfähigkeit die Anpassung der Kaufunktion an die altersbedingte Verschlechterung der peripheren Gewebe, wie den Zahnverlust? Derartige Studien sind wichtig, da Kognition und Gedächtnis sehr komplexe Funktionen sind, deren Rehabilitation das Verständnis und den Einsatz von Mechanismen voraussetzt, welche die adaptive Neuroplastizität vorantreiben. (Originalartikel publiziert im Int J Prosthodont 2018;31:4:319-320)

Ein Beitrag von Dr. Limor Avivi-Arber, Toronto, Kanada

Literatur

1. Torrey J. The Moral Instructor, and Guide to Virtue: Being a Compendium of Moral Philosophy. Philadelphia: J Grigg, 1835.

2. Folstein MF, Folstein SE, McHugh PR. “Mini-mental state.” A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. J Psychiatr Res 1975;12:189–198.

Quelle: Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion 1/20 Funktionsdiagnostik & -therapie Zahnmedizin Alterszahnmedizin

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