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Eine interessante Alternative zur Behandlung von Myoarthopien schont Kiefer und Prothese

Eingegliederte Totalprothesen-Michigan-Schiene. Sie wird während des Schlafs getragen.

Die Herstellung einer Stabilisierungsschiene (Michigan-Schiene) für einen an einer Myoarthropathie (MAP) leidenden zahnlosen Patienten ist eine anspruchsvolle Aufgabe. In ihrem Artikel für die Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion 4/20 beschreiben die Autoren Dr. Philipp Dedem und Dr. Jens C. Türp eine Totalprothesen-Michigan-Schiene, bei der eine herausnehmbare Oberkieferprothese und eine Stabilisierungsschiene aus einem einzigen Werkstück hergestellt wurden.

Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ der Quintessenz Verlags-GmbH. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Die Stabilisierungsschiene (Michigan-Schiene) ist der häufigste orale Schienentyp1. Sie ist für die folgenden drei Diagnosen indiziert:

  • Kaumuskelschmerz (myofaszialer Schmerz),
  • Kiefergelenkschmerz (Kiefergelenkarthralgie),
  • Bruxismus (Kieferpressen; Zähneknirschen).

Hinsichtlich der spezifischen Wirkung einer Stabilisierungsschiene (oder einer anderen oralen Schiene) zur Behandlung myoarthropathischer Schmerzen (myofaszialer Schmerz der Kaumuskulatur und/oder Kiefergelenkschmerz) und einer damit einhergehenden schmerzbedingten eingeschränkten Unterkieferbeweglichkeit (ins­besondere der Kieferöffnung) hat die Qualität der verfügbaren externen Evidenz in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen. Demnach hat sich gezeigt, dass orale Schienen hinsichtlich einer kurz- und langfristigen Schmerzreduktion wirksam sind2–5.

In der Vergangenheit wurden verschiedene Hypothesen zur Wirksamkeit von Schienen bei Patienten mit myoarthropathischen Schmerzen zur Diskussion gestellt (Tab. 1 in Klasser und Greene1). Inzwischen sind gute Belege aus qualitativ hochwertigen humanexperimentellen Untersuchungen vorhanden, dass ein eingetretener Schmerzrückgang nach dem Tragen einer Schiene im Schlaf durch den erhöhten Vertikalabstand der Kiefer nach Einsetzen der Apparatur zustande kommt. Die vergrößerte Vertikaldimension führt zu einer Reorganisation des intramuskulären Rekrutierungsmusters der motorischen Einheiten der Kaumuskulatur. Diese Veränderung wiederum entlastet jene Muskelregionen, die durch hohen mechanischen Stress und Überlastung bei Unterkieferbewegungen, wie Kauen oder Kieferpressen, gekennzeichnet sind6–8.

Ebenso verändert die Schiene die Lage der Unterkieferkondylen in den Kiefergelenken, was zu einer Veränderung der Belastung zwischen den Kondylen und temporalen Gelenkflächen9 sowie zu einer Verringerung der Gelenkbelastung führt10. Diese Effekte – Veränderung des Funktionsmusters der Kaumuskulatur und Lageveränderung der Kondylen – können als Hauptgründe für eine Verringerung von Kaumuskel- und Kiefergelenkschmerzen angesehen werden11.

Die in den 1960er-Jahren von Ramfjord und Ash an der University of Michigan12 entwickelte Stabilisierungsschiene, die 1978 von Geering und Lang13 als Michigan-Schiene bezeichnet wurde, gilt als der Goldstandard unter allen für die oben genannten Indikationen verwendeten oralen Schienen14,15.

Die Michigan-Schiene zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Sie wird in der Regel im Oberkiefer getragen.

  • Alle (Oberkiefer-)Zähne sind von der Schiene bedeckt.
  • Es werden keine Retentionselemente (Klammern) benötigt.
  • Sie wird aus hartem, transparenten thermoplastischen Kunststoff, das heißt Polymethylmethacrylat (PMMA), hergestellt.
  • Sie weist eine flache Oberfläche auf (keine Mulden) mit bilateral flach (nicht löffelförmig) gestalteten Eckzahnrampen.
  • Bei Kieferschluss des horizontal liegenden Patienten hat jeder Unterkieferseiten- und -eckzahn mindestens einen Kontakt auf der Schienenoberfläche.
  • Die Kontakte der unteren Zähne auf der Schienenoberfläche beim Kieferschluss sind gleichmäßig und gleichzeitig.
  • Bei schienengeführten Unterkieferbewegungen in der Horizontalebene bewegt sich der Unterkiefer auf einer Strecke von bis zu etwa 2 mm entlang der Schienenoberfläche, ohne dass eine vertikale Komponente auftritt (Freiheit in der Zentrik).
  • Bei Vor- und Seitschubbewegungen der unteren Zähne auf der Schienenoberfläche gleiten nach Durchlaufen einer Strecke von ca. 2 mm die unteren Eckzähne über die Schienenrampen (Eckzahnführung). Dadurch kommt es zu einer sofortigen Disklusion aller anderen Zähne. Auf der Oberfläche der Eckzahnrampen der Schiene hinterlassen die unteren Eckzähne nach Vor- und Seitschub eine V-förmige Spur, sofern die Zahnmorphologie und -position dies erlauben.

Eine Michigan-Schiene kann auf zwei Arten hergestellt werden.

  1. Die traditionelle Methode beinhaltet: 
  • Alginatabformungen des Ober- und Unterkiefers,
  • Kieferrelationsbestimmung16,
  • Herstellung von Gipsmodellen,
  • Herstellung des Wachsmodells der Schiene,
  • Überführung der Wachsmodellation der Schiene in PMMA.
  1. Der moderne digitale Weg beinhaltet:
  • Gipslose Herstellung mithilfe eines Laborscanners und CAD/CAM-Technologie17–21

Unabhängig von der gewählten Technik hat eine korrekt hergestellte und eingegliederte Stabilisierungsschiene unter allen Arten von oralen Schienen das geringste Potenzial für nachteilige Auswirkungen auf die oralen Strukturen1.

Die am häufigsten von myoarthropathischen Schmerzen betroffenen Personen sind Frauen im gebärfähigen Alter; nach der Menopause nimmt die Prävalenz ab22. Während die überwältigende Mehrheit der Patienten, die eine Michi­gan-Schiene benötigen, vollständig oder teilweise eine Eigenbezahnung aufweist, ist eine kleine Minderheit zahnlos. Im Gegensatz zu Patienten mit implantatgetragenen festsitzenden Teilprothesen bleibt die Herstellung von Stabilisierungsschienen für Personen mit schleimhautgetragenen Totalprothesen eine Herausforderung. In diesem Artikel wird die Herstellung einer Totalprothesen-Michigan-Schiene beschrieben, bei der eine Oberkieferprothese und eine Stabilisierungsschiene aus einem einzigen Stück gefertigt wurden.

Falldarstellung 

Eine 76-jährige zahnlose Patientin stellte sich in der Abteilung für Rekonstruktive Zahnmedizin des Universitären Zentrums für Zahnmedizin Basel, Schweiz vor. Während der Konsultation mit dem Erstautor bat die Patientin um den Ersatz ihrer 20 Jahre alten Totalprothesen durch neue, gut sitzende Prothesen, die es ihr ermöglichen würden, „wieder richtig beißen zu können“. Die Überprüfung des bestehenden Zahnersatzes ergab, dass die Retention der schleimhautgetragenen Oberkieferprothese nicht zufriedenstellend war. Die Unterkieferprothese war intraoral durch zwei interforaminale Implantate fixiert; retromolar war sie zu kurz gestaltet (Abb. 1).

Zusätzlich zu dem Wunsch der Patientin nach im Vergleich zu ihren aktuellen Prothesen „schöneren Zähnen“ klagte sie über anhaltende myoarthropathische Schmerzen, die sich bei weiter Kieferöffnung (zum Beispiel Gähnen) und beim Kauen von Nahrung verstärkten. Aus diesem Grunde wurde sie von dem Zweitautor untersucht. Die Anamnese ergab, dass ihre Schmerzen hauptsächlich im rechten Kiefergelenk und rechten Massetermuskel lokalisiert waren und vor vielen Jahren begonnen hatten. Die Schmerzstärke war morgens gering, nahm im Laufe des Tages zu und erreichte gegen Abend ihr Maximum. Die durchschnittliche Schmerzintensität während der letzten sechs Monate schwankte auf einer numerischen 11-Punkte-Ratingskala zwischen 7 und 10 (wobei 0 für „keine Schmerzen“ und 10 für „Schmerzen, so schlimm wie man sich nur vorstellen kann“ steht).

Auf die schmerzspezifische Anamnese folgte eine klinische Untersuchung nach den Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD). Unter Verwendung eines Algometers (Palpeter; Sunstar Suisse) gab die Patienten bei Palpation der Mm. temporales und Mm. masseteres (Druck: 1.000 g) eine geringe Schmerzempfindlichkeit an. Als Diagnosen wurden eine Arthralgie des rechten Kiefergelenks und myofaszialer Schmerz des rechten M. masseters gestellt.

Die Patientin sah sich daher zwei klinischen Problemen ausgesetzt: 1.) rechtsseitig lokalisierte myoarthropathische Schmerzen; 2.) Ersatz insuffizienter Totalprothesen. Der neue Zahnersatz wurde nach üblichen, in aktuellen Lehrbüchern der zahnärztlichen Prothetik beschriebenen Verfahren hergestellt. Es wurde kaltpolymerisierender PMMA-Kunststoff (Aesthetic blue; Candulor) verwendet23. Im Vergleich zu den alten getragenen Prothesen wurde der Vertikalabstand im Schneidezahnbereich um 2 mm angehoben, um die verringerte Vertikaldimension auszugleichen. Einige Tage nach dem Einsetzen der Prothese (Abb. 2) war eine Druckstelle aufgetreten, die an der entsprechenden Stelle durch Beschleifen der Prothesenbasis entfernt wurde. Ansonsten passten die Prothesen sowohl an der Basis als auch im okklusalen Bereich gut.

Zur Herstellung der Oberkiefer-Totalprothesenschiene erfolgte zwei Monate später unter Verwendung der neuen Oberkieferprothese und Aluminiumwachs eine Kieferrelationsbestimmung. Dafür wurde die Patientin in Rückenlage gebracht, weil diese Körperlage der „Neutrallage“ beim Tragen der Totalprothesenschiene im Schlaf entspricht. Die Vertikaldistanz wurde um weitere 2 mm angehoben (Abb. 3), das heißt, die Gesamtzunahme der vertikalen Dimension, gemessen im Frontzahnbereich, betrug 4 Millimeter im Vergleich zu den alten Totalprothesen.

Im zahntechnischen Labor erfolgte die Herstellung der Totalprothesenschiene in Wachs über die bestehende Oberkieferprothese (Abb. 4). Die Digitalisierung der Wachsmodellation (Abb. 5) geschah mittels je einem Scan der Okklusalfläche und der Unterseite der Schiene (Abb. 6). Die beiden Scans wurden über den gemeinsamen Randbereich zu einem virtuellen Modell zusammengeführt (Abb. 7). Die resultierende Totalprothesenschiene wurde mittels CAM aus einem Block aus vorpolymerisiertem PMMA gefräst. Anschließend wurde das Werkstück aus dem PMMA-Rohling herausgetrennt (Abb. 8) und die Außenfläche poliert (Abb. 9a bis c). Das Einschleifen der Kontakte zwischen den semianatomischen Seiten- und Eckzähnen der Unterkieferprothese und der flachen Oberfläche der Schiene bei Kieferschluss sowie den schienengeführten Bewegungen des Unterkiefermodells erfolgte in einem Gerber Condylator.

Nach dem Polieren und Reinigen der Totalprothesenschiene im Labor (Abb. 10) wurde die Passung der Innenfläche auf dem unbezahnten Alveolarkamm am Patientenstuhl mit einem niedrigviskösen Silikon überprüft (Fit Checker, GC Europe). Die Anpassung der Zahnkontakte beim Kieferschluss und den Seit- und Vorschubbewegungen des Unterkiefers entlang der Schienenoberfläche erfolgte im Labor wie zuvor beschrieben. Besonderes Augenmerk wurde auf die Verwirklichung des Konzepts der „Freiheit in der Zentrik“ gelegt, das 2 mm lange Bewegungen der unteren Seiten- und Eckzähne entlang der flach gestalteten Schienenoberfläche zulässt, gefolgt von einer alleinigen Führung der unteren Eckzähne bei fortgesetzten horizontalen Bewegungen des Unterkiefers, was zu V-förmigen Spuren entlang der Eckzahnrampen der Schiene führt (Abb. 11).

Die Patientin wurde angewiesen, die Totalprothesenschiene (anstelle ihrer neuen Oberkieferprothese) jede Nacht im Schlaf zu tragen (Abb. 12). Die erste Kontrolluntersuchung war ursprünglich eine Woche später geplant, aber die Patientin sagte aus gesundheitlichen Gründen ab. Der Termin erfolgte daher drei Wochen nach dem Eingliedern der Schiene. Es konnten keine Veränderungen an der Totalprothesenschiene (zum Beispiel Rauigkeiten oder Risse aufgrund von Kieferpressen oder Knirschen) festgestellt werden. Eine weitere Untersuchung drei Monate später ergab, dass die Schmerzen, welche die Patientin bei weiter Kieferöffnung und beim Kauen empfunden hatte, verschwunden waren. Die Palpationsempfindlichkeit der beiden ­tastbaren Kaumuskeln (Mm. temporales und Mm. masseteres)24,25 war ähnlich wie bei der Erstuntersuchung.

 

Diskussion

Bei einem geschätzten MAP-bezogenen Behandlungsbedarf von 16 Prozent bei Erwachsenen26 ist der myoarthropathische Schmerz als das herausragendste MAP-Symptom ein relativ häufiger Befund. In seltenen Fällen kommt es vor, dass bei einem zahnlosen, mit Totalprothesen versorgten Patienten eine Stabilisierungsschiene indiziert ist, so wie im vorliegenden Fall. Hier wurde die Schiene jedoch nicht, wie sonst üblich, auf eine vorhandene Oberkiefer-Totalprothese aufgesetzt27,28. Stattdessen wurde eine Oberkiefer-Totalprothese mit einer zusätzlichen Stabilisierungsschiene in einem Stück angefertigt. Dieses Verfahren weist mehrere Vorteile auf: 

  1. Da keine Schiene auf eine Totalprothese gesetzt (oder von ihr entfernt) wird, ist eine mögliche Beschädigung oder Abnutzung der künstlichen Zähne und/oder ein Retentionsverlust der Schiene ausgeschlossen.
  2. Eine perfekte Passung der Oberkiefer-Prothesenschiene auf dem Kieferkamm erfolgt durch digitales Scannen und das schrumpffreie, subtraktive Herstellungsverfahren. Dadurch wird eine Eins-zu-Eins-Kopie der bestehenden und druckstellenfreien Prothesenbasis erreicht.
  3. Als Ergebnis der Polymerisation unter hohem Druck enthält industriell vorpolymerisiertes PMMA weniger freies Restmonomer, als dies bei Heiß- oder Autopolymerisaten (Pulver und Flüssigkeit) der Fall ist29,30. Daher ist die Wahrscheinlichkeit lokaler (zytotoxischer) oder systemischer Nebenwirkungen, die durch Restmonomer verursacht werden, wie Brennen oder allergische Reaktionen der Mundschleimhaut31, deutlich verringert.
  4. Aufgrund der glatten und homogenen Oberfläche der Prothesenschiene ist für die Patienten das Tragegefühl im Vergleich zu einer auf einer separaten Prothese befestigten Schiene angenehmer.
  5. Während des Schlafs ist die Oberkieferprothese geschützt, da sie nicht benutzt wird, was ihre Lang­lebig­keit erhöht. 
  6. Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass aufgrund des Vorhandenseins eines digitalen Datensatzes bei einem etwaigen Verlust der Prothesenschiene mit geringem Aufwand ein Duplikat angefertigt werden kann. 

Aus diesem Fallbericht lässt sich nicht ableiten ableiten, das die erzielte Schmerzfreiheit auf die Wirkung der Prothesenschienen zurückzuführen ist, da unspezifische Faktoren beteiligt gewesen sein könnten32.

Schlussfolgerung 

Bei zahnlosen, an MAP leidenden Patienten kann eine einteilige Totalprothesen-Michigan-Schiene eine Alternative zu einer Kombination aus Totalprothese und Stabilisierungsschiene sein.

Ein Beitrag von Dr. Philipp Dedem und Dr. Jens Christoph Türp, beide Basel

Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Die in diesem Artikel abgebildete Patientin gab ihr volles Einverständnis für die Verwendung ihrer Fotos in dieser Publikation.

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Journal of Craniomandibular Function 04/20 Funktionsdiagnostik & -therapie Alterszahnmedizin Prothetik Zahntechnik

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