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Klinisches Erscheinungsbild, Diagnostik und Therapiekonzepte der genetischen Zahnerkrankung
Unterschiedliche Ausprägungen einer hypoplastischen AI. Vereinzelte Schmelzinseln sind auf der Labialfläche der bleibenden oberen mittleren Schneidezähne erkennbar.
Die Amelogenesis imperfecta (AI) ist eine seltene genetische Zahnerkrankung, welche die Schmelzmatrixbildung und -mineralisation betrifft. Prof. Roswitha Heinrich-Weltzien stellt in ihrem Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 2/2023 das Erscheinungsbild, die Diagnostik und Konzepte zur Behandlung dieser Fehlbildung in Abhängigkeit vom Alter der Betroffenen vor.
Die Amelogenesis imperfecta kann isoliert oder als Symptom eines Syndroms auftreten. Alle Milch- und bleibenden Zähne sind in der Regel gleich schwer betroffen. Mutationen in spezifischen Genen, die Schmelzmatrixproteine, Enzyme, Transkriptionsfaktoren, zelluläre Proteine, Zellrezeptoren und Calcium-Carrier kodieren, sind ursächlich für das Auftreten der isolierten AI. Ihre Häufigkeit wird mit 1:14.000 beziffert.
Hypoplastischer, hypomineralisierter und hypomaturierter Schmelz charakterisiert die dominierenden drei AI-Subtypen. Klinisch imponieren eine weiß- bis gelbbraune Zahnfarbe und eine raue Schmelzoberfläche von unterschiedlicher Härte. Häufige Begleitbefunde sind ein verzögerter oder ektopischer Zahndurchbruch, Zahnunterzahl, Pulpaverkalkungen, Verlust der vertikalen Dimension, offener Biss, Gingivahyperplasie und parodontale Erkrankungen. Hypersensitivität und Zahnschmerzen sind neben den ästhetischen Beeinträchtigungen die Gründe für die Vorstellung beim Zahnarzt. AI-Patienten bedürfen bis zu ihrer definitiven funktionellen und ästhetischen Rehabilitation im Erwachsenenalter einer präventiv orientierten Behandlungsstrategie. Diese umfasst die adhäsive direkte und/oder indirekte Restauration der Frontzähne im Milch- und Wechselgebiss mit Kompositen, die Versorgung der Milchmolaren mit konfektionierten Stahlkronen, die definitive Kronenversorgung der bleibenden Zähne unter Nutzung der CAD/CAM-Technologie bis hin zur brücken- und implantatprothetischen Versorgungen bei Zahnverlust im bleibenden Gebiss.
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Einleitung
Neben der (frühkindlichen) Karies sind es vor allem angeborene oder erworbene Zahnstrukturstörungen, die Eltern veranlassen, ihr Kind beim Zahnarzt vorzustellen. Zahnstrukturstörungen sind definitionsgemäß Störungen der Hartgewebematrix und ihrer Mineralisation während der Odontogenese8, die sich über den Zeitraum von der 16. Schwangerschaftswoche bis ca. zum 8. Lebensjahr erstreckt. Demzufolge sind Milch- und bleibende Zähne gleichermaßen betroffen. Die Herausforderungen für den Zahnarzt bestehen in der sorgfältigen Differenzialdiagnostik sowie einer indikationsgerechten und in der Regel lebenslangen zahnärztlichen Begleitung. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, neben der Beschreibung und Diagnostik des Erkrankungsbilds der Amelogenesis imperfecta (AI) die typischen Therapieoptionen in Relation zum Alter vorzustellen.
Genetischer Hintergrund
Die AI ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung des Zahnschmelzes, bei der die Schmelzmatrixbildung und- mineralisation der Ameloblasten betroffen ist5. In der genetischen Datenbank Online Mendelian Inheritance of Man (OMIM) sind aktuell 22 AI-Formen nach Symptomatik, Erbgang und Molekulargenetik gelistet21. Die bekannten Genmutationen kodieren Schmelzmatrixproteine (Amelogenin, AMELX; Enamelin, ENAM; Ameloblastin, AMBN), Enzyme (Kallikrein, KLK4; MMP20), Transkriptionsfaktoren (MSX2, DLX3), zelluläre Proteine (WDR72, FAM83H, COL17A1), Zellrezeptoren (ITGB6) und Calcium-Carrier (SLC24A4), die alle in den Schmelzbildungsprozess eingebunden sind. Der vorliegende Erbgang kann autosomal-dominant oder -rezessiv sowie X-chromosomal geschlechtsgebunden sein5. Die Prävalenzangaben variieren weltweit zwischen 1:14.000 in den USA14 und 1,4:1.000 in Schweden3.
Klassifikation und klinisches Erscheinungsbild
Die AI kann isoliert oder Syndrom-assoziiert auftreten5,21. Bereits im Kindesalter vorkommende Syndrome mit dem Begleitsymptom einer AI sind das Kohlschütter-Tönz-Syndrom1, das Jalili-Syndrom6 und das Zahnschmelz-Niere-Syndrom26. Ihre wesentlichen Charakteristika sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Während die meisten syndromalen Patienten mit ihrer allgemeinmedizinischen Diagnose beim Zahnarzt vorstellig werden, ist es im Einzelfall aber auch möglich, dass der Zahnarzt die Syndromabklärung aufgrund der dentalen Symptomatik initiiert.
Tab. 1 Symptomatik von Syndromen, die mit einer Amelogenesis imperfecta (AI) assoziiert sind.
Trotz der Fortschritte in der genetischen Diagnostik wird in der täglichen zahnärztlichen Praxis noch immer die AI-Klassifikation von Witkop aus dem Jahr 198831 am häufigsten herangezogen. Diese basiert auf drei phänotypischen Hauptkategorien mit den klinischen Entitäten des hypoplastischen, hypomaturierten und hypomineralisierten (Synonym: hypokalzifizierten) Schmelzes. Als vierter Phänotyp wird die hypomaturiert-hypoplastische AI in Verbindung mit einem Taurodontismus aufgeführt. Weiterhin wird eine Unterteilung in 15 Subtypen aufgrund des Phänotyps und des Erbgangs vorgenommen. Vergleichende Genotyp-Phänotyp-Studien zeigen jedoch, dass vielfach keine eindeutige Zuordnung zu einer der Hauptkategorien möglich ist, da unterschiedliche Schmelzdefekte wie hypoplastischer und hypomineralisierter Schmelz gleichzeitig bei ein und demselben Patienten oder Zahn auftreten können10. Aufgrund dieser Tatsache wurde der Vorschlag unterbreitet, den Erbgang beziehunngsweise die Genetik als primäre Klassifikation und den Phänotyp als sekundäre Diskriminante zu verwenden2. Dies setzt jedoch voraus, dass eine komplette Genomuntersuchung bei jedem Patienten durchgeführt werden muss, da Mutationen in bislang bekannten Standardgenen nicht immer zu einer genetischen Diagnose führen10. Dies ist jedoch im gegenwärtigen deutschen kassenrechtlichen Versorgungskontext nicht möglich.
Das klinische Erscheinungsbild der AI ist sehr heterogen, da Schmelzfarbe, -oberfläche und -härte unterschiedlich betroffen sind13,24. Farbveränderungen der Zähne können von weißlich-gelblich bis hin zu bräunlich-braun auftreten. Mit Blick auf die bestehenden Überempfindlichkeiten und die daraus resultierende begrenzte Mundhygiene des Patienten sind oftmals externe Pigmentierungen und Zahnsteinablagerungen vorhanden, welche die Zahnfarbe negativ beeinflussen. Die Schmelzoberfläche kann glatt oder rau beziehungsweise hypoplastisch sein und/oder Oberflächeneinbrüche aufweisen. Hypoplasien imponieren in Form einer reduzierten Schmelzdicke, wobei die Schmelzoberfläche mit Rillen und Grübchen überzogen sein kann. Die Schmelzhärte variiert zwischen einer normalen Härte bis hin zu einer weichen Konsistenz. Ein verzögerter oder ektopischer Zahndurchbruch, impaktierte Zähne, Zahnunterzahl, Pulpaverkalkungen, frontal und/oder seitlich offener Biss, Gingivahyperplasie und parodontale Erkrankungen sind häufige Begleitsymptome der AI27. Wie bereits erwähnt, klagen viele AI-Patienten über Hypersensibilitäten und Schmerzen beim Essen und Zähneputzen. Dies führt zu ausgeprägten Gingivitiden und Zahnsteinbildung, die als Charakteristika der seltenen Erkrankung zu verstehen sind und zu keiner Stigmatisierung der Patienten führen dürfen. Aufgrund der unterschiedlichen Störungen in der Amelogenese unterscheiden sich diese Charakteristika bei den AI-Haupttypen, die nachfolgend differenzierter betrachtet werden sollen.
Abb. 1a Unterschiedliche Ausprägungen einer hypoplastischen AI. Vereinzelte Schmelzinseln sind auf der Labialfläche der bleibenden oberen mittleren Schneidezähne erkennbar.
Abb. 1b Ein Drittel bis die Hälfte der klinischen Zahnkronen der bleibenden oberen Schneidzähne weist keinen Zahnschmelz auf.
Abb. 1c Die Zahnoberfläche aller Zähnen weist ein ausgeprägtes Rillen- und Grübchenmuster der dünnen Schmelzschicht auf; es imponieren fehlende Approximalkontakte.
Abb. 1d Charakteristisches Orthopantomogramm (OPG) einer zehnjährigen Patientin mit einer hypoplastischen AI und röntgenologisch nicht erkennbarer Schmelzschicht.
Hypoplastische Amelogenesis imperfecta
Die hypoplastische AI ist durch eine quantitative reduzierte oder gänzlich fehlende Schmelzschicht gekennzeichnet, die meist die gesamte Zahnkrone betrifft (Abb. 1). In Verbindung mit unterschiedlichen genetischen Mutationen imponieren verschiedene Ausprägungen. Während der Amelogenese ist lediglich die Sekretion der Schmelzmatrixproteine gestört; die Mineralisation des vorhandenen Schmelzes ist hingegen normal31. Klinisch und röntgenologisch können fehlende Approximalkontakte beobachtet werden (Abb. 1d). Aufgrund des durchscheinenden oder exponierten Dentins sind die Zähne in Abhängigkeit von der Schmelzdicke gelb bis leicht bräunlich. Die Zahnoberfläche ist in der Regel rau; sie kann Rillen und Grübchen aufweisen (vgl. Abb. 1c). Zwischen dem Schmelz und Dentin besteht ein normaler Röntgenkontrast31. Weiterhin äußern be-troffene Patienten eine thermische Hypersensibilität32. Die hypoplastische AI ist mit 61 % der am häufigsten vorkommende Typ11.
Abb. 2a Verlaufskontrolle einer Patientin mit hypomaturierter AI vom 8. bis zum 18. Lebensjahr. Die Frontalansicht zeigt die marmorierten weißlich-opaken Frontzähne mit posteruptiven Schmelzeinbrüchen und einer Dentinexposition im Alter von acht Jahren.
Abb. 2b Die Oberkieferübersicht veranschaulicht die desolate frühe Wechselgebisssituation mit dem vorzeitigen Verlust der Zähne 54 und 55, der profunden Karies an Zahn 53, dem frühzeitigen Durchbruch von Zahn 24 sowie den ausgedehnten Amalgamfüllungen in den ersten bleibenden Molaren. An den Palatinalflächen der Frontzähne und des Zahns 24 sind Schmelzeinbrüche erkennbar.
Abb. 2c Die Unterkieferübersicht spiegelt die desolate Situation des Oberkiefers mit dem vorzeitigen Verlust von Zahn 75 und dem zeitigen Durchbruch von Zahn 44 wider. Die ersten Molaren weisen wiederum großflächige Amalgamfüllungen auf.
Abb. 2d Das OPG untermauert den klinischen Befund und demonstriert die gleiche Röntgenopazität vom Schmelz und Dentin.
Abb. 2e Frontalansicht nach Entfernung des hypomaturierten Schmelzes und adhäsiver Restauration aller Frontzähne mit einem Komposit vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung, die nach der Extraktion der ersten Molaren einen orthodontischen Lückenschluss vorsah.
Abb. 2f Frontalansicht nach Eingliederung der festsitzenden kieferorthopädischen Apparatur mit adhäsiver Befestigung der Brackets auf der Kompositoberfläche.
Abb. 2g Auffällig ist die weiterhin bestehende unzureichende Mundhygiene der Patientin und die persistierende Gingivitis. En-face-Ansicht der Patientin nach der Kronenversorgung des Gesamtgebisses im Alter von 18 Jahren.
Abb. 2h Frontalansicht nach der Versorgung mit Keramikkronen bei weiterhin persistierender Gingivitis.
Abb. 1i und j Ober- und Unterkieferübersicht nach der Extraktion der ersten bleibenden Molaren und dem orthodontischen Lückenschluss im Rahmen der kieferorthopädischen Therapie sowie der definitiven Versorgung aller Zähne mit Keramikkronen.
Abb. 1i und j Ober- und Unterkieferübersicht nach der Extraktion der ersten bleibenden Molaren und dem orthodontischen Lückenschluss im Rahmen der kieferorthopädischen Therapie sowie der definitiven Versorgung aller Zähne mit Keramikkronen.
Hypomaturierte Amelogenesis imperfecta
Die hypomaturierte AI zeichnet sich durch einen gestörten Mineralisationsprozess der normal gebildeten Schmelzmatrix aus, der durch die fehlende Rückresorption von Schmelzmatrixproteinen und einen reduzierten Mineralgehalt verursacht wird28. Die Dicke der Schmelzschicht ist im Regelfall normal. Aufgrund der weichen Schmelzkonsistenz infolge der Hypomineralisation tritt häufig ein frühzeitiger posteruptiver Schmelzeinbruch beziehungsweise funktionsbedingter Schmelzverlust ein29. Die Zahnfarbe variiert von weißlichopak marmoriert bis gelblich-braun23 (Abb. 2). Weiterhin kann die Zahnfarbe durch Einlagerungen von Farbpigmenten aus der Nahrung beeinträchtigt sein. Die Röntgenopazität des hypomaturierten Zahnschmelzes ist im Vergleich zum Normwert reduziert31 (vgl. Abb. 2). Die Häufigkeit der hypomaturierten AI-Form wird mit 32 Prozent aller AI-Formen beziffert11.
Hypomineralisierte Amelogenesis imperfecta
Die hypomineralisierten AI wird durch eine qualitativ gestörte Mindermineralisation der Schmelzmatrix bei einer normalen Schmelzstärke verursacht31. Aufgrund der ausgeprägten Schmelzhypomineralisation besteht auch in diesen Fällen eine reduzierte Röntgenopazität, die mit dem Dentin vergleichbar ist. Der Schmelz ist oft von einer käseartigen Konsistenz, sodass es zu einem raschen posteruptiven Schmelzverlust mit einer Reduktion der vertikalen Dimension kommt23. Die Zähne sind dunkelgelb bis braun verfärbt und können Pigmenteinlagerungen aufweisen (Abb. 3). Gingivale Entzündungen, ein ausgeprägter Plaque- und Zahnsteinbefall und eine erhöhte Temperaturempfindlichkeit sind im Vergleich zum hypoplastischen und hypomaturierten Typ weitere Leitsymptome bei dieser AI-Form25. Am stärksten belasten die Patienten jedoch die permanenten Schmerzen beim Kauen und Zähneputzen sowie die erhebliche ästhetische Beeinträchtigung durch die braunen Zähne22.
Abb. 3a Hypomineralisierte AI bei einem siebenjährigen Patienten. In der Frontalansicht wird aufgrund der ausgeprägten Biofilmablagerung auf den Frontzähnen und der etablierten Schmutzgingivitis die vorliegende AI maskiert.
Abb. 3b und c Die Oberkiefer- und Unterkieferübersicht illustriert den vollständigen Schmelzverlust an den Okklusal- und Glattflächen bis zum marginalen Kronendrittel aller dunkelbraun verfärbten Milch- und bleibenden Zähne. Die meisten Milchmolaren weisen einen approximalen Kariesbefall auf. An Zahn 36 liegt ebenfalls eine etablierte Dentinkaries vor. Weiterhin ist an allen Zähnen ein ausgeprägter „Black stain“-Befall zu beobachten.
Abb. 3b und c Die Oberkiefer- und Unterkieferübersicht illustriert den vollständigen Schmelzverlust an den Okklusal- und Glattflächen bis zum marginalen Kronendrittel aller dunkelbraun verfärbten Milch- und bleibenden Zähne. Die meisten Milchmolaren weisen einen approximalen Kariesbefall auf. An Zahn 36 liegt ebenfalls eine etablierte Dentinkaries vor. Weiterhin ist an allen Zähnen ein ausgeprägter „Black stain“-Befall zu beobachten.
Abb. 3d Das OPG visualisiert bei vergleichbarer Röntgenopazität vom Schmelz und Dentin den klinischen röntgenologischen Befund bei einem altersgerechten Zahnstatus.
Neben diesen charakteristischen Erscheinungsbildern können sowohl bei einem Patienten als auch an einem Zahn unterschiedliche Mischformen der AI-Typen auftreten5,23. Angaben zu AI-Mischformen liegen im Schrifttum lediglich für die hypomaturierthypoplastische Mischform vor, die mit einer Häufigkeit von 3,2 Prozent angegeben wird11. Generell kann sich jedoch im Einzelfall die eindeutige klinische Zuordnung zu einer der aufgezeigten AI-Entitäten für den Zahnarzt schwierig gestalten.
Diagnostik
Die zahnärztliche Diagnose erfolgt primär anhand des klinischen Erscheinungsbilds (Phänotyp). Die Feststellung, dass alle Milch- und bleibenden Zähne von der Strukturstörung betroffen sind, sowie eine positive Antwort auf die Frage, ob in der Familie jemand das gleiche Krankheitsbild aufweist, unterstützt den Zahnarzt bei der klinischen Diagnosestellung. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung der AI von anderen Schmelzstrukturstörungen wie der Dentalfluorose, der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) und traumatisch bedingten Strukturstörungen ist in der Regel unkompliziert12, da diese erworbene Strukturstörungen nur einzelne Zähne oder Zahngruppen in einem bestimmten Entwicklungszeitfenster betreffen und nie an allen Zähnen in beiden Dentitionen vorkommen. Mit der sich anschließenden röntgenografischen Untersuchung kann die klinische Diagnose weiter untermauert werden. Die genetische Diagnostik ist aufwendig und führt mitunter nur bei einer umfangreichen Genomsequenzierung zum Erfolg10. In dem deutschen Manual der ICD-10-GM-2020 ist die AI unter der Rubrik „Hereditäre Störungen der Zahnstruktur – K00.5“ gelistet.
Da die Patienten aufgrund ihrer ästhetischen Beeinträchtigungen oder funktionellen Einschränkungen beim Kauen und Zähneputzen bereits im Kleinkindalter beim Zahnarzt vorgestellt werden, ist eine frühzeitige Diagnostik und interdisziplinär ausgerichteten Langzeitbehandlung mit dem Ziel der ästhetischen und funktionellen Rehabilitation bis in das Erwachsenenalter möglich.
Therapieoptionen
Die zahnärztliche Behandlung von Patienten mit einer AI ist aufgrund des vielfältigen Krankheitsbilds und seiner häufigen Begleitbefunde eine Herausforderung20, die zudem eine langfristige und interdisziplinäre Therapiestrategie erfordert. Unabhängig vom Alter sollte jedem AI-Patienten ein engmaschiges, präventiv ausgerichtetes Recall angeboten werden, welches neben der Gebisskontrolle regelmäßige Mundhygienekontrollen und -instruktionen, Zahnreinigung und Zahnsteinentfernung, die Beratung zu einer zahnfreundlichen Ernährungsweise sowie Fluoridapplikationen einschließen muss. Weiterhin steht bei vielen Patienten der Wunsch nach einer effektiven Reduktion der Hypersensibilität und Zahnschmerzen sowie die Verbesserung Ästhetik im Vordergrund10,19,22. Dies wird aber nur in Verbindung mit einer alters- beziehungsweise dentitionsbezogenen restaurativen Therapie erreicht werden, die die Ziele der Rekonstruktion und des Schutzes der Zahnhartsubstanz verfolgt. Darüber hinaus sichert ein solches Vorgehen gleichermaßen die Funktionsfähigkeit der Dentition (Tab. 2, vgl. Abb. 2, Abb. 4).
Tab. 2 Übersicht möglicher Therapieoptionen unter Berücksichtigung der Gebissentwicklung bei Patienten mit einer AI.
Abb. 4a Vierjähriger Patient mit einer hypoplastischen AI vor und nach der oralen Rehabilitation in Allgemeinanästhesie. Die Frontalansicht zeigt neben dem frontal bis linksseitigem offenen Biss einen ausgeprägten Kariesbefall der oberen Milchschneidezähne und einen starken Zahnsteinbefall an den unteren Schneidezähnen.
Abb. 4b und c Die Oberkiefer- und Unterkieferübersichtsaufnahme lässt den vollständigen okklusalen Schmelzverlust und beginnenden Kariesbefall an den Okklusalflächen der ersten Milchmolaren erkennen.
Abb. 4b und c Die Oberkiefer- und Unterkieferübersichtsaufnahme lässt den vollständigen okklusalen Schmelzverlust und beginnenden Kariesbefall an den Okklusalflächen der ersten Milchmolaren erkennen.
Abb. 4d Frontalansicht nach der adhäsiven Restauration der oberen Milchfront- und Eckzähne mit Komposit und Zahnsteinentfernung an den unteren Schneidezähnen.
Abb. 4e und f Die Oberkiefer- und Unterkieferübersichtsaufnahme visualisiert die Versorgung aller Milchmolaren mit konfektionierten Stahlkronen.
Abb. 4e und f Die Oberkiefer- und Unterkieferübersichtsaufnahme visualisiert die Versorgung aller Milchmolaren mit konfektionierten Stahlkronen.
Abb. 4g Inkompletter Mundschluss mit Fehllage der Zunge, die den offenen Biss ursächlich unterhalten.
Abb. 4h En-face-Ansicht des Patienten beim funktionellen Mundschlusstraining im Rahmen der kieferorthopädischen Therapie.
Abb. 4i Frontalansicht mit fast normaler Okklusion im Alter von 5 Jahren.
Seit der systematischen Cochrane-Übersicht von 20137, die in ihrem Fazit feststellte, dass aufgrund fehlender kontrollierter klinischer Studien keine Evidenz zu einer definierten Therapieform der AI verfügbar ist, fehlen bislang im aktuellen Schrifttum nach wie vor entsprechende Studien. Leider hilft dieser Ist-Zustand weder dem behandelnden Zahnarzt noch dem Betroffenen weiter, da trotz allem Lösungsansätze erforderlich sind. Um mögliche Therapieoptionen abwägen zu können, sind daher vor allem Fallberichte klinisch relevant. Daten aus kontrollierten klinischen Studien zu verschiedenen Behandlungsformen bei AI-Patienten liegen nur von der schwedischen Arbeitsgruppe um Lundgren et al.15–17 vor. Diese sollen weiterführend näher betrachtet werden.
In einer retrospektiven Querschnittsstudie zur Qualität der restaurativen Therapie ermittelten die Autoren eine signifikant kürzere Überlebensrate von Kompositfüllungen bei AI-Patienten im Vergleich zu Gesunden15. Eine Füllungserneuerung war bei mehr als 25 Prozent der AI-Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe mit 9 Prozent erforderlich, was wiederum mit häufigeren Zahnarztbesuchen der AI-Patienten verbunden war. Darüber hinaus wiesen Patienten mit einer hypomaturierten oder hypomineralisierten AI eine signifikant niedrigere Überlebensrate von Kompositfüllungen im Vergleich zu Patienten mit einer hypoplastischen AI auf. Für die grundsätzlich niedrigeren Retentionsraten dürften primär die atypischen, großflächigen und oft auch kaulasttragenden Füllungslagen verantwortlich sein. Sekundär sind aber auch Schwächen im adhäsiven Verbund zu der strukturgestörten Zahnhartsubstanz zu diskutieren9,30.
Die signifikant besseren Überlebensraten von Keramikkronen im Vergleich zu den Kompositfüllungen15 wurden in zwei nachfolgenden Studien der Autorengruppe unter-mauert17,18. Nach einer zweijährigen Beobachtungszeit wiesen 97 Prozent der Keramikkronen eine exzellente bzw. akzeptable Qualität bei 11- bis 22-jährigen AI-Patienten auf18. Endon-tische Komplikationen traten lediglich bei 3 Prozent der kronenversorgten Zähne auf. Die Langzeitbeobachtung dieser Patientengruppe über mehr als fünf Jahre zeigte eine Überlebensrate von 99,6 Prozent aller Kronen; jeweils 95 Prozent hatten eine exzellente beziehungsweise akzeptable Qualität17. Eine marginale Korrektur war bei 4 Prozent der Kronen erforderlich und bei 3 Prozent der überkronten Zähne lag eine apikale Parodontitis vor. In beiden Studien wurde mit der Kronenversorgung eine signifikante Reduktion der Sensibilitätsprobleme der Patienten beobachtet. Aufgrund dieser exzellenten Erfolgsraten favorisieren die Autoren eine frühzeitige Kronenversorgung von Jugendlichen mit einer AI.
In einer weiteren Studie zur mundbezogenen Lebensqualität von AI-Patienten ermittelte die Autoren um Lundgren eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität zwei Jahre nach erfolgter Kronentherapie im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Versorgung16. Dies unterstreicht auch eine Befragung von AI-Patienten zu ihren Erfahrungen mit der Erkrankung und der frühzeitigen Kronenversorgung19. Die befragten 16- bis 23-Jährigen fühlten sich erst nach der definitiven Behandlung mit Keramikkronen wie normale Patienten, während zuvor starke Schmerzen und Sensibilitätsprobleme der Zähne, Schamgefühle bezüglich des Aussehens sowie der Umgang mit dem mangelnden Wissen und Verständnis des zahnärztlichen Personals die dominierenden Erfahrungen waren.
Aus Sicht der eigenen klinischen Erfahrung der Autorinnen und des Autors dieses Beitrags bei der Behandlung von AI-Patienten wird – wie aus Tabelle 2 ersichtlich – ein strukturiertes Kronenkonzept unter Berücksichtigung der alters- und dentitionsbezogenen Besonderheiten favorisiert. Dies sieht die frühzeitige Versorgung der Milchmolaren mit konfektionierten Stahlkronen zur Sicherung der vertikalen Dimension vor, die aufgrund der fehlenden Compliance des kindlichen Patienten in der Regel in Allgemeinanästhesie erfolgen muss. Nach dem Durchbruch der ersten bleibenden Molaren sollte im Alter von sieben bis acht Jahren individualisiert die Entscheidung zwischen der Eingliederung einer konfektionierten Stahlkrone oder einer definitiven Krone getroffenen werden, um einem Verlust der vertikalen Dimension effektiv vorzubeugen. Während im universitären Versorgungskontext mit der Nutzung der CAD-CAM-Technologie vorrangig die definitive Kronenversorgung favorisiert wird, ist in der Zahnarztpraxis nach wie vor die Versorgung der bleibenden Molaren mit konfektionierten Stahlkronen eine praktikable Therapieoption. Im Frontzahnbereich steht im Milch- und frühen bleibenden Gebiss zunächst die direkte adhäsive Versorgung mit Kompositmaterialien im Vordergrund. Auch wenn die Komposit-restaurationen erwartungsgemäß mit einer reduzierten Überlebensrate einhergehen (vgl. Abb. 2), sichern sie dennoch als überbrückende Maßnahmen die vertikale Dimension, reduzieren sie bestehende Hypersensitivitäten bzw. Schmerzen und tragen sie zu einer deutlichen Verbesserung der Ästhetik und Lebensqualität des Patienten bei. Darüber hinaus kann im Alter von etwa neun Jahren auch eine Versorgung der bleibenden Frontzähne mit Veneers und definitiven Kronen erwogen werden. Auch hier ermöglicht der Einsatz der CAD-CAM-Technik mittlerweile eine rasche Fertigung, weshalb die Umsetzung des anspruchsvollen Workflows auch bei Kindern und Jugendlichen gelingt4. Da bei vielen AI-Patienten eine kieferorthopädische Behandlung erforderlich ist, sollte in enger Abstimmung mit dem Kieferorthopäden und unter der Voraussetzung, dass eine stabile Okklusion vorliegt, eine definitive funktionelle und ästhetische Versorgung erfolgen.
Mit dem Abschluss des skelettalen Wachstums hat im adulten bleibenden Gebiss jenseits des 20. Lebensjahres in Abhängigkeit von der bereits erfolgten Therapie mit oder ohne kieferorthopädischer Behandlung die definitive prothetische Versorgung des AI-Patienten zu erfolgen. Diese kann sowohl in einer funktionellen und ästhetischen Neuversorgung bei einer bislang nur mit temporären Therapiemitteln vorgenommenen Behandlung als auch in der Wiederholungstherapie einer früheren definitiven prothetischen Versorgung bestehen, die einer ästhetischen Optimierung bedarf.
Fazit
Die zahnärztliche Behandlung von AI-Patienten stellt für den Zahnarzt eine Herausforderung dar. Die langfristig ausgerichtete Therapiestrategie muss darauf abzielen, Hypersensitivitäten bzw. Zahnschmerzen zu reduzieren, die Ästhetik des Patienten alters- und dentitionsgerecht zu verbessern, die Dimension des fehlenden Zahnschmelzes zu kompensieren und weiteren Zahnhartsubstanzdestruktionen vorzubeugen. Die Überwachung der Gebissentwicklung sollte im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem Kieferorthopäden erfolgen, um die in der Regel erforderliche kieferorthopädische Therapie indikationsgerecht zu beginnen. Diese ist vielfach eine wichtige Voraussetzung für die spätere, definitive prothetische Versorgung nach dem Abschluss des skelettalen Wachstums. Generell ist ein empathisches Zahnarzt-Patienten-Verhältnis, das neben der physischen auch die große psychische Belastung des Patienten durch die ästhetische Beeinträchtigung im Blick hat, eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Langzeitbehandlung von AI-Patienten.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Roswitha Heinrich-Weltzien, Dr. Ina M. Schüler, beide Jena und Prof. Dr. Jan Kühnisch, München
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