Es tut sich was in Sachen elektronische Gesundheitskarte, kurz eGK: Nach mehr als zehn Jahren Entwicklungsgeschichte und mehr als 1,2 Milliarden Euro Kosten scheint ein Aus für das einstige Prestige-Projekt möglich. Nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den erreichten Stand in einem Interview mit der FAZ völlig unzureichend nannte, hat nun auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel Spahn den Weg frei gemacht, das Projekt zu kippen. Wie das Deutsche Ärzteblatt berichtet, hat sie sich auf einer Konferenz mit CDU-Kreisvorsitzenden in Berlin am Dienstag vergangener Woche entsprechend geäußert.
Kassen arbeiten an eigenen TI-Lösungen
Spahn hatte, ähnlich wie diverse Vertreter von gesetzlichen Krankenkassen in den vergangenen Monaten, die nicht mehr zeitgemäße Technologie hinter der Karte kritisiert und die Entwicklung einer digitalen Verwaltung mit einfachem Zugang für alle Bürger gefordert. Inzwischen sind Krankenkassen wie die AOK oder die TK bereits mit eigenen Projekten für die digitale Patientenakte und weitere Anwendungen der Telematik-Infrastruktur unterwegs.
Fernbehandlungsverbot ist gefallen
Ein Ende für die Telematik selbst wäre mit einem Aus für die eGK allerdings nicht verbunden – die bei Ärzten und Zahnärzten vielfach ungeliebte Anbindung an die Telematik-Infrastruktur im Gesundheitswesen steht definitiv nicht zur Disposition. Spahn und die Regierungskoalition wollen vielmehr digitale Anwendungen in der Medizin weiter vorantreiben und neue Bereiche erschließen, so Video- oder Telesprechstunden. Spahn und andere Gesundheitspolitiker begrüßten daher den nach intensiven Diskussionen mit großer Mehrheit gefassten Beschluss des Deutschen Ärztetags am 11. Mai 2018 in Erfurt, das Fernbehandlungsverbot deutlich zu lockern und neue Formen des Arzt-Patientenkontakts zu ermöglichen. Allerdings müssen hier noch die Landesärztekammer in der Umsetzung mitziehen. Spahn selbst hatte dafür bei den Ärzten in seiner Rede zur Eröffnung des Deutschen Ärztetags in Erfurt geworben. Er werde jetzt einen runden Tisch dazu einrichten. (Mehr zu den Reaktionen auf den Beschluss im Beitrag des „Deutschen Ärzteblatts“.)
Für Spahn ist eGK wohl noch gesetzt
Im Bundesgesundheitsministerium gibt es derzeit keine Pläne, die eGK zu beerdigen, wie die „Ärzte-Zeitung“ auf Anfrage erfuhr. Spahn selbst hatte sich gegenüber der ARD geäußert und die eGK in Verbindung mit dem elektronischen Rezept genannt, das dort gespeichert werden solle. Allerdings sprach der Minister auch über andere Zugangsmöglichkeiten wie Apps etc. mit etwas geringeren Sicherheitsstandards. Am weiteren Ausbau der TI ließ er zudem keinen Zweifel. In anderen Äußerungen hatte er zuvor angedeutet, bis Ende des Jahres die gesamte TI inklusive eGK neu bewerten zu wollen, auch ein neues E-Health-Gesetz ist erst nach der Sommerpause geplant.
Antrag auf Aussetzen der TI-Anbindung
Mit Mehrheit hat der Deutsche Ärztetag allerdings einen Antrag der Freien Ärzteschaft (FÄ) angenommen, die Politik aufzufordern, die TI-Anbindung zu Ende 2018 wegen technischer Probleme und ungeklärter Datenschutzfragen auszusetzen. Zudem sei die Androhung von Honorarabzügen bei Nichtanbindung zurückzuziehen. „Die technischen und organisatorischen Mängel sowie offene Datenschutzfragen sprechen eindeutig gegen eine Fortsetzung des Projekts“, sagte FÄ-Vorsitzender Wieland Dietrich. „Es ist absehbar, dass die Industrie bis Ende 2018 weder eine zuverlässige Funktionsfähigkeit gewährleisten kann, noch in der Lage ist, alle potenziellen Teilnehmer anzuschließen“, heißt es in dem Beschluss.
Konformität mit EU-DSGVO infrage gestellt
Ein weiterer, ganz wichtiger Punkt sei zudem der Datenschutz. „Wir wissen nicht, ob die jetzt konzipierte TI mit der am 25. Mai 2018 in Kraft tretenden EU-Datenschutzgrundverordnung konform ist.“ Es gebe bereits zahlreiche Anfragen von Ärzten an Datenschutzbeauftragte in Behörden und Ländern. Die Ärzte monieren weiterhin, dass die Finanzierung der Installation in den Praxen nicht gesichert ist und die Kosten inzwischen deutlich über den Erstattungsbeträgen liegen.
Haftung von Herstellern und Betreibern
Darüber hinaus hat der Ärztetag auf FÄ-Initiative beschlossen, dass die Hersteller und Betreiber der Hard- und Software für die Telematikinfrastruktur nicht nur für die Geräte haften sollen, sondern auch für Schäden in Praxen, MVZ und Kliniken aufgrund von Systemausfällen.
Zweites E-Health-Gesetz gefordert
Die Delegierten haben zudem gefordert, bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens mit einem zweiten E-Health-Gesetz nachzusteuern. Dies sei notwendig, um die Möglichkeiten der digitalen Gesundheitsversorgung möglichst zeitnah zur Verfügung zu stellen.
Keine Insellösungen bei Patientenakte
Aus Sicht der Ärzteschaft sollte das Gesetz eine Reihe von Punkten adressieren, darunter den Anspruch der GKV-Versicherten auf die diskriminierungsfreie Wahl einer elektronischen Patientenakte gegenüber seiner Krankenkasse. Der Ärztetag forderte den Gesetzgeber auf, parallele Entwicklungen von elektronischen Gesundheitsaktensystemen der Krankenkassen und damit Wildwuchs und Insellösungen zu unterbinden.
Kritik an Erprobungspraxis der Gematik
Ferner forderte der Ärztetag die Etablierung einer dauerhaften Erprobungsregion für die elektronische Gesundheitskarte durch die Gematik. Der Ärztetag kritisierte, dass die gematik derzeit nach dem sogenannten Marktmodell Anwendungen der eGK einführt.
Das bedeutet, dass jeder Anbieter eines Konnektors selbst eine Testregion auswählen und ausstatten muss, um dort sein Produkt zu testen und eine Zulassung zu erhalten. Dieses Vorgehen sei ineffizient und zeitraubend.
Begleitende ärztliche Expertise
Eine dauerhaft etablierte Testregion wäre ein geeignetes Setting, um neue Anwendungen mit neuen Komponenten schneller zu erproben. Notwendig sei auch die Sicherung der Qualität von Softwaresystemen. So solle der Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage schaffen, um Praxisverwaltungs-, Apotheken- und Krankenhausinformationssysteme einem Zertifizierungsverfahren zu unterziehen. „Die Erprobung muss durch ärztliche Expertise, zum Beispiel in Form ärztlicher Beiräte begleitet werden“, so der Ärztetag.
Anwendungen auf Kassenkosten
Um Gesundheitsapps den Markteintritt zu erleichtern, sollten die Krankenkassen dazu verpflichtet werden, chronisch Kranken ein jährliches „Digitalbudget“ einzurichten. Darüber sollen die Versicherten als Medizinprodukt zugelassene, nutzenstiftende und im Vorfeld evaluierte Anwendungen erwerben können, so die Forderung der Ärzteschaft.
Aktualisiert am 11. Mai, 14:30 Uhr, um die weiteren Beschlüsse des Deutschen Ärztetags
Aktualisiert am 14. Mai, 11:00 Uhr, um aktuelle Äußerungen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn