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Adjuvante Therapie selbst bei fortgeschrittenen Parodontopathien, um strategisch wichtige Zähne erhalten zu können


Dr. Cyrus Rafiy

Die forcierte Extrusion ist eine modifizierte kieferorthopädische Technik, die mit relativ großen Zugkräften innerhalb von kurzer Zeit arbeitet. An den betroffenen Zähnen werden Retentionen angebracht. Im Rahmen der nur wenige Tage dauernden Prozedur lassen sich die Zähne mit Hilfe von Gummizügen auf die gewünschte Länge herausziehen. Während der 2- bis 3-monatigen Retentionsphase werden die Zähne an den Nachbarzähnen fixiert, und danach erfolgt die endgültige prothetische Versorgung. Dr. Cyrus Rafiy beschreibt in seinem  Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 11/18 am Beispiel von zwei Patientinnen mit parodontalen Problemen in der ästhetischen Zone die therapeutischen Möglichkeiten der forcierten Extrusion. Bei der ersten Patientin lag eine Verletzung der biologischen Breite der Oberkieferfront nach prothetischer Versorgung und bei der zweiten ein massiver Knochenabbau mit einer Auffächerung der mittleren sowie seitlichen Frontzähne vor. Beide Fälle stellten eine ästhetische Herausforderung dar. Die forcierte Extrusion als adjuvante Therapie bei fortgeschrittenen Parodontopathien eröffnet neue Möglichkeiten, auch tief zerstörte oder bis subkrestal frakturierte Zähne zu behandeln und langfristig zu erhalten.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.


Der Erfolg einer ästhetischen Zahnbehandlung hängt maßgeblich vom Erscheinungsbild der Gingiva ab. Die nachhaltige Wiederherstellung der roten Ästhetik ist für das Behandlungsteam immer noch eine große Herausforderung. In der Vergangenheit war vor allem die Verletzung der biologischen Breite nach prothetischer Versorgung ein gängiges Problem. Es galt, den unschönen Metallrand der Metallkeramikkrone zu kaschieren. Die aus Unwissenheit verursachte Verletzung der biologischen Breite zeigte sich dann nach Monaten oder Jahren. Therapeutisch ist es erforderlich, den individuellen Abstand des dentogingivalen Komplexes (klinisch 2 bis 3 mm)2 zwischen Restauration und Alveolarkamm wiederherzustellen. Dies geschieht üblicherweise durch eine chirurgische Kronenverlängerung. Mit der forcierten Extrusion und der normalen Extrusion mit schonenden Kräften sind Behandlungsalternativen der nicht chirurgischen Kronenverlängerung verfügbar, die gerade im Frontzahnbereich ästhetische Vorteile mit sich bringen.


Tab. 1 Vor- und Nachteile der forcierten Extrusion im Vergleich zur Extrusion mit Magneten und moderaten Kräften.

Die forcierte Extrusion nach Neumeyer, auch TMC („tissue management concept“) genannt6, erfolgt mit sehr hohen Zugkräften von bis zu 850 cN5. Im Gegensatz dazu werden für die kieferorthopädische Extrusion mit Magneten 13 cN bei 1 mm Abstand und 30 cN bei 0,5 mm Abstand zwischen den Magneten aufgewendet4. Die forcierte Extrusion dauert drei bis zehn Tage, während die orthodontische Extrusion mit Magneten ca. vier Wochen in Anspruch nimmt4. Bei gleicher Indikation fällt die Retentionszeit in beiden Fällen mit etwa acht bis 12 Wochen ähnlich aus4 (Tab. 1).

Die Prognose tiefer intraossärer Defekte gilt bei Zähnen mit einem Knochenverlust von mehr als 75 Prozent und einer Sondierungstiefe von mehr als 8 mm als hoffnungslos1. Nach der Entscheidung, den betroffenen Zahn zu erhalten, ist der nächste Schritt die Festlegung einer chirurgischen Therapie. Zur Auswahl stehen die offene Kürettage und die regenerative Therapie (gesteuerte Knochen-/Geweberegeneration). In der ästhetischen Zone sind resektive Maßnahmen zur Reduktion der Taschentiefen nicht empfehlenswert. Extrem freiliegende Zahnhälse werden vom Patienten selten toleriert. Die gesteuerte Geweberegeneration erfordert positive Defektmerkmale8. Hier bietet die forcierte Extrusion alleine oder in Kombination mit regenerativen Maßnahmen eine zusätzliche Behandlungsalternative. In dem zweiten hier vorgestellten Fall kam es zu einer deutlichen Reduktion der Sondierungstiefen und einem Gewinn an Attachment, der auch über Jahre stabil geblieben ist.

Vorgehensweise

Spezielle Extrusionshanteln, die adhäsiv an den bereits gekürzten oder präparierten Zähnen befestigt werden, ziehen mit Hilfe von kieferorthopädischem Spanngummi den Zahn innerhalb von einigen Tagen aus der Alveole. Im Gegensatz zur konventionellen Orthodontie, bei welcher der Zahn über einen längeren Zeitraum mit relativ geringen Kräften bewegt wird, entstehen bei der forcierten Extrusion recht beachtliche Kräfte, denn es werden Zugkräfte von bis zu 850 cN erreicht5.

Orthodontische Maßnahmen an parodontal vorgeschädigten Zähnen dürfen nur erfolgen, wenn diese entzündungsfrei sind. Einer kieferorthopädischen Therapie sollte stets eine antiinfektiöse parodontale Behandlung vorausgegangen sein. Bei erfolgreicher Parodontalbehandlung kommt es zu einem Neugewinn an Attachment7.

In der Praxis des Autors bestehen für die forcierte Extrusion folgende Behandlungsindikationen:

  • parodontal geschädigte Frontzähne mit Fehlstellung,
  • tief frakturierte Frontzähne vor prothetischer Versorgung mit Stift und Krone zur Wiedererlangung des Fassreifeneffekts („ferrule effect“),
  • schonende Extraktion von Frontzähnen, um insbesondere vor Implantationen ein Maximum an Knochen zu bewahren, wobei die bukkale Knochenlamelle eventuell erhalten bleiben kann,
  • vor prothetischer Versorgung von Frontzähnen, bei denen es zu einer Verletzung der biologischen Breite gekommen ist.

Fallpräsentation

Fall 1

Eine damals 37-jährige Patientin äußerte erstmals im Februar 2013 den Wunsch nach einer prothetischen Neuversorgung der Front. Bereits einige Jahre zuvor waren die mittleren Schneidezähne im Ausland mit Kronen versorgt worden. Die Gingiva in diesem Bereich wies eine ödematöse Schwellung auf und blutete stark bei Sondierung. Ins Auge fiel auch der unregelmäßige Zahnfleischverlauf (Abb. 1). Die seitlichen Inzisivi waren mit ausgedehnten Füllungen versorgt worden.

Nach Entfernung der alten Kronen zeigte sich bei der Sondierung eindeutig eine Verletzung der biologischen Breite (Abb. 2). In der Vorbereitungsphase wurden zunächst die alten Wurzelkanalfüllungen revidiert und anschließend die mittleren Inzisivi mit Glasfaserstiften versorgt. An den Zähnen 12 und 22 erfolgte ebenfalls eine Kronenpräparation. Alle vier Frontzähne wurden mit verblockten Provisorien versorgt. Die Patientin erhielt eine Einweisung in die häusliche Mundhygiene und durchlief eine Hygienephase mit professioneller Zahnreinigung. Etwa 1 Monat später war eine merkliche Verbesserung der gingivalen Verhältnisse zu beobachten (Abb. 3).

Für die Extrusion wurden die präparierten Stümpfe 11 und 21 deutlich gekürzt, um ausreichend Platz zu schaffen. Zur Aufnahme der Extrusionsstifte wurde in bukkolingualer Richtung eine Rille in die Zähne gefräst. Anschließend erfolgte die adhäsive Befestigung der Stifte auf den Zähnen. Das verblockte Frontzahnprovisorium wurde in Regio 11 und 21 so weit reduziert, dass genügend Platz für die Extrusion entstand. Mit Hilfe der Spanngummis konnte innerhalb weniger Tage die forcierte Extrusion stattfinden (Abb. 4). Die nicht chirurgische Kronenverlängerung war so nach sehr kurzer Zeit abgeschlossen.

Nun galt es, die extrudierten Zähne für zwei Monate in dieser Stellung zu fixieren. Nach Einzementierung des vorhandenen Praxisprovisoriums an den Zähnen 12 und 22 wurden die Stümpfe in Regio 11 und 21 adhäsiv mit Komposit am Provisorium befestigt. Im Anschluss an die Retentionsphase erfolgten die Abformung und die definitive Versorgung der Zähne 12 bis 22. Die Papille zwischen den Zähnen 11 und 21 hatte sich sehr stark zurückgezogen (Abb. 5), aber hier kam es entsprechend der Tarnow-Regel zu einer Regeneration9. Dreieinhalb Jahre später war die parodontale Situation immer noch stabil, obgleich die Kronen nicht verblockt oder mittels Retainer fixiert worden sind. In der Zwischenzeit wurde kein Rezidiv beobachtet. Die Patientin nimmt alle vier Monate ihren Recalltermin wahr (Abb. 6 bis 8).

Fall 2

Eine damals 42-jährige Patientin stellte sich erstmals im Juli 2013 in der Praxis des Autors vor. Bei ihr bestand eine typische dentale Dysgnathie im parodontal erkrankten Gebiss. Die parodontale Destruktion hatte eine labiale Kippung der Frontzähne mit einer Auffächerung verursacht (Abb. 9).

Nach monatelanger Initialbehandlung erfolgte im November 2013 die regenerative Parodontaltherapie in Verbindung mit Schmelzmatrixproteinen ­(Emdogain, Straumann). Die insuffizienten Wurzelkanalfüllungen an den Zähnen 12 und 22 wurden revidiert. Um eine Stellungskorrektur und einen vertikalen Zugewinn alveolärer Strukturen bei gleichzeitiger Reduktion der Sondierungstiefen zu erzielen, kam die forcierte Extrusion zum Einsatz. Die Zähne 12 und 22 wurden bis auf Gingivaniveau gekürzt. Nach adhäsiver Befestigung der horizontalen Extrusionshanteln (Komet Dental, Brasseler) wurden zwei glasfaserverstärkte Kompositstege (Komet Dental) jeweils zwischen den Zähnen 11 und 13 sowie 21 und 23 an der am weitesten koronal gelegenen bukkalen Fläche adhäsiv fixiert. Mit Hilfe der Extrusionsgummis erfolgte ein forcierter Zug auf die Zähne 12 und 22 (Abb. 10). Die Zuggummis wurden täglich gewechselt. Bereits nach wenigen Tagen war die angestrebte Position erreicht (Abb. 11). Auf eine Fibrotomie wurde bewusst verzichtet. Anschließend wurde der verbliebene minimale Spalt zwischen den extrudierten Zähnen 12 und 22 sowie dem Steg mit Komposit aufgefüllt, um die Zähne in der Position zu fixieren.

Nach einer Retentionsphase von zwei Monaten erfolgte die Kronenpräparation der beiden mittleren Inzisivi (Abb. 12). Um auch die Taschentiefen an den mittleren Schneidezähnen zu reduzieren, fiel der Entschluss, die beiden mittleren Inzisivi ebenfalls zu extrudieren. Dazu wurde jeweils approximal der Zähne 11 und 21 in bukkolingualer Richtung ein glasfaserverstärkter Kompositsteg fixiert. Im Bereich der beiden Zähne erfolgte eine starke Reduzierung des Brückenprovisoriums, so dass hier eine ausreichende vertikale Wegstrecke für die Extrusion mit Hilfe der Gummiringe zur Verfügung stand. Die Zuggummis wurden über die Brücke gespannt (Abb. 13). Nach fünfmaligem Wechsel der Gummis waren die Zähne bereits 2 bis 3 mm extrudiert (Abb. 14 und 15). Für die erneute Retentionsphase wurden neue Provisorien angefertigt (Abb. 16).

Im April 2014, fünf Monate nach Beginn der Extrusion, erfolgte die endgültige Abformung für die definitiven Kronen. Der Zahntechniker hatte bereits ein Wax-up angefertigt, mit dessen Hilfe auch die Provisorien erstellt wurden (Abb. 17 bis 19). Die ­Sondierungstiefen zeigten eine deutliche Reduktion (Abb. 20 bis 22). Obgleich die Kronen untereinander nicht verblockt wurden, kam es zwischenzeitlich nicht zu einer starken Bewegung der Zähne. Auf einen Retainer wurde ebenfalls verzichtet. Engmaschige Kontrollen der Mundhygiene und Instruktionen in häuslicher Mundhygiene halfen der Patientin dabei, über einen Zeitraum von vier Jahren stabile parodontale Verhältnisse zu bewahren (Abb. 23).

Diskussion

Die forcierte Extrusion hat bereits ein breites Indikationsspektrum. Um Rezidive zu vermeiden, ist eine ausreichend lange Retentionsphase erforderlich. In der Praxis des Autors war die Rezidivrate sehr niedrig und nur an Zähnen mit geringem Knochenabbau feststellbar. Bei der Wiederherstellung der biologischen Breite weist die nichtchirurgische Kronenverlängerung gerade beim dünnen Gingivatyp große Vorteile gegenüber der chirurgischen Kronenverlängerung auf. Insbesondere die Gefahr einer Rezessionsbildung ist deutlich verringert. Die forcierte Extrusion als adjuvante Therapie bei fortgeschrittenen Parodontopathien eröffnet neue Möglichkeiten, nicht erhaltungswürdige Zähne zu behandeln und eventuell langfristig zu erhalten.

Die normale, schonende kieferorhopädische Extrusion ist eine bewährte Behandlungsalternative. Der Einsatz von Magneten zur Extrusion erlaubt im Vergleich zu einer Multibandapparatur eine günstigere Ästhetik3. Das Vorgehen hat jedoch gegenüber der forcierten Extrusion folgende Nachteile: eine verlängerte Extrusionszeit von vier Wochen statt drei bis zehn Tage und das notwendige mehrmalige Umsetzen des zweiten Extrusionsmagneten bis zum Erreichen der gewünschten Extrusionshöhe3. Als Vorteil ist die geringere Gefahr einer ungewollten Extraktion und von externen Wurzelresorptionen anzuführen (Tab. 1).

Bei Zähnen, die parodontal bedingte Fehlstellungen aufweisen und anschließend überkront werden sollen, wird vorab ein Wax-up erstellt. Dieses ermöglicht sowohl dem Behandler als auch dem Patienten eine Beurteilung des angestrebten Restaurationsziels. Das Wax-up wird dubliert und in Gips ausgegossen. Die Tiefziehschiene des dublierten Wax-up-Modells kommt sowohl für die Anfertigung der Provisorien als auch für die Überprüfung der Ästhetik und Funktion zum Einsatz, da das Provisorium das endgültige Resultat erkennen lässt. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Zähne, die extrudiert werden sollen, in die richtige Richtung gezogen werden und sich anschließend dort fixieren lassen. Die Retentionsphase beträgt wie bei der normalen Extrusion acht bis 12 Wochen4,6. Natürlich wurde bei der Therapie der Frontzähne auch besonderes Augenmerk auf die funktionellen Aspekte gelegt.

Anmerkung

Die zahntechnische Arbeit wurde von ZTMThilo Vock, oral design Stuttgart, durchgeführt.

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de


Ein Beitrag von Dr. med. dent. Cyrus Rafiy, Ingolstadt

Reference: Quintessenz Zahnmedizin, Ausgabe 11/18 Chirurgie Kieferorthopädie Parodontologie

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