Grundsätzlich wurde das von der Bundesregierung eingesetzte Expertengremium zur wissenschaftlichen Begleitung der Covid-19-Pandemie, welches seit langem insbesondere von wissenschaftlichen Organisationen gefordert wurde, in der Öffentlichkeit begrüßt. Nach den ersten Erklärungen einzelner Mitglieder scheint jedoch die Aufgabenstellung dieses Gremiums noch nicht klar definiert.
Als erster des Expertenrates äußerte sich Stefan Sternberg, Landrat im Landkreis Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, am 20. Dezember 2021 erstmalig im ARD [1]. Er forderte dabei als einstimmiges Ergebnis des Expertenrats die rasche Kontaktbeschränkung, um insbesondere die kritische Infrastruktur zu schützen. Auch sehe er sich nicht als Wissenschaftler, sondern als Vertreter der Kommunen, teilte Sternberg mit. Wie sein Rat in der am nächsten Tag stattfindenden Länderrunde aufgenommen wurde, ist bekannt.
Im Ergebnis scheint es sich also bei dem Expertengremium nicht ausschließlich um einen wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung, sondern eher um ein Gremium zu handeln, welches die operativen Umsetzungsprozesse von praktischen Entscheidungen im Blick hat. Neben dieser Erkenntnis ist gleichzeitig auffällig, dass es nun für die Öffentlichkeit eine weitere Expertenstimme in der der medialen Vielstimmigkeit gibt, die im Vorfeld von politischen Entscheidungen ihren Ratschlag abgibt [2]. Es darf bezweifelt werden, ob dies sinnvoll und förderlich für das Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse ist.
Die Psychologie fordert eine effektive Kommunikation und transparente Entscheidungen [3] zur Herstellung von Vertrauen. Welche Rolle der Expertenrat dabei weiterhin einnehmen wird, muss die Zukunft zeigen. Echte Krisenkommunikation sieht deutlich anders aus.
Nach wie vor fehlt es an soliden Kerndaten
In unserem Staatswesen ist klar festgelegt, dass die Politik letztlich über Gesetze und Verordnungen die Entscheidungen trifft. Sie allein übernimmt die Verantwortung, hat aber auch gleichzeitig die Verpflichtung, Expertenwissen einzubeziehen. Aber muss dies in der breiten Öffentlichkeit geschehen?
Ein weiteres Thema – die evidenz-basierte Pandemiebewältigung – harrt jedoch auch nach der Benennung des wissenschaftlichen Expertengremiums der Bundesregierung der Umsetzung. Nach wie vor fehlt es dafür an soliden Kerndaten zum Infektionsgeschehen. Selbst das BMG spricht von unklaren Corona-Zahlen – dies nur in Bezug zu den Inzidenzen. Und bei unklaren Daten zu der Anzahl und Zuverlässigkeit von Testungen.
Dies gilt auch und gerade für epidemiologische Kerngrößen wie Prävalenz und Inzidenz, um sowohl die erfasste (Meldeämter) als auch die in der Population insgesamt zirkulierende (latente) Infektionsmorbidität nach dem tatsächlichen Verbreitungsgrad zu einem definierten Zeitpunkt beziehungsweise nach der tatsächlichen Dynamik in einem definierten Zeitraum präzise abbilden zu können. Seit Monaten verfolgen wir täglich nicht anderes.
Kohortenstudien zwingend notwendig
Bereits Ende August beziehungsweise Anfang September 2021 wiesen der Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Prof. Jürgen Windeler, als auch Prof. Gerd Antes, einer der Pioniere der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, darauf hin, dass empirische Erkenntnisse in Form von großen Kohortenstudien zur Ermittlung epidemiologischer Erkenntnisse über die Sars-CoV-2-Virus-Pandemie zwingend notwendig seien.[3,4] Dabei liegen in Deutschland mit der Nationalen Kohorte (NAKO) entsprechende Instrumente vor, die in einem Längsschnitt unter Einbezug soziodemographischer Daten zahlreiche Erkenntnisse zum zeitlichen Verlauf der Sars-CoV-2-Infektionen ermitteln kann. Schließlich ist unsere Gesellschaft keine große Petrischale, die vornehmlich durch Virologen und mathematische Modellierer für eine morbiditätsbezogene Verbreitung des Virus genutzt werden kann, sondern sie ist ein komplexes Gebilde aus zahlreichen wechselseitigen Wirkungszusammenhängen, die gerade bei einer infektiösen Kontaktübertragung eine zentrale Rolle spielen.
Vorausschauende und aktive Infektionspolitik
Solche Studien bieten die Möglichkeit, über definierte Zeitintervalle mögliche soziale Infektionsquellen, wie die Familie, den Arbeitsplatz, Freizeitbereiche, Schulen etc. zu beobachten und daraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Nur wenn man sich den Wirkzusammenhängen einer Gesellschaft bewusst ist und ein naturalistisches Gesellschaftsdesign in entsprechenden Studien abbildet, hat man die Chance auf evidenzbasierter Grundlage Erkenntnisse zu generieren, die eine vorausschauende und aktive Infektionspolitik ermöglichen. Auch Chancen für eine zielgerichtete Prävention liegen damit auf der Hand.
Fast zwei Jahre leben wir in einer Pandemie mit all ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Ethikrat, Leopoldina, RKI und Expertengremium äußern sich, ohne jedoch auf die echten Wissenslücken hinzuweisen. Wir sind auf dem besten Weg, in der Pandemiebewältigung in Deutschland dem kommunikativen auch ein wissenschaftliches Desaster hinzuzufügen.
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Reuterstadt Stavenhagen
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich (Jahrgang 1956) studierte Zahnmedizin in Rostock und war von 1981 bis 1990 in der Poliklinik für Stomatologie des Kreiskrankenhauses Malchin tätig. Nach der Wiedervereinigung ließ er sich am 1. Februar 1991 in eigener Praxis in Stavenhagen nieder, in der er bis heute als Zahnarzt tätig ist. Schon seit dem 29. April 1990 bis zum Oktober 2021 war er Präsident der neu gegründeten Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, seit November 2000 bis Juni 2021 auch Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer.
Oesterreich befasste und befasst sich intensiv mit soziologischen und gesundheitspolitischen Fragestellungen und Themen der Prävention und Gesundheitskommunikation, unter anderem im Vorstand der Initiative proDente, aber auch wissenschaftlich. Im September 2011 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Greifswald ernannt. Kontakt zum Autor per E-Mail an dr.dietmar.oesterreich@t-online.de.
Literatur
[1] Interview in ARD-Tagesthemen, 20. Dezember 2021
[2] Die Pandemie – ein kommunikatives und präventives Desaster, Quintessence News 6. Dezember 2021
[3] Die Psychologie der Pandemiebekämpfung. Häuser J.A., Gollwitzer M. , Süddeutsche Zeitung 27. Dezember 2021
[4] IQWiG-Chef Windeler: Evidenz kommt in Corona-Politik zu kurz. Ärztezeitung, 30. August 2021
[5] Datenchaos in der Pandemie. Interview Gerd Antes in Cicero, 3. September 2021