Können Sie sich Karl Lauterbach als Abrissbirne vorstellen? Also mir fällt diese Vorstellung ausgesprochen schwer. Irgendwie fehlt da räumliche Präsenz. Aber als jemand, der das Prinzip „divide et impera“ beherrscht schon. Und auch als jemand, der empathielos wie rücksichtslos seine Ziele verfolgt. Und dies trotz gegenteiligem Wortgeklingel auch gegen die Patienten und deren Bedürfnisse, Stichwort wohnortnahe Versorgung.
Des Ministers Vorstellungen von der Gesundheitsversorgung der Zukunft kreisen im Kern um eine mit dem Argument „mehr Qualität“ standardisierte und „durch“digitalisierte Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie – die sich wesentlich in den von ihm favorisierten, nach industriellen Maßstäben organisierten Großstrukturen abspielen würde. Was im Ergebnis auch nichts anderes wäre als der Abriss derzeit bestehender und trotz aller Kritik noch funktionierender Versorgungstrukturen. In einem solchen Szenario könnten zum Beispiel die Lauterbachschen Gesundheitskioske tatsächlich wie eine vorausschauende Entscheidung aussehen.
Die zu wenig beachtete Agenda 2030
Es macht durchaus Sinn, wenn man das politische Handeln Karl Lauterbachs in den Kontext der bereits 2016 verabschiedeten Agenda 2030 der UNO stellt. Letztere ist nun keine Verschwörungstheorie, sondern offizieller und gesetzlich legitimierter Teil bundesdeutscher Regierungspolitik. Im Übrigen parteiübergreifend! Der offizielle deutsche Titel der Agenda 2030 lautet „Transformation unserer Welt: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“. Näheres findet sich hier. Und Gesundheit steht bei den zu erreichenden Zielen ganz weit oben – Feld Nummer 3.
Warum ich das schreibe? Um daran zu erinnern, dass Politik kurz- und langfristige Ziele verfolgt und es immer(!) zwei Ebenen und deren Perspektiven zu beachten gilt. Also die Aktivitäten vor dem Vorhang und die dahinter. Vieles von dem, was wir derzeit als Axt an der Wurzel der ambulanten Gesundheitsversorgung erleben und erleiden, können bereits transformative Prozesse mit eingangs genannter Perspektive sein.
Demokratie und Willensbildung?
Über die Frage, warum über die Ziele und deren notwendige transformative Prozesse – also die „Schmerzen“ – im Hier und Jetzt so wenig öffentlich geredet und die Bürger im besten Fall „mitgenommen“ werden, kann man trefflich spekulieren. Vielleicht weil diese das alles gar nicht wollen würden? Wie sagte der stellvertretende KBV Vorstandsvorsitzende Dr. Stephan Hofmeister anlässlich des KBV-Protesttags vergangenen Freitag in Berlin (resignativ) treffend: „So lange die Bürgerinnen und Bürger nicht betroffen sind, kommt das bei der Politik nicht an.“
Da kann man nur noch rufen: Ja dann sagt es den Patienten doch endlich klar und deutlich und macht die Konsequenzen erlebbar! Zum Beispiel, in dem man Leistungen, die nicht bezahlt werden, konsequent nicht mehr erbringt. Stattdessen erbringt man unlimitierte Leistung für weniger Geld. Und längere Praxisöffnungszeiten etc. pp. So etwas gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal. Und deshalb versteht das auch kein Mensch – außer der Mensch spürt es.
„Alles easy“: Cannabisgesetz gerade noch rechtzeitig
Aber sage keiner, dass der Gesundheitsökonom nicht vorausdenken würde. Die alsbald „freie“, zumindest aber weitestgehend entkriminalisierte Anwendung von Cannabis wird das BMG-Theater zumindest etwas erträglicher machen. Da bekommt der Name Medizinal Cannabis eine ganz neue Bedeutung. Das wird dann die Zeit für neue Freundschaften.
Viele Praxen stehen vor dem Kollaps
Dumm nur, dass das Gesetz noch nicht verabschiedet ist. Und damit zurück zu den Folgen der Umbauarbeiten des Ministers für das gesamte ambulante System. Dazu reichen zwei Worte: Praxenkollaps droht. Und zwar finanziell und psychisch.
Hier die Liste der Schande für die Ärzte (aber ähnlich für die Zahnärzte): Auszahlungsquote im Vergleich zur Leistung im zweiten Quartal und je nach KV zwischen 75 Prozent und 80 Prozent, keine auskömmliche Honorarsteigerungen im Vergleich zu den Kostenanstiegen, stattdessen Streichen von Gebührenziffern (gegen das Versprechen des Ministers), digitale Anwendungen, die immer aufwendiger und teurer werden, aber ohne realen Praxisnutzen sind, Zusatzaufgaben wie die Befüllung der ePA ohne Honorar, immer mehr Bürokratie, Mangel an qualifiziertem Praxispersonal etc. Neuniederlassungen? Sporadisch, wer will sich so ein Umfeld schon antun. Und eine riesige Anzahl an vor allem Praxisinhabern im Alter jenseits der 60.
Die Zündschnur ist mittlerweile gefährlich kurz
All dies ist seit Jahren bekannt und wurde seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) lamentohaft mit mehr oder minder Verve immer wieder vorgetragen. Substanziell geändert hat sich für die Vertragsärzte jedoch nichts. Doch mittlerweile ist die Zündschnur bei zu vielen Vertragsärzten so weit abgebrannt, dass sich sogar die sich stets staatstragend gebende KBV zu einem nationalen Protesttag „gezwungen“ sah. Der Druck von oben, vor allem aber von unten seitens der Vertragsärzteschaft ist deshalb aber nicht weg.
Und nun soll der freitägliche Protesttag der Ärzteschaft helfen, die nachweislich immer schlechter werden Umsatzbedingungen(!) der Praxen wieder zu verbessern. Und weil wir ja bei einem Krisengipfel sind, wurde auch gleich ein Ultimatum beschlossen: Sieben Forderungen, Antworten von der Politik innerhalb von vier Wochen. Gut gebrüllt, Löwen.
Und dann? Die entscheidende Frage– leider hat sie schon einen langen Bart – ist und bleibt: Was wird die Konsequenz der niedergelassenen Ärzteschaft nach all den Reden sein, wenn die Kassenseite mit Unterstützung des Ministers bei ihrem Angebot von 2,1 Prozent Steigerung des sogenannte Orientierungspunktwerte (OPW) plus vielleicht ein Prozentpünktchen bleibt und die Forderung nach einer 10,2-prozentigen OPW-Erhöhung ignoriert?
Streik? „Nennt es, wie Ihr wollt …“
Die erste verhandlungstechnische Herausforderung: Die 10,2-Prozent-Forderung beinhaltet angesichts der realen Kostensteigerungen samt Inflation bereits einen erheblichen und wohlgemerkt bereits freiwillig den Kassen gewährten Rabatt. Vor der Verhandlung! Das verstehe wer will. Ob so legendäre – bezogen auf erreichte 11 Prozent Lohnerhöhung – Gewerkschaftsführer wie Heinz Kluncker, damals ÖTV, oder Claus Weselsky von der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) mit so einer Bettvorleger-Vorlage in Verhandlungen eingestiegen wären, sei an dieser Stelle dahingestellt. Fakt ist, Kluncker wie auch Weselsky sind auch nicht vor maximaler öffentlicher Unbeliebtheit zurückgeschreckt, um die Forderungen für ihre Mitglieder durchzusetzen.
Ob sich die KBV-Führung der potenziellen Folgen ihrer Forderung bewusst ist? Und da komme jetzt keiner mit dem Totschlagargument, das Streik für Selbständige, vulgo (Klein-)Unternehmer, und dem KV-System Angehörende nicht möglich sei. Wenn die Freiberuflichkeit derart stranguliert wird, ist Streik geradezu Notwehr und sehr wohl möglich. Aber: Dieser nennt und zeigt sich anders als das, was herkömmlich als Streik verstanden wird. Insoweit sollte „man“ die vier Wochen des Ultimatums gut nutzen.
Eine Möhrchen namens Entbudgetierung
Damit das nicht passiert, baut Minister Lauterbach ganz im Sinne von „divide et impera“ bereits vor und hängt seine Möhrchen namens Entbudgetierung den diversen Berufsverbänden vor die Nase, um die potenzielle Front schon im Vorfeld zu spalten. Hausärzte gegen Fachärzte, Fachärzte gegen Fachärzte ging schon immer – und geht (leider) immer noch. Auch wenn man es nicht glauben mag, aber kurz vor dem Krisengipfel meldete sich der Vorsitzende des Hausärzteverband Berlin und Brandenburg, Dr. Wolfgang Kreischer, laut Ärztenachrichtendienst (aend.de) mit folgender Ansage zu Wort: „Wir wollen nicht, dass uns die KBV bei der geplanten Entbudgetierung der Hausärzte dazwischenfunkt“. – Jo Karl, funktioniert. Kollegen gegen Kollegen. Ist das nur unkollegial oder ob des naiven Egoismusses schlichtweg däm…? Wie wirkt denn eine Entbudgetierung, wenn die Gesamtvergütung nicht steigt? Herr, wirf Hirn vom Himmel …
Ministerium mit Kassen-Schlagseite
Lauterbach wird es nicht jucken, sondern freuen. Die Krankenkassen meint er eh im sinnbildlichen Sack zu haben, sitzen doch deren ehemalige Mitarbeiter sogar als Experten auf den Beamtenstühlen in seinem Ministerium. In einem anderen Ministerium dieser Koalition bezeichnete man eine solche Konstellation als das, was sie ist: Ministerielle, vom Steuerbürger bezahlte Lobbyisten, die zu Lasten des Bürgers agieren.
Doch die Kohabitation zwischen Lauterbach und Kassen geht sogar noch einen deutlichen Schritt weiter. Im Vorfeld des Krisengipfels übermittelte sein Pressesprecher an die Redaktionen der Presse, Funk und Fernsehen und einzelne Journalisten ein bereits in der Schublade befindliches Faktenblatt zu der Vergütungssituation der Vertragsärzte, welches im Wesentlichen auf ausgewählten, gerne auch veralteten Zahlen der Gesetzlichen Krankenversicherung und des Statistischen Bundesamts beruhte. Die entscheidenden Vergleichszahlen – Corona, Inflation, massive Preissteigerungen, steigende Fallzahlen – ließ man sinnigerweise gleich weg.
Spiel mit den Zahlen
Ein ähnliches Spiel hatte man zwei Monate zuvor bei den Protesten der Apotheken durchgezogen. Aber warum soll bei den Vertragsärzten nicht auch möglich sein, was bei den Apothekern so gut funktionierte? Dumm nur, dass das Papier im Wesentlichen von den Kassen kam. Den Kassen, die gleichzeitig auch Tarifpartner der KBV sind. Das Ministerium griff somit vorsätzlich und gegen jede Regel in die Tarifautonomie ein und ein Tarifpartner liefert das benötigte Material. Da wird der offene Protestbrief einiger Ärzteverbände an den Bundeskanzler aber viel bringen … na eher nicht.
Die Karten liegen bereits auf dem Tisch
Kurz vor dem Krisengipfel hatte der Präsident der Bundesärztekammer den Bundesgesundheitsminister aufgefordert, dass jetzt endlich die Karten auf den Tisch gehören. Genau das hat Lauterbach mit seiner Aktion getan, diese auf den Tisch der Ärzteschaft (und indirekt damit auch auf den der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung) gelegt und eine klare Antwort gegeben. Die mehr als deutliche Botschaft lautet: „Das Ende Eurer Fahnenstange ist erreicht.“
Ob der Minister das wird durchsetzen können, bleibt zu beweisen.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.