Seit die seit Jahren – um nicht zu sagen Jahrzehnten – übliche und eher stupide, dafür aber perfide Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen auf massive Kostensteigerungen, Personalmangel und Inflation trifft, steigt für die Politik und deren mehr oder weniger sinnvolle Reformvorschläge langsam, aber sicher der Gegendruck im System. Ganz aktuell ist es die Zahnärzteschaft, die sich mit der Kampagne „Zähne zeigen“ klar und deutlich gegen eine so genannte Gesundheitspolitik positioniert, die wider besseres Wissen finanzielle Mittel der Patientenversorgung entzieht.
Fake-News aus dem BMG
Wie die Politik und insbesondere der Bundesgesundheitsminister Karl „Allwissend“ Lauterbach mit einer solchen Situation umgehen, erleben gerade die Apotheker. Mit einem „Faktenblatt“ versuchte das Bundesgesundheitsministerium die Forderungen der Apotheker im Vorfeld zu kontern, um argumentative Lufthoheit zu behalten. Nun ist ein Faktenblatt keine wissenschaftliche Arbeit, aber die in die Öffentlichkeit getragenen Fakten sollten schon stimmen und nicht nur den politischen Spin vermeintlich stützen. Sie ahnen es: Das taten sie nicht. Dazu am Ende diese Kolumne mehr.
Hauptsache, den medial gewogenen Luftraum beherrschen
Mit solchen Mätzchen lässt sich zwar der medial gewogene Meinungsluftraum beherrschen – auch dort verstehen 99 Prozent aller Schreibenden nicht den Unterschied zwischen angestellt und selbstständig und demzufolge nicht zwischen Praxisgewinn und Einkommen – aber eben nicht die politisch problematische Beziehung zwischen Einnahmen und Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und auch der Privaten Krankenversicherung PKV (die politisch blockierten Gebührenordnungen GOÄ und GOZ lassen grüßen). Es rächt sich jetzt massiv, dass von Strukturrefomen zwar immer geredet, diese aber nie wirklich angegangen wurden. Wie auch, wenn die finanziellen Mittel begrenzt sind, aber das unbegrenzte Leistungsversprechen für 74 Millionen GKV-Versicherte und damit potenzielle Wähler permanent erneuert wurde. Das Ganze dann noch eingehegt durch ein Sozialgesetzbuch (SGB) V, welches mittlerweile den Umfang der guten alten Brockhaus-Enzyklopädie hat.
Politisch kompromittiertes System
Beispiele gibt es ohne Ende, aber selbst an so transparenten Bereichen wie dem ambulanten oder stationären Sektor wird politisch herumgedoktert, als ob jeden Tag Neuland betreten würde. Der in früheren Zeiten übliche Spruch „Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis“ änderte sich in den Schlachtruf „mehr Digitalisierung“. Selbst heute noch, nach Jahren des Scheiterns beziehungsweise Nicht-Erreichens der politisch gesetzten Ziele der Telematik, scheinen die maßgeblichen Gesundheitspolitiker immer noch ernsthaft zu glauben, dass mit dem Ruf nach mehr Digitalisierung die Kostenprobleme des Gesundheitswesens in den Griff zu bekommen seien. Als ob mehr Digitalisierung in einem politisch kompromittierten System eine Strukturreform ersetzen könnte.
Mit Digital lässt sich viel Geld verdienen
Milliarden wurden für die Digitalisierung aus dem Topf der GKV, mithin also auf dem finanziellen Rücken der Beitragszahlenden investiert, aber nur Minorziele erreicht. Ein „weiter so“ kann man nur noch als anhaltende Mittelverschwendung bezeichnen und ist für sich betrachtet ein Megaskandal. Dass die von den Kassen bewilligten Finanzpauschalen für die an die TI zwangsangeschlossenen Leistungserbringer noch nicht einmal die wahren Beschaffungs-, geschweige denn die Unterhaltskosten decken, sei an dieser Stelle nur der Vollständigkeit erwähnt.
Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Denn der Digitalprofiteure gab und gibt es schließlich viele, nur nennen die sich nicht Leistungserbringer. Und nachdem man still und heimlich das alte Sicherheitsversprechen der dezentralen Datenspeicherung en passant beerdigt hatte, verspricht das digitale, aber datengetriebene Geschäftsmodell, gesetzlich abgesichert mächtig viel Geschäft. Fragt sich nur, wem das wirklich nützen wird.
Der Widerstand steigt
Und nun das: Der Widerstand im System für die Gesundheitspolitik des nicht habilitierten Professors steigt. Zahnärzte, Apotheker und bald noch die Ärzte – da wird es schnell unübersichtlich in der gesetzlich eingehegten Welt des Gesundheitssystems. Nach seinem Empfinden wohl viel zu stark. „Was erlauben Leistungserbringer?“ Ob es einer der mit viel Soziallyrik verbrämten und angeblich die Basisversorgung rettenden Gesundheitskioske zu viel war? Eher nicht, denn an solcherart ideologisierte Polit-Peanuts ist das System samt Leistungserbringern dank jahrzehntelangem Training gewöhnt.
„Nach fest kommt ab“
Wer gerne handwerklich tätig ist weiß: Nach zu fest kommt zu lose. Oder eben „ab“. Doch gegen genau diese simple Erkenntnis scheint sich die Politik – in Tateinheit mit den Krankenkassen – für immun zu halten. Dabei übersehen sie, dass die erheblichen Kostensteigerungen, der immer höhere Aufwand aufgrund der stetig steigenden Bürokratielast, der zunehmende Fachkräftemangel, die Inflation sowie die zuletzt mit dem GKV-FinStG abgesenkten Einnahmen die angeblich vorhandenen Effizienzreserven bereits aufgezehrt haben. Zynisch formuliert: Glücklich darf sein, wer welche hatte.
Mehr Leistungserbringer = weniger Honorarumsatz für alle anderen
Was passiert denn mit dem derzeitigen System, wenn alle offenen Kassensitze besetzt und jede Praxis, vor allem auf dem Land, statt einfach zugesperrt zu werden, einen Nachfolger, eine Nachfolgerin findet? Also ein aus Sicht der Patienten wünschenswerter Zustand der Versorgung erreicht wird. Dann würde die Unterfinanzierung in der ambulanten Versorgung schneller offenbar, als Politik und Kassen lieb sein kann. Denn dank striktem Budget und HVM wäre die Folge, dass der Honorarumsatz bei allen sinken würde. Bei weiter steigenden Kosten passiert dann was? Eben – ab! Wie war das noch mit einer dringend notwendigen Strukturreform?
Ob MVZ die Retter des politischen Versagens werden?
Nun ist diese Erkenntnis keine Raketenwissenschaft. Aber politisch in den derzeitigen Gegebenheiten wohl Selbstmord. Denn woher soll das zusätzlich notwendige Geld kommen? Vom Finanzminister und seinen Vorgängern, die sich selbst in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen und niedriger bis gar keiner Zinsen in der GKV für Bundessozialwohltaten – Stichwort versicherungsfremde Leistungen –mit zweistelligen Milliardenbeträgen bedienten? Das war schon in guten Zeiten ein frustranes Unterfangen.
Dann also höhere Beiträge der Versicherten und dabei möglichst all die staatlich verursachten Preiserhöhungen vergessen von steigenden Energiekosten, über die Inflation bis zu steigenden Steuerlasten wie der Grundsteuer. Die Arbeitgeber sind aus diesem Spiel raus, denn deren Beitrag ist ja bekanntermaßen gedeckelt.
Richtig, eine Gruppe fehlt noch: Und parallel dazu das unbegrenzte Leistungsversprechen bei den Leistungserbringern einfordern. Auch eine Form, die weitere Ausbreitung der MVZ zu verlangsamen. Denn GmbHs beuten sich nicht selbst aus wie Niedergelassene (und machen zu, wenn das Geld nicht reicht, wie jetzt unter anderem in Nordrhein-Westfalen passiert).
Der Druck im Kessel steigt
Doch kommen wir zurück zu den Lauterbach‘schen Fake-News im Zuge der Apothekenproteste, deren Grund ja einerseits in dem durch das GKV-FinStG erhöhten Apothekenrabatt für die Krankenkassen (das ist ein Rabatt auf das Apothekenhonorar pro abgegebenes verschreibungspflichtiges Medikament) liegt sowie der unglaublich Arbeitszeit fressenden Malaise mit nicht lieferbaren Medikamenten. Nachdem die Publikumsmedien die Apothekenproteste und deren „Streiktag“ am 14. Juni aufgriffen, ging der Minister mit seinem Faktenblatt in die Offensive und machte aus gesetzlich veranlassten Mehrumsätzen während der Coronakrise gleich gestiegene Gewinne, die er in die Folgejahre fortschrieb. Nur – wer kauft heute noch Masken? Oder macht Coronatests, außer zu Hause mit Selbsttest?
Richtig ist, dass es die Mehrumsätze nicht mehr gibt. Die pure Unverschämtheit nach medial geheucheltem Verständnis war dann Lauterbachs Hinweis via Social Media auf die Pflege, in der angeblich viel schlechter verdient würde als in den Apotheken. Was bitte hat die Pflege mit dieser Situation zu tun? Allzumal das Beispiel auch noch falsch war, denn die Gehälter der Pharmazeutisch-technischen Assistentinnen (PTA) liegen um 20 Prozent niedriger. Der Kommentar auf Apotheke adhoc „Eine toxische Selbst-Inszenierung“ ist empfehlenswert zu lesen.
Es ist an der Zeit, Bündnisse zu schließen
Dieses bewusst die Tatsachen verdrehende Vorgehen des Ministers und seiner Entourage gibt einen Vorgeschmack auf das, was kommt, wenn demokratische Grundrechte gegen ideologisierte Politik wahrgenommen werden, um auf Missstände hinzuweisen und begründet Veränderungen zu fordern. Im Klartext: Wenn die sogenannten Leistungserbringer, die Apotheker und ihre Mitarbeitenden an die Öffentlichkeit gehen, demonstrieren und die Patientinnen und Patienten über die Folgen einer ideologisch getriebenen Politik informieren. Das ist in Lauterbachs Welt nicht vorgesehen (der dann versucht, die einzelnen Gruppen gegeneinander auszuspielen, siehe oben). In der Demokratie schon. Ohne mich wiederholen zu wollen: Es ist an der Zeit, Bündnisse zu schließen.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.