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Die Politik braucht ein multiprofessionelles wissenschaftliches Beratungsgremium und eine klare Kommunikationsstrategie – ein Beitrag von Prof. Dr. Dietmar Oesterreich

(c) Waldemarus/Shutterstock.com

Angesichts der jüngsten Entscheidungen im Bundestag und Bundesrat zum Thema Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sei daran erinnert, dass der scheidende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn diesen Vorschlag selbst – mit Hinweis auf die aktuelle Impfquote und in deren Folge einem nicht mehr Bestehen einer akuten Gefahr – am 25. Oktober 2021 in die Diskussion eingebracht hat. Angesichts des exponentiellen Wachstums der Inzidenzen gab es in der Bundestagsdebatte dafür heftigen Gegenwind selbst aus seiner eigenen Partei.

Auch wenn die neue Ampelkoalition mit Zustimmung des Bundesrats einen neuen juristischen Rahmen geschaffen hat und die rasant steigenden Infektionszahlen etwas anderes sagen, so blieb nach der ersten Ankündigung in der Bevölkerung doch die Botschaft „hängen“, die Pandemie sei zuende und das Corona-Virus keine Gefahr mehr. Nicht zuletzt, weil einige andere „Größen“ im Gesundheitswesen bereits von einem nahen „Freedom Day“ sprachen.

Vor dem Hintergrund der neben der Impfung nach wie vor notwendigen AHA-Regeln und Testungen als Maßnahmen der Primärprävention war das ein fatales Signal. Die Folge war eine Vielstimmigkeit der Meinungen, begleitet durch teilweise überforderte Journalisten, die sämtlichen Grundsätzen gesundheitspädagogischer Kommunikation widerspricht. Kein Wunder, dass sich angesichts dieser Entwicklung vielerlei „Blasen“ über Corona hartnäckig halten.

Einheitliche Botschaften senden

Zweifelsohne ist die Gesundheitskommunikation ein höchst sensibler und komplizierter Bereich. Gerade in einer solchen Situation aber gilt es zunächst (auch für eine Regierung), den Kern der einheitlichen Botschaften zu bestimmen und diese dann zentral durch eine mit entsprechender Expertise besetzte Organisation zu kommunizieren. Eigentlich wäre dies eine Aufgabe der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Entsprechenden Content findet man bei der BZgA – aber wird diese überhaupt als zentrale Informationsinstanz in der Öffentlichkeit und den Medien wahrgenommen? Es scheint für viele Experten und Politiker doch zu verlockend zu sein, in Talk-Runden ihre Botschaften und Meinungen zu verkünden, ohne sich an eine einheitliche Strategie zu halten.

Ein weiterer Grundsatz der Gesundheitskommunikation ist es, nicht nur den Zeigefinger zu erheben, sondern stets darauf zu achten, Mittel und Wege aufzuzeigen, wie sich die Menschen vor der Bedrohlichkeit einer Erkrankung schützen. können. Nun kann jeder von uns einschätzen, inwieweit das bei der Teststrategie oder der Impfkampagne gelungen ist.

ZahnMediziner wären wichtige Informationspartner

Bei einer Kampagnengestaltung, insbesondere im Gesundheitswesen, gilt es zudem alle beteiligten Berufsgruppen (neu deutsch: Stakeholder) einzubeziehen, gezielten Botschaften zu entwickeln und zu konsentieren – und damit einheitlich die Bevölkerung und Patienten anzusprechen. Hier kann und sollte die Zahnmedizin eine größere Rolle spielen. Weisen wir nicht immer wieder zu Recht darauf hin, dass die Zahnmedizin – bedingt durch die hohe Inanspruchnahme breiter Bevölkerungsteile – besonders geeignet ist, präventive Botschaften in der direkten Ansprache der Patienten zu verbreiten? Gibt es gerade beim Thema Corona nicht auch ein erhebliches eigenes Interesse, im Rahmen der Anamnese den Status 3G zu erheben und gezielt die Patienten anzusprechen, auch zum eigenen Schutz?

Persönlich habe ich dabei in meiner Praxis (nicht empirisch belegt) erlebt, dass viele Patienten nicht „Impfverweigerer“, sondern nur einfach verunsichert und für eine bestärkende Ansprache sowohl zu den AHA-Regeln als auch zur Testung und Impfung dankbar sind. Aus meiner Sicht – auch im Zusammenhang mit unserem Angebot zur Unterstützung bei der Impfung – ist das eine große Gelegenheit, die Zahnmedizin mit ihrer hohen Kompetenz im Bereich der Prävention als wichtige medizinische Fachdisziplin herauszustellen.

Wissen zur Krankheitsverbreitung wichtig

Eine wesentliche Grundlage, Prävention effektiv und gezielt zu gestalten, ist ein solides Wissen zur Krankheitsverbreitung in der Gesamtbevölkerung. Natürlich muss bei akuten Infektionen die Zahl der Neuerkrankungen (Inzidenzen) genau bestimmt werden. Bei einer zwischenzeitlich 21 Monat währenden Pandemie – mit zahlreichen Fragestellungen zur Krankheitsverbreitung, zu Hotspots, besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen und deren Umfeld – ist es genauso notwendig, die Zahl der bestehenden beziehungsweise durchgemachten Erkrankungen (Prävalenzen) zu ermitteln. Dazu eignen sich Kohorten-Studien mit einem sozialwissenschaftlich-epidemiologischen Erhebungsdesign, welche neben der Erkrankung selbst auch die soziologischen Fakten ermitteln. Laut dem Epidemiologischen Bulletin 37/2021 des Robert Koch Instituts vom 16. September 20211 gibt es dazu deutschlandweit keine repräsentativen Erkenntnisse. Lediglich kleinere lokale Studien, wie die „Gutenberg Covid-19-Studie“aus Mainz sorgt für erste Daten2.

Eine Beobachtungsstudie von Bremer Arztpraxen brachte die Erkenntnis, dass bei Patienten mit Migrationshintergrund die Inzidenzen nachgewiesener Covid-Infektion deutlich höher lagen3. Welche Schlussfolgerungen das Land Bremen aus dieser Tatsache getroffen hat, ist allgemein bekannt, und Bremen gilt mittlerweile deutschlandweit als Vorbild.

Diese Beispiele zeigen deutlichen Forschungsbedarf. Hätte nicht die Nutzung der sogenannten Nationalen Kohorte (Nako) von Beginn der Pandemie an eine Chance dazu gegeben? Angesichts der zahlreichen Fragestellungen zur Evidenz und zu den präventiven Möglichkeiten gibt es keine echte Koordination von Forschungsaktivitäten.

Talk-Shows sind kein Ort für einen wissenschaftlichen Disput

Im Ergebnis dieser Betrachtungen lässt sich schlussfolgern, dass es der Politik offensichtlich an einem wissenschaftlich Beratungsgremium fehlt, welches sich bei aller Wichtigkeit von Virologen nicht nur aus diesen, sondern auch aus klinischen, sozialwissenschaftlichen, gesundheitspsychologischen und pädagogischen sowie politischen Wissenschaftsdisziplinen zusammensetzen sollte 4,5,6.

Und noch etwas: Talk-Shows sind nicht der geeignete Ort für den – unbestritten dringend notwendigen – wissenschaftlichen Disput, sondern sollten vor allem dazu genutzt werden, die gemeinschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse und Informationen konsistent und mit klaren, verständlichen Worten zu verbreiten. Verunsicherte Patientinnen und Patienten haben wir schon genug.

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Reuterstadt Stavenhagen

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Foto: BZÄK/Lopata
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich (Jahrgang 1956) studierte Zahnmedizin in Rostock und war von 1981 bis 1990 in der Poliklinik für Stomatologie des Kreiskrankenhauses Malchin tätig. Nach der Wiedervereinigung ließ er sich am 1. Februar 1991 in eigener Praxis in Stavenhagen nieder, in der er bis heute als Zahnarzt tätig ist. Schon seit dem 29. April 1990 bis zum Oktober 2021 war er Präsident der neu gegründeten Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, seit November 2000 bis Juni 2021 auch Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer.

Oesterreich befasste und befasst sich intensiv mit soziologischen und gesundheitspolitischen Fragestellungen und Themen der Prävention und Gesundheitskommunikation, unter anderem im Vorstand der Initiative proDente, aber auch wissenschaftlich. Im September 2011 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Greifswald ernannt. Kontakt zum Autor per E-Mail an dr.dietmar.oesterreich@t-online.de.

 

Politik Patientenkommunikation Nachrichten

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