Karies wurde lange Zeit als übertragbare Infektionserkrankung angesehen und folgerichtig durch die Elimination aller Krankheitserreger aus dem Zahngewebe therapiert. Ausgehend von einem veränderten Verständnis von Karies verzichtet man heute in der überwiegenden Zahl der Kariesbehandlungen auf die Entfernung kariösen Gewebes. PD Dr. Falk Schwendicke stellt in seinem Beitrag in der Quintessenz 2/2017 die wissenschaftlichen Grundlagen des Kariesgeschehens und daraus folgende praktischen Erkenntnisse für den Behandler in der Zahnarztpraxis vor [Falk Schwendicke: Kariesexkavation heute: Ziele und Durchführung, Quintessenz 68(2) 2017: 125–135].
Bei kavitierten und kaulasttragenden kariösen Läsionen wird hingegen noch invasiv (restaurativ) vorgegangen, das heißt, zunächst kariöses Dentin exkaviert, um anschließend in die vorbereitete Kavität ein Restaurationsmaterial zu platzieren. In flachen oder moderat tiefen Kavitäten kann eine solche Exkavation nonselektiv erfolgen, also bis überall in der Kavität hartes bzw. festes Dentin verbleibt. In tiefen Kavitäten vitaler Zähne sollte jedoch das Pulpaüberleben im Vordergrund stehen. Hier wird eine selektive Exkavation empfohlen, bei der in Pulpanähe auch weiches Dentin belassen werden kann, peripher hingegen bis zum harten Dentin exkaviert wird (um eine stabile und dicht versiegelnde Restauration zu platzieren). Ein solches Vorgehen, welches das Risiko von Pulpaexpositionen und -komplikationen reduziert, wird durch eine zunehmende Zahl von Studien gestützt. Alternativ kann im bleibenden Gebiss auch schrittweise exkaviert werden, während im Milchgebiss die sogenannte Hall-Technik eine eine zusätzliche Option sein könnte. Ein indikationsgerechtes Exkavationskonzept hilft, optimale Behandlungsergebnisse zu erzielen.
Die „Quintessenz“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wird 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.
Karies
Karies wurde lange Zeit als übertragbare Infektionserkrankung angesehen, bei der ein Bakterium (Streptococcus mutans) oder wenige Bakterienarten (Mutans- Streptokokken, Laktobazillen) als Erreger fungieren15. Ausgehend von diesem Verständnis nahm man an, Karies könne nur „geheilt“ werden, wenn alle Krankheitserreger aus dem Zahngewebe entfernt würden. Dementsprechend wurden sowohl kariöser Schmelz als auch kariöses Dentin „vollständig“ entfernt und durch ein alloplastisches Material ersetzt. Das Zurücklassen kariösen Dentins unter einer Restauration war nach dieser Auffassung einer Heilung der Erkrankung nicht zuträglich und wurde vermieden6.
Die dem Verständnis als Infektionserkrankung zugrunde liegende „spezifische Plaquehypothese“ ist in den vergangenen zwei Dekaden durch die „ökologische Plaquehypothese“ abgelöst worden: Karies wurde nun vielmehr als das Ergebnis einer ökologischen Verschiebung im dentalen Biofilm verstanden, welche ihren Ursprung in der häufigen Verfügbarkeit von Kohlenhydraten aufgrund eines hohen Zuckerkonsums hat22. Durch Verstoffwechselung der Kohlenhydrate in organische Säuren (vor allem Milchsäure) und die daraus resultierende Absenkung des pH-Wertes erlangen die in einem physiologischen Biofilm nur in geringen Zahlen vorkommenden kariogenen Spezies einen Wettbewerbsvorteil, da sie auch unter diesen sauren Bedingungen überlebensfähig sind, der Großteil der nicht kariogenen Bakterien jedoch nicht. Infolgedessen wird ein ungestörter Biofilm in wiederholten Zyklen der Zuckerzufuhr immer kariogener, denn physiologische Spezies werden zugunsten pathogener Bakterien verdrängt. Aus diesem Ungleichgewicht in der Biofilmzusammensetzung und -aktivität resultiert ein Ungleichgewicht von De- und Remineralisierung an der Zahnoberfläche mit dem Ergebnis eines Nettomineralverlustes, der klinisch schließlich als kariöse Läsion sichtbar wird17.
Ausgehend von diesem Verständnis von Karies als verhaltensassoziierte, bakterien- und zuckermodifizierte Erkrankung kann Karies sehr wohl geheilt werden, ohne dass kariöses Gewebe entfernt wird, beispielsweise durch Kontrolle der Biofilmmaturation und -aktivität oder Restriktion der Zuckerzufuhr. In Übereinstimmung damit werden invasive (restaurative) Ansätze zur Kariestherapie heute oftmals nicht als Heilung, sondern als Reparatur verstanden, so dass die Wahl nur dann auf sie fallen sollte, wenn alternative, kurative Strategien nicht mehr verfügbar sind. In jedem Fall wird eine vollständige Elimination der Karies verursachenden Bakterien nicht mehr als Voraussetzung für einen Therapieerfolg angesehen16,31.
Kariestherapie
Zur Therapie von Karies und kariösen Läsionen stehen heute eine Vielzahl von Strategien zur Verfügung26:
- Noninvasive Strategien (Biofilm-, Mineralisations- und Ernährungskontrolle) sind geeignet, sowohl die Erkrankung Karies zu bekämpfen als auch kariöse Läsionen zu behandeln. Gerade für eingebrochene, kavitierte Läsionen kommen sie jedoch oft nicht in Betracht, da eine Kontrolle des Biofilms nicht mehr möglich ist und die Läsionen in vielen Fällen voranschreiten.
- Mikroinvasive Strategien installieren nach Konditionierung der Zahnoberfläche (üblicherweise Abtrag weniger Mikrometer Schmelz durch Säuren) eine Diffusionsbarriere auf der gesunden oder kariösen Zahnhartsubstanz, welche eine Penetration von Säuren in den Schmelz und eine Mineraldiffusion aus der Zahnhartsubstanz heraus verhindert. Dieser Mechanismus scheint neben der Umwandlung einer schwer zu reinigenden in eine reinigungsfähige Fissur für die präventive Versiegelung von entscheidender Bedeutung zu sein (Abb. 1a und b). Darüber hinaus können durch die Installation einer Diffusionsbarriere auch initiale Läsionen arretiert, also an ihrem Voranschreiten gehindert werden10. Derselbe Wirkmechanismus kommt beispielsweise auch bei der Kariesinfiltration zum Tragen, nur dass hier die Diffusionsbarriere innerhalb des kariösen (porösen) Schmelzes aufgebaut wird27.
- Invasive, restaurative Strategien werden heute, ausgehend von den dargelegten Überlegungen, fast ausschließlich für kavitierte Läsionen eingesetzt. Eine zu frühe Anwendung des Bohrers lehnt man ab, da platzierte Restaurationen nach einigen Jahren erneuert werden müssen, was oftmals mit einem erneuten Zahnhartsubstanzverlust verbunden ist. Die wiederholte Replatzierung immer größer werdender Restaurationen wird als Restaurationsspirale oder „Todesspirale des Zahnes“ bezeichnet28.
Noninvasive Strategien kommen demnach nur selten bei kavitierten und invasive Strategien nur selten bei nicht kavitierten Läsionen zur Anwendung. Eine zentrale Frage ist jedoch, ob mikroinvasive Therapien ebenfalls nur für nicht eingebrochene oder auch für kavitierte Läsionen geeignet sind. Ein Argument gegen den Einsatz bei kavitierten Läsionen war in der Vergangenheit, dass diese große Mengen von Bakterien enthalten. Zahlreiche Studien haben aber gezeigt, dass dicht versiegelte Bakterien von ihrer Kohlenhydratzufuhr abgeschnitten und inaktiv werden25 (Abb. 1c). Theoretisch könnten Versiegelungen also für alle Läsionen zum Einsatz kommen. Oder anders gefragt: Gibt es hier Grenzen?
Restauration und Exkavation
Aus der Perspektive der Kariesarretierung konnten solche Grenzen bisher nur bedingt gefunden werden. Auch große Mengen versiegelten kariösen Dentins lassen sich bakteriologisch inaktivieren. Eine offene Frage dabei ist aber, ob eine hohe Anzahl verbleibender Bakterien und ihre Stoffwechsel- oder Zerfallsprodukte die Pulpa schädigen. Auch hierzu gibt es bislang keine klinischen Hinweise, wobei die Studienlage allerdings dürftig ist.
Eine viel wichtigere Rolle spielt jedoch der Umstand, dass Zähne nicht nur kariologischen Herausforderungen ausgesetzt sind, sondern auch mechanischen Belastungen unterliegen: Das Platzieren eines Versieglers auf einer großen Fläche weichen Dentins in einer ausgedehnten Kavität ist mechanisch zu instabil. Mehrere Studien1,11,23 zeigen hohe Verlustraten solcher Versiegler aufgrund von Frakturen oder eines Versagens des adhäsiven Verbundes. Versiegler sind in ihrer Indikation also weniger kariologisch als mechanisch (materialtechnisch) eingeschränkt. Im Umkehrschluss heißt dies, dass beispielsweise kleine Kavitäten im nicht kaubelasteten Bereich durchaus versiegelt werden können, da hier die Kariesarretierung und nicht die mechanische Belastbarkeit im Vordergrund steht.
Bei ausgedehnten belasteten Kavitäten ist eine reine Versiegelung demnach nicht mehr ausreichend. Stattdessen muss invasiv (restaurativ) behandelt werden. Die Restauration (z. B. mit Komposit) unterscheidet sich vor allem durch die Ausführung des Exkavationsschrittes von der Versiegelung. Warum wird nun also exkaviert, bevor restauriert wird?
Sinn der Exkavation
Ausgehend von dem ursprünglichen Verständnis von Karies und den Notwendigkeiten, die gerade mit der Anwendung von Amalgam als Restaurationsmaterial aufkamen, wurde eine Reihe von Gründen für die Exkavation ausgemacht. Hierzu gehören erstens die Herstellung von Unterschnitten, zweitens die Entfernung demineralisierten Dentins und drittens die Entfernung von Bakterien. Keiner dieser Gründe ist heute noch ein ausreichendes Argument zugunsten der Exkavation:
- Adhäsive Materialien benötigen keine Unterschnitte, und zusätzliche Substanzverluste werden nach Möglichkeit vermieden.
- Demineralisiertes Dentin kann mitunter remineralisieren und sollte erhalten werden.
- Bakterien lassen sich (wie beschrieben) versiegeln und werden durch die resultierende „Aushungerung“ inaktiv25.
Das zentrale Argument, warum auch heute noch in den meisten Kavitäten exkaviert wird, lautet: um die Langlebigkeit der Restauration abzusichern. Wie dargelegt ist kariöses Dentin weicher und unterstützt die Restauration nicht ausreichend gegen Kaukräfte. Zudem sind die Haftkräfte dentaler Adhäsive zu demineralisiertem bzw. bakteriell kontaminiertem Dentin mitunter stark reduziert18,41. In weiten Teilen der Kavität kariöses Dentin zu belassen hieße also, die Langlebigkeit der Restauration zu kompromittieren.
Ein alternatives Versiegelungskonzept, das die restaurativen Probleme vermeidet und daher auch in ausgedehnten Kavitäten auf eine Exkavation verzichtet, ist die sogenannte Hall-Technik13. Sie wird in Milchzähnen eingesetzt, wobei präformierte Stahlkronen ohne Exkavation und Präparation platziert werden und kariöses Dentin versiegelt wird. Mehrere Studien12,30 belegen die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Technik: Die Läsionen werden inaktiv, Pulpaexpositionen und -komplikationen lassen sich vermeiden, und auch die bleibenden Zähne werden gesund erhalten. Für die permanente Dentition steht eine solche Strategie bisher nicht zur Verfügung.
Zusammenfassend wird also vor allem dann invasiv, das heißt, mittels Exkavation und Restauration vorgegangen, wenn kavitierte, kaubelastete Kavitäten vorliegen. Welche Endpunkte sollten nun bei der Exkavation gewählt werden? Welche Dentinqualität sollte in der Kavität verbleiben?
Endpunkte bei der Exkavation
Eine Reihe von Endpunkten sind in der Literatur vorgestellt und bewertet worden:
- Die Entfernung allen verfärbten Dentins zeigte in klinischen Studien keine Korrelation mit der Zahl der verbleibenden Bakterien2. Diese Zahl ist jedoch an sich schon – ausgehend von den beschriebenen Überlegungen – kein wirklich gutes Kriterium. Zudem gibt es keine Studie, die einen irgendwie gearteten Vorteil bei der Entfernung allen verfärbten Dentins darstellt38. Im Gegenteil, kariöses Dentin bekommt eine dunklere Farbe, wenn Bakterien absterben und die Läsion inaktiv wird. Eine schwarze Läsionsfarbe, oft in Kombination mit einer glänzenden Oberfläche, spricht für eine inaktivierte Läsion, bei der eine Exkavation nur noch begrenzt oder gar nicht mehr notwendig ist. Häufig haben Verfärbungen auch externe Ursachen, wozu vor allem bestehende Amalgamfüllungen gehören. Die Entfernung allen verfärbten Dentins ist daher ausschließlich aus ästhetischen Gründen zu rechtfertigen, kann aber gerade in tiefen Läsionen zur Exposition der Pulpa führen und wird daher in solchen Fällen abgelehnt33.
- Das Entfernen allen Dentins, das mittels Kariesdetektor anfärbbar ist, hat sich in mehreren klinischen Studien als nachteilig erwiesen38. Die Anfärbbarkeit sollte ursprünglich eine Unterscheidung zwischen demineralisiertem und bakteriell kontaminiertem kariösem Dentin ermöglichen19. Kariesdetektor färbt jedoch generell poröses Dentin an, beispielsweise besonders Reizdentin. Da die Entfernung allen anfärbbaren Dentins oft zu einer Exposition der Pulpa führt und übermäßig aggressiv ist, muss der Einsatz von Kariesdetektor (jedenfalls in der Tiefe der Kavität) heute abgelehnt werden.
- Die Entfernung aller Bakterien aus einer Kavität war, wie oben dargelegt, lange Zeit das Ziel der Kariesexkavation. Heutzutage lässt sich ein solches Ziel nur noch bedingt rechtfertigen, gerade weil in Pulpanähe das Belassen von Bakterien zu bevorzugen ist, wenn dafür eine Pulpaexposition vermieden werden kann. Entsprechende Detektionssysteme, die den Nachweis von Bakterien in der Kavität auf der Basis von laserlichtinduzierter Fluoreszenz anstreben (z. B. SIROInspect, Fa. Dentsply Sirona, Wals, Österreich), sind demnach in Pulpanähe vorsichtig (und kritisch) einzusetzen, während ihre Anwendung in der Peripherie denkbar ist20.
- Das Entfernen allen erweichten Dentins aus der Kavität war ein klassisches Ziel der Kariesexkavation. Es konnte aber gezeigt werden, dass es keine eindeutig identifizierbare Härteschwelle gibt – der Härteanstieg in der kariösen Läsion ist allmählich und klinisch nur schwer zu quantifizieren8,9,24. Weiterhin wurde belegt, dass die Erweichung des Dentins einer bakteriellen Kontamination vorausgeht – zur Entfernung der großen Zahl der Bakterien muss nicht zwingend auch erweichtes Dentin entfernt werden (Abb. 2a und b). Heute wird die Entfernung jeglichen erweichten Dentins in Pulpanähe abgelehnt und das Belassen weichen Dentins (lässt sich mit relativ wenig Aufwand durch einen Handexkavator entfernen) oder ledrigen Dentins (kann mit mäßigem Kraftaufwand abgehoben werden) akzeptiert14. Da diese Kriterien wenig standardisierbar sind, wurden selbstlimitierende Kunststoffbohrer (z. B. PolyBur, Komet, Fa. Gebr. Brasseler, Lemgo) entwickelt, die nur Dentin bestimmter Härte entfernen, bei härterem Dentin aber stumpf werden und keinen Abtrag mehr leisten7. Eine solche selbstlimitierende Exkavation könnte in der Tat einen verlässlicheren Endpunkt ermöglichen. Allerdings ist bisher nicht nachgewiesen worden, dass die Härte dieser selbstlimitierenden Bohrer die „richtige“ ist38: Möglicherweise wird auch durch einen solchen Bohrer noch zu viel (oder zu wenig) Dentin entfernt. In diesem Fall würde der Bohrer zwar verlässlicher als subjektive Kriterien bei der Exkavation sein, jedoch nicht zwingend zu besseren Ergebnissen führen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es den perfekten Endpunkt nicht gibt. Klinisch bewährt hat sich die Beurteilung der Exkavation anhand der Dentinhärte. Allerdings ist eben gerade in Pulpanähe eine Exkavation bis zum harten Dentin nicht empfehlenswert, um eine Pulpaschädigung zu vermeiden. Weitere Endpunkte können eingesetzt werden, aber ihre Anwendung sollte auf der Basis eines wissenschaftlich fundierten Exkavationskonzeptes erfolgen.
Exkavationskonzepte
Heute stehen vier grundsätzlich verschiedene Exkavationskonzepte zur Verfügung (Abb. 3a bis e). Eine Zusammenfassung zur Therapiewahl ist in Abbildung 4 dargestellt.
Konzept 1
Die nonselektive Exkavation entspricht dem bisherigen „vollständigen“ Vorgehen: Überall in der Kavität wird (nonselektiv) so lange exkaviert, bis nur noch hartes Dentin (die Sonde klirrt, der Dentinabtrag mit dem Rosenbohrer ist trocken und feinspanend) verbleibt. Eine solche nonselektive Exkavation bis zum klirrend harten Dentin stößt allerdings heute auf Ablehnung, weil hierbei oft auch die Entfernung demineralisierten Dentins erfolgt. Stattdessen wird empfohlen, in flachen oder moderat tiefen Kavitäten vitaler Zähne (oder bei avitalen Zähnen, bei denen der Erhalt der Pulpavitalität nicht mehr relevant ist) in zentralen Anteilen der Kavität festes Dentin zu belassen (also Dentin, das einer Sondierung trotzt und mit einem Rosenbohrer oder Handexkavator nur schwerlich entfernbar ist). Für tiefe Läsionen führt ein nonselektives Vorgehen bis zum festen oder gar harten Dentin häufig zu einer Schädigung und/oder einer Exposition der Pulpa32, was wiederum die Überlebenswahrscheinlichkeit des Zahnes signifikant reduziert. Für tiefe Läsionen in vitalen Zähnen ist ein nonselektives Vorgehen daher abzulehnen33.
Konzept 2
Die schrittweise Exkavation wurde bereits in den 1930er Jahren für die Behandlung tiefer Läsionen in vitalen Zähnen entwickelt und gilt heute als Kompromiss zwischen nonselektiver sowie selektiver Exkavation. Im ersten Schritt wird kariöses Dentin in Pulpanähe belassen. Peripher exkaviert man wie bei der nonselektiven Exkavation bis ins harte Dentin, um eine gute Haftung und Stabilität der Restauration zu gewährleisten5. Dann wird temporär versorgt, wobei ein Material eingesetzt werden sollte, das auch im Fall unerwartet langer Phasen zwischen den Schritten funktionstüchtig bleibt (eine Studie zeigte hohe Versagensraten nach schrittweiser Exkavation durch häufiges Versagen der temporären Restauration21). Nach sechs bis zwölf Monaten wird die temporäre Versorgung entfernt und erneut exkaviert, wobei man nun pulpanah nur festes Dentin belässt. Kürzere Phasen zwischen den Exkavationsschritten sind nicht empfehlenswert, da dies das Risiko einer Pulpaexposition im zweiten Exkavationsschritt erhöht35, welches mit immerhin ca. 10 % beziffert werden kann. Zudem wird im zweiten Exkavationsschritt oft nur noch wenig exkaviert, weil das ursprünglich belassene kariöse Dentin nach der Versiegelungsperiode häufig ausgetrocknet, härter und dunkler ist, also Zeichen von Inaktivierung zeigt4. Heute rät man zunehmend von einer schrittweisen Exkavation ab, da der Sinn eines zweiten Interventionsschrittes bezweifelt wird und die erneuten Risiken, aber auch die objektive und die subjektive Belastung des Patienten als Argument gegen das schrittweise Verfahren ins Feld geführt werden. Letzteres gilt besonders für Kinder und das schrittweise Vorgehen bei Milchzähnen. Stattdessen wird für tiefe Läsionen in Zähnen mit vitalen asymptomatischen Pulpen (ohne irreversible Pulpitis) oftmals eine selektive Exkavation empfohlen.
Konzept 3
Bei der selektiven (früher auch als unvollständig bezeichneten) Exkavation wird in Pulpanähe kariöses (also weiches oder ledriges, eventuell leicht feuchtes, verfärbtes) Dentin belassen und peripher bis ins harte Dentin exkaviert. Diese Exkavationsform nennt man selektiv, weil peripher ein anderes Exkavationskriterium angelegt wird als zentral (pulpanah). Eine zunehmende Anzahl klinischer Studien stützt die selektive Exkavation bei tiefen Läsionen in vitalen, asymptomatischen Zähnen29,32, so dass sie heute als der Standard für diese Indikation angesehen werden kann. Die Behandlung eines Zahnes mittels selektiver Exkavation ist in den Abbildungen 5 bis 11 dargestellt.
Konzept 4
Die vierte Alternative, die Kariesversiegelung, ist bereits oben diskutiert worden. Sie kommt lediglich für kavitierte Läsionen in Betracht, die nur begrenzten oder gar keinen Kaukräften unterliegen. Im Milchgebiss gehört die beschriebene Hall-Technik in diese Gruppe. Sie kann auch für kaulasttragende Kavitäten eingesetzt werden, da die Stahlkronen eine ausreichende mechanische Stabilität für diese Indikation aufweisen.
Praktische Hürden
Wenn nun die klinische Evidenz ein weniger invasives Vorgehen stützt, warum exkavieren noch immer 30 bis 50 Prozent der Zahnärzte in Deutschland selbst bei tiefen Läsionen in vitalen Zähnen nonselektiv36,39? Eine mögliche Ursache sind die praktischen Unsicherheiten und Hürden, die sich täglich stellen. So bleiben beispielsweise Fragen nach der Behandlung des Kavitätenbodens und nach dem optimalen Restaurationsmaterial, aber auch hinsichtlich der röntgenologischen Sichtbarkeit versiegelten kariösen Dentins offen.
Bei der Behandlung des Kavitätenbodens appliziert man klassischerweise ein Kalziumhydroxidpräparat auf die tiefen, pulpanahen Kavitätenanteile. Dieses wird oft mit einem lichthärtenden, kunststoffmodifizierten Glasionomerzement abgedeckt, und anschließend kann restauriert werden. Von einem Linermaterial wie Kalziumhydroxid versprach man sich ursprünglich eine Reihe von Effekten:
- Kalziumhydroxid wirkt aufgrund seines basischen pH-Wertes antibakteriell und könnte deshalb besonders zur zusätzlichen Abtötung von verbleibenden Bakterien geeignet sein. Klinische Studien haben aber gezeigt, dass bereits durch die Exkavation und Versiegelung mehr als 99,999 Prozent der Bakterien inaktiviert beziehungsweise abgetötet werden4. Die Relevanz der antibakteriellen Wirkung eines Liners ist daher fraglich, und zudem scheinen andere Materialien eine stärkere antibakterielle Wirkung zu haben40.
- Kalziumhydroxid soll demineralisiertes Dentin remineralisieren. Ähnliche Effekte werden auch Glasionomer- oder Kalziumsilikatzementen zugesprochen. Die durch solche Materialien freigesetzten Ionen lassen sich zwar im Dentin wiederfinden (gerade bei Glasionomerzementen gibt es zahlreiche Studien, die dies belegen), ob sie aber auch eine funktionelle, also mechanische Remineralisierung erreichen, ist fraglich. Eine reine Mineralakkumulation, beispielsweise in den Dentintubuli, hat jedoch nur einen begrenzten therapeutischen Wert. Stattdessen sollte eine Mineralisierung innerhalb der Kollagenfibrillen angestrebt werden, da dies die mechanischen Eigenschaften des Dentins wiederherstellt3.
- Kalziumhydroxid soll die Reizdentinbildung anregen. Histologische Untersuchungen zeigen eine entsprechende Pulpareaktion und Dentinbildung auch ohne eine Linerapplikation. Mindestens genauso wichtig oder vielleicht sogar noch wichtiger als ein Liner scheint für die Reizdentinanregung der kariöse Reiz, also die zu behandelnde kariöse Läsion zu sein.
- Ein möglicherweise überzeugendes Argument für den Einsatz eines Liners ist hingegen, dass er die Pulpa gegen thermische und vor allem chemische Noxen (zum Beispiel aus den Adhäsiven) schützt. Wenn jedoch größere Schichten von Residualdentin über der Pulpa verbleiben, weil selektiv statt nonselektiv exkaviert wird, könnte auch dieses Argument an Bedeutung verlieren.
Aus den oben genannten Gründen können zur Nutzung von Linern keine eindeutigen Empfehlungen abgegeben werden33. Für die restaurative Behandlung kavitierter Läsionen stehen heute eine große Zahl von Materialien, allen voran dentale Komposite zur Verfügung. Zur Platzierung dieser Komposite werden Adhäsive eingesetzt. Bisherige Studien bestätigten die Eignung sowohl von Etch-and-Rinse-Adhäsiven (z. B. OptiBond FL, Fa. Kerr, Rastatt) als auch von selbstkonditionierenden Adhäsiven (z. B. Clearfil SE Bond, Fa. Kuraray Europe, Hattersheim) für selektiv exkavierte Zähne. Bei den Kompositen selbst könnten, gerade was ausgedehnte Kavitäten anbelangt, biegefestere Materialien besonders geeignet sein, beispielsweise glasfaserverstärkte Systeme wie EverX (Fa. GC Germany, Bad Homburg)34.
Versiegeltes kariöses Dentin ist röntgenologisch detektierbar und nur begrenzt gut von zufällig belassenem, „übersehenem“ kariösem Dentin abzugrenzen (Abb. 12). Laborexperimentelle Versuche zur radiologischen Markierung und Maskierung von absichtlich belassenem kariösem Dentin haben bisher nicht zur Entwicklung marktreifer Lösungen geführt37. Dem Zahnarzt kann daher zurzeit nur empfohlen werden, mit dem Patienten nach Aufklärung über die vorhandenen Optionen eine sogenannte informierte Entscheidung zu treffen und diese auch adäquat zu dokumentieren. Inwieweit die Dokumentation und der Verweis auf die vorhandenen klinischen Studien im Fall eines Disputes hilfreich sind, ist gegenwärtig nicht einheitlich geregelt. Entsprechende Informationen können mitunter die gutachterlichen Stellen geben.
Schlussfolgerungen
Basierend auf einem veränderten Verständnis von Karies wird in der Kariestherapie zunehmend weniger invasiv (restaurativ) vorgegangen. Es kommen unter anderem Versiegler zum Einsatz, um Diffusionsbarrieren auf der Zahnoberfläche zu installieren, wodurch sich gerade nicht kavitierte Läsionen erfolgreich therapieren (arretieren) lassen. Versiegler können außerdem eventuell verbleibende Bakterien durch „Aushungerung“ abtöten. Für kavitierte und kaulasttragende kariöse Läsionen sind reine Versiegelungen jedoch nicht ausreichend stabil, so dass hier auch heute oftmals restauriert werden muss. Die Kariesexkavation vor einer solchen Restauration dient der Vorbereitung der Kavität, denn dadurch kann das Restaurationsüberleben optimiert werden. Allerdings strebt man gerade in tiefen Kavitäten nicht mehr die Entfernung allen weichen, verfärbten oder bakterienhaltigen Dentins an, da hierbei häufig die Pulpa exponiert und die Prognose des Zahnes negativ beeinträchtigt wird. Für solche tiefen Läsionen in vitalen Zähnen, bei denen das Pulpaüberleben im Vordergrund steht, ist stattdessen eine selektive Exkavation ratsam. Hierbei belässt man in Pulpanähe wenn nötig weiches Dentin, um eine Pulpaexposition zu verhindern. Peripher wird hingegen so exkaviert, dass hartes Dentin verbleibt, welches die Restauration unterstützt und eine gute Haftung dentaler Adhäsive ermöglicht. Ein indikationsgerechtes Exkavationskonzept hilft, optimale Behandlungsergebnisse zu erzielen.
Ein Beitrag von PD Dr. med. dent Falk Schwendicke, Berlin
Literatur
1.Bakhshandeh A, Qvist V, Ekstrand K. Sealing occlusal caries lesions in adults referred for restorative treatment: 2-3 years of follow-up. Clin Oral Investig 2012;16:521-529.
2.Banerjee A, Kidd EA, Watson TF. In vitro validation of carious dentin removed using different excavation criteria. Am J Dent 2003;16:228-230.
3.Bertassoni LE, Habelitz S, Kinney JH, Marshall SJ, Marshall GW Jr. Biomechanical perspective on the remineralization of dentin. Caries Res 2009;43:70-77.
4.Bjørndal L, Larsen T. Changes in the
cultivable flora in deep carious lesions following a stepwise excavation procedure. Caries Res 2000;34:502-508.5.Bjørndal L, Larsen T, Thylstrup A. A clinical and microbiological study of deep carious lesions during stepwise excavation using long treatment intervals. Caries Res 1997;31:411-417.
6.Black GV. Operative dentistry. Part 1 Pathology of hard tissues of the teeth: Oral diagnosis. Part III Treatment of caries. 7. ed. London: Medico-Dental Publishing, 1936.
7.Boston DW. New device for selective dentin caries removal. Quintessence Int 2003;34: 678-685.
8.Fusayama T, Kurosaki N. Structure and removal of carious dentin. Int Dent J 1972; 22:401-411.
9.Fusayama T, Okuse K, Hosoda H.
Relationship between hardness, discoloration, and microbial invasion in carious dentin. J Dent Res 1966;45:
1033-1046.10.Griffin SO, Oong E, Kohn W et al. The effectiveness of sealants in managing caries lesions. J Dent Res 2008;87:169-174.
11.Hesse D, Bonifacio CC, Mendes FM,
Braga MM, Imparato JC, Raggio DP. Sealing versus partial caries removal in primary molars: a randomized clinical trial. BMC Oral Health 2014;14:58.12.Innes N, Evans D, Stirrups D. The Hall Technique; a randomized controlled clinical trial of a novel method of managing carious primary molars in general dental practice: acceptability of the technique and outcomes at 23 months. BMC Oral Health 2007;7:18.
13.Innes NP, Evans DJ, Stirrups DR. Sealing caries in primary molars: randomized control trial, 5-year results. J Dent Res 2011;90: 1405-1410.
14.Innes NP, Frencken JE, Bjørndal L et al. Managing carious lesions: consensus recommendations on terminology. Adv Dent Res 2016;28:49-57.
15.Keyes PH. The infectious and transmissible nature of experimental dental caries. Findings and implications. Arch Oral Biol 1960;1:304-320.
16.Kidd EA. How ‚clean‘ must a cavity be before restoration? Caries Res 2004;38:
305-313.17.Kidd EA, Fejerskov O. What constitutes dental caries? Histopathology of carious enamel and dentin related to the action of cariogenic biofilms. J Dent Res 2004;83(Spec No C):C35-C38.
18.Kinney JH, Balooch M, Haupt DL,
Marshall SJ, Marshall GW. Mineral distribution and dimensional changes in human dentin during demineralization.
J Dent Res 1995;74:1179-1184.19.Kuboki Y, Liu CF, Fusayama T. Mechanism
of differential staining in carious dentin.
J Dent Res 1983;62:713-714.20.Lennon AM, Attin T, Martens S, Buchalla W. Fluorescence-aided caries excavation (FACE), caries detector, and conventional caries excavation in primary teeth. Pediatr Dent 2009;31:316-319.
21.Maltz M, Garcia R, Jardim JJ et al.
Randomized trial of partial vs. stepwise caries removal: 3-year follow-up. J Dent Res 2012;91:1026-1031.22.Marsh PD. Dental plaque as a biofilm and a microbial community – implications for health and disease. BMC Oral Health 2006;6:S14.
23.Mertz-Fairhurst EJ, Curtis JW, Ergle JW, Rueggeberg FA, Adair SM. Ultraconservativeand cariostatic sealed restorations: results at year 10. J Am Dent Assoc 1998;129:55-66.
24.Ogawa K, Yamashita Y, Ichijo T, Fusayama T. The ultrastructure and hardness of the transparent layer of human carious dentin.
J Dent Res 1983;62:7-10.25.Oong EM, Griffin SO, Kohn WG, Gooch BF, Caufield PW. The effect of dental sealants on bacteria levels in caries lesions: a review of the evidence. J Am Dent Assoc 2008; 139:271-278.
26.Paris S, Ekstrand K, Meyer-Lückel H.
Von der Diagnose zu Therapie. In: Paris S, Ekstrand K, Meyer-Lückel H (Hrsg). Karies – Wissenschaft und klinische Praxis. Stuttgart: Thieme, 2012.27.Paris S, Meyer-Lueckel H, Kielbassa AM. Resin infiltration of natural caries lesions.
J Dent Res 2007;86:662-666.28.Qvist V. Longevity of restorations: the ‚death spiral‘. In: Fejerskov O, Kidd EAM (eds). Dental caries: The disease and its clinical management. Oxford: Blackwell
Munksgaard, 2008:444-455.29.Ricketts D, Lamont T, Innes NP, Kidd E, Clarkson JE. Operative caries management in adults and children. Cochrane Database Syst Rev 2013; 28:CD003808.
30.Santamaria RM, Innes NP, Machiulskiene V, Evans DJ, Splieth CH. Caries management strategies for primary molars: 1-yr randomized control trial results. J Dent Res 2014;93:1062-1069
31.Schwendicke F. Kariesexkavation – wie viel Kariesfreiheit muss sein? Dtsch Zahnärztl Z 2015;70:89-97.
32.Schwendicke F, Dörfer CE, Paris S. Incomplete caries removal:
a systematic review and meta-analysis. J Dent Res 2013;92:306-314.33.Schwendicke F, Frencken JE, Bjørndal L et al. Managing carious lesions: consensus recommendations on carious tissue removal. Adv Dent Res 2016;28:58-67.
34.Schwendicke F, Kern M, Dörfer C, Kleemann-Lupkes J, Paris S, Blunck U. Influence of using different bonding systems and composites on the margin integrity and the mechanical properties of selectively excavated teeth in vitro. J Dent 2015;43:327-334.
35.Schwendicke F, Meyer-Lückel H, Dörfer C, Paris S. Failure of
incompletely excavated teeth – a systematic review. J Dent 2013;41: 569-580.36.Schwendicke F, Meyer-Lueckel H, Dörfer C, Paris S. Attitudes and behaviour regarding deep dentin caries removal: a survey among German dentists. Caries Res 2013;47:566-573.
37.Schwendicke F, Meyer-Lueckel H, Schulz M, Dörfer CE, Paris S. Radiopaque tagging masks caries lesions following incomplete excavation in vitro. J Dent Res 2014;93:565-750.
38.Schwendicke F, Paris S, Tu Y. Effects of using different criteria and methods for caries removal: a systematic review and network meta-analysis. J Dent J Dent 2015;43:1-15.
39.Schwendicke F, Stangvaltaite L, Holmgren C et al. Dentists’ attitudes and behaviour regarding deep carious lesion management: a multi-
national survey. Clin Oral Investig 2016 Mar 12 [Epub ahead of print].40.Schwendicke F, Tu YK, Hsu LY, Gostemeyer G. Antibacterial effects of cavity lining: a systematic review and network meta-analysis. J Dent 2015;43:1298-1307.
41.Yoshiyama M, Tay FR, Doi J et al. Bonding of self-etch and total-etch adhesives to carious dentin. J Dent Res 2002;81:556-560.