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„Wichtig ist es, das Verletzungsmuster am Unfalltag wirklich gut zu erfassen“ – Prof. Andreas Filippi im Interview

Prof. Dr. Andreas Filippi
Prof. Dr. Andreas Filippi
Foto: Quintessenz
Unfallverletzungen der Zähne kommen bei Kindern und Jugendlichen leider häufig vor und auch Erwachsene kann es treffen. Doch was tun, wenn ein verunfallter Patient in die Praxis kommt? Prof. Andreas Filippi, Gründer des Zahnunfallzentrums der Universität Basel, Schweiz, vermittelt die wichtigsten Grundlagen im folgenden Interview.

Wie häufig kommen Zahnunfälle vor und welche Altersgruppen sind davon betroffen?

Prof. Andreas Filippi: Sie sind sehr häufig in der Altersgruppe bis zum 16. Lebensjahr – mehr als jedes zweite europäische Kind erleidet ein Zahntrauma, bevor es das 16. Lebensjahr erreicht. Dabei kommen Milchzahnunfälle etwas öfter vor als Traumata im bleibenden Gebiss.

Welche grundsätzlichen Arten von Zahnunfällen gibt es?

Filippi: Es gibt im Prinzip zwei Dinge, die bei einem Zahnunfall passieren können: Entweder der Zahn bricht, das ist die Gruppe der Frakturen (Abb. 1), oder aber er wird in seiner Position verschoben, das ist die Gruppe der Dislokationen (Abb. 2).

Welche Maßnahmen muss der Zahnarzt am Unfalltag ergreifen? Wie sieht die Erstversorgung in der Praxis „step by step“ aus?

Filippi: Die wichtigsten Schritte sind: den Unfallhergang ermitteln, eine gute Dokumentation – unser Zahnunfallzentrum in Basel hat dafür einen praktischen Trauma-Chart veröffentlicht, Fotos von bukkal und von inzisal. Generell richtet sich die Erstbehandlung sehr stark nach dem Verletzungsmuster, also welche Gewebe wie stark betroffen sind.

Was muss neben den zahnmedizinischen Primärmaßnahmen unbedingt beachtet werden?

Filippi: Zunächst muss ein Schädel-Hirn-Trauma ausgeschlossen werden – das gehört zu jedem Unfall dazu. Erst dann kann sich den Zähnen zugewandt werden. Bei Patienten über zehn Jahren ist zudem die Tetanus-Immunität abzuklären.

Welche Minimalausstattung benötigt der Zahnarzt für eine suffiziente Erstversorgung in seiner Praxis?

Filippi: Sechs Dinge sind Pflicht: eine Zahnrettungsbox, monofiles Nahtmaterial, ein Calciumhydroxidpräparat zur Abdeckung von freiliegender Pulpa, ein Material zum Ätzen, ein dünnfließendes Komposit und die TTS-Schiene (Titanium-Trauma-Splint; Abb. 3), um gelockerte und verschobene Zähne schienen und reponieren zu können.

Welche Tipps haben Sie für den Umgang mit verunfallten Kindern?

Filippi: Es gibt einige klare Regeln, wie man sich nach einem Unfall am Unfallort zu verhalten hat. Diese Empfehlungen sind für das Milchgebiss etwas anders als für das bleibende Gebiss. Sie sollten von der Aufsichtsperson – zum Beispiel in der Schule, im Schwimmbad – beziehungsweise den Eltern/der Begleitperson umgesetzt werden.

Bei einer Kronenfraktur muss das Bruchstück gesucht und zum Zahnarzt mitgebracht werden. Bei Dislokationsverletzungen sollte nicht versucht werden, den verschobenen Zahn zu reponieren. Bei Avulsion (ausgeschlagener Zahn) muss der Zahn so schnell es geht gefunden werden, um ihn möglichst in eine Zahnrettungsbox zu legen, alternativ kann er auch in kalte Milch eingelegt oder in Frischhaltefolie eingewickelt werden. Dann sollte direkt der Zahnarzt aufgesucht werden.

Auf der Homepage unseres Zahnunfallzentrums unter zahnunfallzentrum.ch können Poster zum Verhalten am Unfallort heruntergeladen werden.

Welche Gewebe können bei einem Zahntrauma verletzt werden und warum ist es so wichtig, diese am Unfalltag zu identifizieren?

Filippi: Es gibt grundsätzlich fünf Gewebe, die bei einem Zahnunfall völlig unabhängig voneinander verletzt werden können und deren Therapie nichts miteinander zu tun hat. Das sind: der Zahn – Schmelz, Dentin, Wurzelzement, die Pulpa, das Parodont, der umgebende Knochen und die umgebenden Weichgewebe. Wichtig ist es, das Verletzungsmuster am Unfalltag wirklich gut zu erfassen. Die Strategie lautet stets: Ein verletztes Gewebe braucht meine Hilfe, ein unverletztes Gewebe braucht mich nicht.

Können Sie uns Beispiele für Spätfolgen nennen, wenn die Erstversorgung nicht korrekt erfolgt ist?

Filippi: Prinzipiell ist alles möglich – an erster Stelle steht der Zahnverlust. Auch bei korrekter Erstversorgung kommt es häufig zu Spätfolgen der Pulpa und des Parodonts. Bei der Pulpa ist es oft die Pulpanekrose mit nachfolgender apikaler Parodontitis. Sehr unangenehm ist die Pulpanekrose-assoziierte infektionsbedingte Wurzelresorption. Klassische Spätfolgen bei Verletzung des Parodonts sind die Ankylose und die Ersatzgewebsresorption.

Das Interview ist in der Ausgabe 4/2020 der Zeitschrift Qdent veröffentlicht und steht ebenfalls als Video hier und bei E-Wise zur Verfügung. Dort gibt es auch ein Online-Seminar „Unfallverletzungen der Zähne“ mit Prof. Andreas Filippi. Erstnutzer können ein Seminar ihrer Wahl kostenfrei testen.

In Ihrem Seminar referieren Sie auch über das Thema „Die Kunst nichts zu tun“ bei verunfallten Kindern. Können Sie uns das erläutern?

Filippi: Der Zahnarzt muss sich vor der Behandlung fragen, ob seine Maßnahmen eher nützen oder schaden. Beispielsweise ist abzuwägen, ob ein verunfallter Zahn mit Lockerungsgrad I wirklich von einer Schienung profitiert oder ob die Schiene der parodontalen Heilung schadet. Und nützt es dem Unfallzahn tatsächlich, wenn ich ihn nach sechs Monaten trepaniere, weil er noch nicht auf den Kältetest reagiert? Für diese Abwägungen ist ein breites Wissen nötig.

Sie haben am Zahnunfallzentrum in Basel Hilfsmittel erarbeitet, die den Zahnarzt schnell und unkompliziert informieren. Erzählen Sie uns davon!

Filippi: Wir haben die AcciDent-App für Smartphones entwickelt, dort kann der Zahnarzt sich beispielsweise informieren, wenn der Patient bereits auf seinem Stuhl sitzt. Zudem gibt es in der App interaktive Tools, Videos etc.

Auf meiner Homepage können viele PDFs heruntergeladen werden, unter anderem auch unser Befundbogen und ein Informationsblatt, wie man sich nach einem Zahnunfall verhalten sollte.

Das Interview führte Dr. Kristin Ladetzki.

Buchtipps

Prof. Andreas Filippi ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen und Bücher auch im Quintessenz Verlag. Aktuell erschienen sind von ihm:

Titelbild: Kronenfrakturen 13–21: An Zahn 11 kam es zu einer Pulpaexposition. (Aus: Krastl G, Weiger R, Filippi A. Zahntrauma. Therapieoptionen für die Praxis. Berlin: Quintessenz Verlag, 2020)
Quelle: Qdent 4/2020 Interdisziplinär Videos Aus dem Verlag Studium & Praxisstart Patientenkommunikation Zahnmedizin

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