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Zahnverlust nach 10 Monaten – Ursachenfindung und daraus folgende Empfehlungen für ein verbessertes Traumamanagement

Panoramaschichtaufnahme April 2018, Zustand nach Osteosynthese, Replantation 21, Reposition 12 und 22 sowie Schienung der Regio 13−23.

Für eine erfolgreiche Therapie avulsierter Zähne sind vor allem eine günstige extraorale Lagerung, eine gründliche Diagnostik und Therapieplanung sowie ein engmaschiger Recall entscheidende Erfolgsfaktoren. In seinem Beitrag für die Endodontie 4/21 beschreibt Jan Herrmann M.Sc. den posttraumatischen Verlauf nach einer Avulsion eines bleibenden oberen Frontzahns und versucht, die möglichen Gründe für den therapeutischen Misserfolg zu beleuchten.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Die Avulsion zählt zweifellos zu den am schwierigsten zu behandelnden Traumafällen in der Zahnmedizin. Einer der wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Replantation ist die adäquate Lagerung des avulsierten Zahns. Daneben spielen aber auch die Dauer bis zur Replantation, die korrekte Therapiewahl und -durchführung sowie ein anschließender engmaschiger Recall eine große Rolle1−7.

Im nachfolgend geschilderten Fall kam es innerhalb eines zehnmonatigen Zeitraums nach Replantation eines avulsierten bleibenden Frontzahnes mit abgeschlossenem Wurzelwachstum zu einer massiven externen Wurzelresorption und dadurch schließlich zum Verlust des Zahns. Dieser Fallbericht soll versuchen, mögliche Ursachen für den Misserfolg zu beleuchten und Empfehlungen für ein besseres Traumamanagement zu geben.

Falldarstellung

Vorgeschichte

Am 17. April 2018 wurde eine 36-jährige Patientin von der Abteilung für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie eines Klinikums in München mit der Bitte um zeitnahe endodontische Therapie des Zahns 21 überwiesen. Zuvor war sie dort am 13. Apriul 2018 in der Unfallchirurgie aufgenommen und bis zum 16. April 2018 stationär behandelt worden. Die Patientin war auf dem Arbeitsweg über ein stillgelegtes Bahngleis gestolpert und mit dem Gesicht auf das gegenüberliegende Gleis gestürzt. 

Dabei erlitt sie eine Alveolarfortsatztrümmerfraktur in Regio 11−21 vestibulär und Verletzungen an der Oberlippe sowie der Nase mit ausgeprägtem Begleithämatom. Alle Ober­kiefer­front­zähne waren vom Sturz betroffen, wobei 11 und 21 avulsiert sowie 12 und 22 leicht luxiert waren. Ferner wiesen 13, 12, 22 und 23 unkomplizierte Schmelz-Dentin-Frakturen auf. Am Unfallort konnte von den beiden avulsierten Zähnen lediglich der Zahn 21 aufgefunden werden. Dieser befand sich etwa 5−10 Minuten extraoral auf dem Boden und wurde danach weitere 30 Minuten in einem trockenen Taschentuch gelagert. Bei Ankunft im Klinikum wurde der Zahn direkt in eine Zahnrettungsbox gegeben.

Noch am selben Tag fanden während einer Operation in Intubationsnarkose die offene Reposition und Plattenosteosynthese der Alveolarfortsatzfraktur, die Replantation von Zahn 21, die Reposition von 12 und 22 und die anschließende adhäsive Schienung der Zähne 13−23 mit Säure-Ätz-Technik und einem Titan-Trauma-Splint statt (Abb. 1). Vor der Replantation wurden laut Arztbrief die Alveole und der Zahn 21 mit isotonischer Kochsalzlösung gereinigt. Intraoperativ entschied sich der Chirurg, den Zahn zusätzlich durch eine Schraube der Osteosyntheseplatte im apikalen Wurzeldrittel zu fixieren.
Eine Antibiose wurde der Patientin während des stationären Aufenthaltes intravenös verabreicht. Nach der Entlassung wurden ihr für weitere 5 Tage Amoxyclav (875/125 mg, 1-0-1; Salutas Pharma) und CHX-Spüllösung (1-1-11; Omega Pharma) ver­ordnet.

Anamnese und Diagnostik

Die Patientin stellte sich noch am 17. April 2018 in der Praxis vor. Extraoral zeigten sich im perioralen Bereich eine deutliche Schwellung und multiple ärztlich versorgte Hautverletzungen. Intraoral fehlte der Zahn 11; es befand sich eine auf den Bukkalflächen adhäsiv befestigte Traumaschienung in Regio 13−23 (s. Abb. 1). Die Zähne 13, 12, 22, 23 wiesen unkomplizierte Schmelz- beziehungsweise Schmelz-Dentin-Frakturen auf und reagierten auf den Sensibilitätstest (Kältespray, Omnident) positiv, der Zahn 21 hingegen, wie zu erwarten, negativ. 
Auf einer angefertigten Einzelzahnaufnahme war die den Zahn apikal fixierende Schraube der Osteosyntheseplatte gut zu erkennen (Abb. 2).

Therapie

Die Behandlung fand aufgrund der strikten Weigerung der Patientin ohne Kofferdam statt. Unter lokaler Anästhesie (1,7 ml UDS, Sanofis) wurde der Zahn 21 von palatinal trepaniert. Der Wurzelkanal ließ sich gut mit Handfeilen der Größe ISO 10 (Dentsply) sondieren. Die Endometriemessung (VDW.gold, VDW) war aufgrund der den Wurzelkanal tangierenden Fixierungsschraube nicht konstant und verlässlich. Es wurde eine erste, röntgenologisch etwas zu kurz erscheinende Kontrastmittel­aufnahme angefertigt (Abb. 3) und anschließend Kalziumhydroxid (UltraCal XS, Ultradent) in den Wurzelkanal eingebracht. Die Trepanationsöffnung wurde mit Teflon­band und Cavit (3M Espe) verschlossen. Weiterhin wurden in dieser Sitzung eine provisorische Lückenversorgung in Regio 11 mit Komposit (Filtek Supreme XTE, 3M Espe) an den Titan-Trauma-Splint modelliert und alle Schmelz-Dentin-Frakturen an den Zähnen 13, 12, 22, 23 provisorisch mit fließfähigem Komposit (Filtek Supreme XTE FC, 3M Espe) bedeckt. 

Neun Tage später, am 26. April 2018, erschien die Patientin zur definitiven Wurzelkanalfüllung des Zahns 21. Noch immer war eine starke extra- und intraorale Schwellung vorhanden. Auch für diese Behandlung verweigerte die Patientin die Verwendung eines Kofferdams. Unter relativer Trockenlegung und nach Entfernung des provisorischen Verschlusses wurde der Wurzelkanal des Zahns 21 gründlich mit 3 Prozent Natriumhypochlorit (CanalPro, Coltene) gespült und die medikamentöse Einlage entfernt.

Unter der optischen Vergrößerung eines Dentalmikroskops (Zeiss) konnte im apikalen Drittel der Kanalwand die Schraube tangential erkannt werden. Der Wurzelkanal wurde maschinell mit Reciproc-Feilen (VDW) bis zur Größe R40 präpariert, wiederholt mit 3 Prozent NaOCl gespült und es wurde eine weitere Kontrastmittelaufnahme angefertigt (Abb. 4).

Danach wurde der Wurzelkanal gründlich mit 17 Prozent EDTA (CanalPro,  Coltene) und schallaktiviertem (Eddy, VDW) 3 Prozent NaOCl gespült. Die Obturation erfolgte mit einem Sealer auf Epoxidharzbasis (AH Plus, Dentsply) und Guttafusion (VDW). Nach der Obturation wurde ein Kontrollbild erstellt, welches apikal eine kleine Überstopfung von Guttapercha und Sealer zeigte (Abb. 5). Nach Abtrennung der Guttapercha und Reinigung der Kavität wurde die Trepanationsöffnung in Adhäsivtechnik verschlossen.

Etwa 3 Wochen später wurden der Titan-Trauma-Splint entfernt, die Schmelz-Dentin-Frakturen an den Frontzähnen ästhetisch adhäsiv rekonstruiert (Scotch-bond, Filltek Supreme XTE, 3M Espe) (Abb. 6) und eine Interimsprothese zum Ersatz des Zahns 11 angefertigt. Am 5. Juli 2018 erfolgte in der MKG-Abteilung des Klinikums die operative Entfernung der Osteosyntheseplatten und zusätzlich wurde ein Knochenaufbau in Regio 11 vorgenommen. Daneben wurde aufgrund der apikalen Überpressung von Wurzelfüllmaterial auch eine Wurzelspitzenresektion ohne retrograde Präparation und Obturation am Zahn 21 ausgeführt.

Für die implantologische Planung in Regio 11 wurde am 21. September 2018 durch die MKG-Abteilung eine digitale Volumentomografie (DVT) angefertigt, jedoch ohne die Regio des Zahnes 21 anschließend gründlich zu befunden. Hierauf wären bereits deutlich Anzeichen einer Resorption am Zahn 21 im distobukkalen Wurzelanteil zu erkennen gewesen (Abb. 7). Nach erfolgter Implantation in der Klinik wurde zur Kontrolle eine Panoramaschichtaufnahme angefertigt. Diese zeigte einen deutlich unregelmäßig begrenzten distalen Wurzelbereich am Zahn 21, woraufhin eine Wurzelresorption vermutet wurde (Abb. 8). 

Die Patientin wurde zur Anfertigung einer Einzelaufnahme von Zahn 21 und Beratung über eventuelle Behandlungsmöglichkeiten überwiesen. Auf der Einzelzahnaufnahme war die fortgeschrittene Wurzelresorption eindeutig zu diagnostizieren. Es zeigten sich mehrere kleinflächige Radioluzenzen im Wurzelbereich (Abb. 9). Zudem wurde klinisch distal bereits subgingival eine zerklüftete Wurzeloberfläche sondiert. Die Patientin wurde daraufhin mit der Bitte um Extraktion des Zahnes 21 und Beratung für eine anschließende Implantation an die MKG-Abteilung rücküberwiesen.

Auf der Wurzel des extrahierten Zahnes waren makroskopisch weiträumige Resorptionen vor allem im distalen Wurzelanteil zu erkennen, die Wurzeloberfläche erschien mottenfraßartig zernagt (Abb. 10 bis 12).

Eine Sofortimplantation in Regio 21 war aufgrund der resorptiven Vorgänge ausgeschlossen. Im Folgenden kam es zu einem massiven Knochenabbau, der eine Augmentation notwendig machte. Unglücklicherweise musste das erste, bis dahin prothetisch noch immer unversorgte Implantat in Regio 11 kurze Zeit später ebenfalls wieder entfernt werden, da sich hier eine Periimplantitis manifestiert hatte. Fast zwei Jahre nach dem Unfall erfolgte die Implantation von zwei Implantaten in Regio 11 und 21 und die prothetische Versorgung wurde für 2020 geplant.

Diskussion

Nach Replantation eines avulsierten Zahns besteht, bedingt durch die beträchtliche parodontale und pulpale Schädigung, stets das Risiko des Zahnverlustes. Im geschilderten Fall waren mehrere Umstände und Therapieentscheidungen nicht ideal und höchstwahrscheinlich zumindest teilweise der Grund für den endgültigen Verlust des Zahnes. 

Eine überaus wichtige Rolle für die Erfolgsaussicht spielt die Aufbewahrung des Zahns nach Avulsion. Idealerweise erfolgt die Replantation noch direkt am Unfallort. Bei grober Verunreinigung sollte der Zahn zuvor maximal für 10 Sekunden unter kaltem Wasser abgespült werden7. Steht eine Zahnrettungsbox zur Verfügung, so ist sie grundsätzlich erste Wahl als Lagerungsmedium. In dieser Box können Desmodontalzellen mindestens 24 Stunden überleben. Die Überlebenszeit und damit verbundene Erfolgsaussicht ist bei Lagerung in Milch, Speichel, Kochsalzlösung oder in der Mundhöhle deutlich geringer8. Vermieden werden sollten die Aufbewahrung in Wasser oder Trockenlagerung. Im geschilderten Fall war der Zahn etwa 40 Minuten trocken gelagert worden, bis er in eine Zahnrettungsbox eingelegt wurde.

Da es sich um einen bleibenden Zahn mit geschlossenem Apex handelte, war eine zeitnahe endodontische Therapie angezeigt9. Im geschilderten Fall wurde der Zahn bereits am vierten Tag nach der Replantation trepaniert. Jedoch hätte als medikamentöse Einlage besser ein antibiotikum- und kortikosteroidhaltiges Präparat mit antiinflammatorischen und antiresorptiven Eigenschaften (Ledermix, Riemser) verwendet werden sollen10−12. Zusätzlich erscheint auch ein etwas längerer Zeitraum von mindestens zwei Wochen empfehlenswert7. Die erfolgte apikale Fixation des Zahns mit einer Schraube ist ebenfalls sehr kritisch zu betrachten, da sie die vor Resorption schützende Präzementschicht beschädigt, den replantierten Zahn unphysiologisch fixiert und zudem auch Mikroorganismen eine weitere Eintrittspforte in das Zahninnere bietet.
Empfohlen wird eine flexible Schienung des replantierten Zahns, da starr verankerte Zähne ein hohes Ankyloserisiko aufweisen13,14.

Der fehlende Kofferdam aufgrund mangelnder Compliance der Patientin während der Wurzelkanalbehandlung ist ebenfalls als ungünstig zu bewerten, da dies das Risiko einer Rekontamination des Kanalsystems zusätzlich erhöht. Zudem hätte der Recall, vor allem die anfänglichen röntgenologischen Kontrollen, engmaschiger ausfallen sollen, sodass die Resorptionen wahrscheinlich in einem früheren Stadium hätten diagnostiziert und behandelt werden können. Empfohlen werden röntgenologische Kontrollen 2 Wochen, 4 Wochen, 3 Monate, 6 Monate und 1 Jahr nach einer Replantation7,15.

Ohne Frage ist der Verlust des Zahns in diesem Fallbeispiel bedauerlich. In Anbetracht des schlussendlichen Misserfolges und des direkten Verlustes des Nachbarzahns 11 durch den Unfall hätte die sofortige Entscheidung für zwei Implantate zweifellos die bessere Alternative dargestellt, nicht zuletzt in Anbetracht der psychischen Belastung und Einschränkung der Lebensqualität einer 36-jährigen Frau mit einem inzwischen fast zweijährigen Frontzahn-Interimsersatz.

Ein Beitrag von Jan Herrmann, M.Sc., München

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Endodontie 4/2021 Endodontie

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