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Einflussfaktoren, Symptomatik, Prävention und Management

Klinisches Bild der unteren Gesichtshälfte einer älteren Patientinauf einem zahnärztlichen Behandlungsstuhl mit angeschwollener rechter Wange.

Spülunfall bei einer weiblichen Patientin nach endodon­tischer Behandlung der Zähne 12 und 13 alio loco. Extraorale Schwellung direkt nach der Spülung mit NaOCl 6 % und einer TruNatomy Spülkanüle (Fa. Dentsply Sirona, Charlotte, N.C., USA).

(c) Dr. Eva Magni

Natriumhypochlorit ist aufgrund seiner gewebeauflösenden und antimikrobiellen Eigenschaften das Spülmedium der Wahl bei der Wurzelkanalbehandlung. Der Spülunfall bezeichnet ein Ereignis, bei welchem das Natriumhypochlorit während der Wurzelkanalspülung über den Apex in das periapikale Gewebe gelangt und ausgeprägte Schmerzen, Einblutungen und Schwellungen bis hin zu Gewebedefekten oder neuronalen Beeinträchtigungen verursachen kann. Ein offener Apex oder eine Perforation werden häufig als ursächliche Faktoren für einen Spülunfall angesehen. Das Autorenteam aus Dr. Eva Magni, Prof. Dr. Roland Weiger und PD Dr. Thomas Connert beschreibt im Beitrag aus der Endodontie 03/2023 mögliche Symptome eines Spülunfalls, diskutiert Einflussfaktoren und erläutert Therapiemaßnahmen. Es zeigt außerdem auf, welche Spülmaßnahmen an Zähnen mit offenem Apex als sicher anzusehen sind.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Die Wurzelkanalspülung spielt bei der chemomechanischen Desinfektion während der Wurzelkanalbehandlung eine entscheidende Rolle1,2. Aufgrund der anatomischen Komplexität des Wurzelkanalsystems sind Aufbereitungsinstrumente nicht in der Lage, die gesamte Kanaloberfläche zirkumferent zu bearbeiten. Ovale Kanalquerschnitte, Isthmen oder Ramifikationen erschweren die mechanische Wurzelkanalaufbereitung; so bleiben mindestens 35 Prozent der Oberflächen unberührt3−5. Ein Ziel der Wurzelkanalspülung ist es, die verbleibenden Mikroorganismen abzutöten, deren Zerfallsprodukte zu neutralisieren und Gewebereste zu denaturieren. Das Spülmedium der Wahl ist seit geraumer Zeit aufgrund seiner exzellenten gewebeauflösenden und auch antimikrobiellen Eigenschaften Natriumhypochlorit (NaOCl)6−8.

Diese positiven Eigenschaften in Bezug auf die zu eliminierenden Mikroorganismen und Gewebereste bedeuten jedoch bei Überpressung des Natriumhypochlorits in das periapikale Gewebe eine erhebliche Gefahr. Natriumhypochlorit weist eine Toxizität auf, welche bei periapikaler Extrusion unter anderem zu starken Schmerzen, Schwellungen und Hämatomen führen kann9,10. Solche sogenannten Spülunfälle wurden in der Literatur in diversen Fallberichten beschrieben9,10.

In einer Umfrage bei mehr als 300 Endodontologen in den Vereinigten Staaten gaben 42 Prozent der Befragten an, mindestens einen sogenannten Spülunfall bereits erlebt zu haben11. Als vermutete Ursache wurde am häufigsten ein durch Überinstrumentierung oder durch eine periapikale Pathologie verursachter offener Apex genannt11. Die tatsächliche Häufigkeit eines Spülunfalls ist unbekannt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass ein Spülunfall ein seltenes Ereignis darstellt, obwohl die Wurzelkanalbehandlung eine häufig durchgeführte Therapie in der zahnärztlichen Praxis ist9,12. Die Relevanz der Thematik ist trotzdem erheblich, schließlich wird ein Spülunfall als äußerst herausfordernde und belastende Situation für Zahnärzte und Patienten beschrieben9,10.

Natriumhypochlorit

Natriumhypochlorit wurde bereits im ersten Weltkrieg in 0,5prozentiger Konzentration als Dakin’sche Lösung verwendet, um infizierte nekrotische Wunden zu desinfizieren13. Aufgrund des breiten antimikrobiellen Spektrums und der gewebeauflösenden Wirkung, insbesondere bei nekrotischem Gewebe, wird NaOCl seit 1920 als Spülmedium der Wahl in der Endodontie verwendet14−16. Hierbei werden 0,5- bis 5,25prozentige Lösungen angewendet17. Die Wirkung des NaOCl ist zeit- und konzentrationsabhängig17. Bisher konnte die klinische Überlegenheit von 5prozentigen Lösungen gegenüber niedriger konzentriertem NaOCl nicht abschließend belegt werden18−20. Jedoch steigen mit der Konzentration auch die Toxizität und möglicherweise auch die Wahrscheinlichkeit postendodontischer Beschwerden17,21.

Reaktives Chlor kann in zwei Formen vorliegen, als Hypochlorit (OCl) oder hypochlorige Säure (HOCl), wobei aufgrund des basischen pH-Wertes des reinen Natriumhypochlorits, wie es in der Endodontie verwendet wird, das OCl überwiegt17. Hypochlorit wirkt stark oxidierend und vermag zelluläre Proteine anzugreifen22. In vitro wurde die vollständige Hämolyse von Erythrozyten im Kontakt mit stark verdünntem NaOCl gezeigt23. In Tierversuchen verursachte Natriumhypochlorit bei Hornhautexposition mittlere bis starke Irritationen und intradermale Injektionen führten zu schmerzvollen Ulzerationen23. In Analogie dazu kann NaOCl bei der Überpressung in periapikales Gewebe unter anderem Zellmembranen von Erythrozyten, Fibroblasten und Endothelzellen zerstören22,23. Hämolysen, Gewebedefekte von Haut und Schleimhaut und eine verminderte Immunantwort aufgrund fehlender Neutrophilenmigration sind mögliche Folgen22,23.

Symptomatik

In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 wurden 52 Fallberichte zu Spülunfällen ausgewertet9. Die Symptomatik wird nachfolgend aufgezeigt. Vorausgehend anzumerken ist allerdings, dass vermutlich hauptsächlich „spektakuläre“ Spülunfälle mit ausgeprägter Symptomatik veröffentlicht werden. So wird die Ausprägung der Symptomatik bei einem Spülunfall möglicherweise überschätzt. Zudem bleibt unklar, wie häufig das periapikale Gewebe mit Natriumhypochlorit in Kontakt kommt, ohne dass Symptome auftreten.

Ein akutes Leitsymptom ist ein starker, stechender und brennender Schmerz, der während der Wurzelkanalspülung auftritt, selbst wenn eine ansonsten ausreichende Anästhesie vorliegt. Dies wurde in der genannten Übersicht in fast 90 Prozent der Fälle beobachtet. Eine anschließende Schwellung innerhalb von Minuten bis Stunden trat sogar noch häufiger auf (Abb. 1). Entzündungsmediatoren erhöhen hierbei die Gefäßpermeabilität und es entwickelt sich ein entzündliches Ödem. Die Schwellungen wurden als ausgedehnt und diffus beschrieben und traten intra- und/oder extraoral auf. In etwa einem Drittel der Fälle wurde eine profuse Blutung aus dem Wurzelkanal beobachtet.

Im Anschluss traten bei mehr als der Hälfte der Patienten aufgrund der auftretenden Hämolyse Einblutungen auf, sogenannte Ekchymosen (Abb. 2). Interessanterweise wurde in vielen Fallberichten dasselbe Verteilungsmuster dieser Ekchymosen beobachtet24. Einblutungen traten im Mundwinkel und sogar periorbital und im Halsbereich auf, während die betroffenen Patienten lateral der Nase keine Ekchymosen aufweisen. Fraglich ist, weshalb es zu einer solch ausgeprägten Symptomatik kommt, wenn davon ausgegangen wird, dass nur kleinste Mengen an Natriumhypochlorit überpresst werden. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2013 stellte hierzu eine Hypothese auf24: Der periapikale Gewebedruck muss während des Wurzelkanalspülung überwunden werden, damit die Spülflüssigkeit überpresst wird. In der Literatur werden unterschiedliche Zahlen für diesen periapikalen Gewebedruck angegeben. Einige Autoren gehen davon aus, dass dieser dem zentralvenösen Druck (5,88 mmHg) entspricht25,26. Der tatsächliche Gegendruck ist jedoch unklar und wird vermutlich durch individuelle Komponenten wie das Geschlecht und den periapikalen Zustand beeinflusst. Wurde das Natriumhypochlorit schließlich überpresst, kommt es zur Infusion des NaOCl in das venöse Blutsystem und zur Beschädigung der Blutgefäße mit Extravasation von Blut in das Weichgewebe. In den meisten Fällen drainieren die Venolen der Pulpa in den Plexus pterygoideus. Jedoch ist das venöse Blutsystem sehr variabel. So besagt die Hypothese, dass es aufgrund einer anatomischen Variation zur intravenösen Infusion des überpressten Natriumhypochlorits in die Vena facialis kommt. Die Vena facialis ist verbunden mit den Lippenvenen und den Venen des Augenlides, wo die Ekchymosen schließlich entstehen. Lateral der Nase wird die Vena facialis von den Zygomatikusmuskeln und einem Fettkörper verdeckt, die Einblutungen bleiben somit verborgen. Die Vena facialis mündet in die Vena jugularis interna, so kann die Ausbreitung der Einblutungen bis in den Hals- und Brustbereich erfolgen (Abb. 3a und b).

In etwa einem Drittel der Fälle wurde im weiteren Verlauf über Nekrosen des Weichgewebes und des Knochens aufgrund chemischer Verbrennungen berichtet. Ebenfalls in etwa einem Drittel der Fälle konnte eine neurologische Beteiligung beobachtet werden. Abhängig von der Proximität des Apex zu den entsprechenden Nerven wurden sensorische und motorische Einschränkungen bei Kompromittierung des Nervus trigeminus beziehungsweise facialis beobachtet. In wenigen Fällen kam es zu einem Trismus, wobei dieser meist mit einem Spülunfall im Oberkiefer assoziiert war.

Selten, überwiegend nach apikaler Extrusion von Wasserstoffperoxid (H2O2) oder Druckluft, werden auch emphysemartige Symptome beschrieben, wobei ein Gewebeknistern (Krepitus) typisch ist.

Durch Schwellungen nach Spülunfällen im Oberkiefer kommt es in seltenen Fällen zu Einschränkungen des Sichtfeldes und zu Doppelbildern. Ebenfalls selten werden schwerwiegende Symptome wie Schluckbeschwerden und Atemwegsobstruktionen verzeichnet. In diesen Fällen kommt es nach der Wurzelkanalbehandlung im Unterkiefer zum Anheben des Mundbodens. Weiter kam es in wenigen Fällen zu sekundären Infektionen kommen.

Bei Überpressung von Natriumhypochlorit in den Sinus maxillaris wird häufig eine gemäßigte Symptomatik beschrieben, da der Abfluss des Spülmediums garantiert und die Kontaktzeit gering ist. So wird seltener von starken Schmerzen, sondern eher von einem brennenden Gefühl berichtet. Ekchymosen und Schwellungen bleiben häufig ganz aus. Es kommt zu einem Ausfluss des Natriumhypochlorits über die Nase oder auch zu Nasenbluten. Die Patienten klagen zudem über einen kratzenden Natriumhypochloritgeschmack im Rachen.

Der Verlauf bei Beteiligung des Sinus ist ebenfalls gemäßigt, die Symptome klingen innerhalb weniger Tage ab. Der durchschnittliche Verlauf ohne Sinusbeteiligung hingegen dauert länger. Schmerzen und Schwellungen halten einen Monat oder in wenigen Fällen auch länger an. Die Mukosaheilung dauert bis zwei Monate und resultiert in einigen Fällen in narbiger Abheilung. Beinahe die Hälfte der motorischen und Sensibilitätsstörungen sind auch nach einem Jahr nicht vollständig rückläufig9.

Einflussfaktoren und Prävention

Die Frage nach begünstigenden oder gar ursächlichen Faktoren für einen Spülunfall kann nicht abschließend geklärt werden. Patienten- und zahnbezogene Einflussfaktoren wurden in Übersichtsarbeiten erfasst9. Allerdings diskutieren Fallberichte mehrheitlich die Symptome und das Management eines Spülunfalls; mögliche Ursachen werden häufig nicht erläutert.

Frauen sind häufiger betroffen als Männer, obwohl die Häufigkeit der Durchführung der Wurzelkanalbehandlung unter den Geschlechtern gleich verteilt ist. Die Erklärung liegt vermutlich in der geringeren Knochendichte und somit dem geringeren periapikalen Gegendruck bei Frauen9,11,27. Die geringere Knochendichte ist wahrscheinlich mitunter auch dafür verantwortlich, dass im Oberkiefer Spülunfälle häufiger auftreten als im Unterkiefer. Zudem besteht aufgrund der dünnen Kortikalis im Oberkiefer eine Proximität der bukkalen Wurzeln zur labialen Knochenoberfläche9. Ein Zahn mit einer periapikalen Pathologie weist verglichen mit einem Zahn mit gesundem periapikalem Parodont ebenfalls einen geringeren periapikalen Gegendruck auf, was eine mögliche Begründung für ein gehäuftes Auftreten von Spülunfällen bei apikalen Parodontitiden darstellt9,11,27. Der Einfluss der Konzentration des verwendeten Natriumhypochlorits wird kontrovers diskutiert. Per se geht eine höhere Konzentration selbstverständlich mit einer höheren Toxizität einher; Spülunfälle wurden aber gleichermaßen auch bei Spülung mit einprozentigem NaOCl berichtet9,27. Somit bleibt unklar, ob die Konzentration einen entscheidenden Faktor darstellt.

Weitere therapiebezogene Faktoren wurden in Ex-vivo-Studien untersucht. Diese zeigen Tendenzen auf, sind aber aufgrund von Inhomogenitäten in der Methodik mit Vorsicht zu genießen27. Es empfiehlt sich trotzdem, im Sinne der Prävention die möglichen therapiebezogenen Einflussfaktoren zu erkennen und die Durchführung der Wurzelkanalbehandlung entsprechend anzupassen.

Der Kanülentyp und die Insertionstiefe scheinen eine Überpressung zu beeinflussen. Frontal offene Kanülen verursachen höhere Druckspitzen als seitlich geöffnete Kanülen bei gleichem Stempeldruck, weshalb letztere für eine sichere Wurzelkanalspülung empfohlen werden28. Je tiefer die Kanüle inseriert wird, desto höherer Druck entsteht am Apex und umso wahrscheinlicher wird eine Überpressung29. Empfohlen wird die Insertion einer konventionellen Kanüle 1−3 Millimeter vor Arbeitslänge30. Wird eine Kanüle verkeilt, ist kein koronaler Abfluss der Spülflüssigkeit möglich und die Gefahr einer Überpressung steigt27,31. Ein Verkeilen der Kanüle soll daher unbedingt vermieden werden. Im Umkehrschluss ist bei höheren Präparationsdurchmessern ein koronaler Abfluss eher gewährleistet und die Wahrscheinlichkeit einer Überpressung sinkt31. Wird jedoch überinstrumentiert, ist die Durchgängigkeit der Spülflüssigkeit vom Wurzelkanal in das periapikale Gewebe garantiert und eine Überpressung ist eher möglich27. In einem In-vitro-Versuch wurde weiterhin gezeigt, dass der durch den Spülfluss entstehende Druck periapikal mit der Erhöhung der Fließrate ansteigt26. Konkrete Empfehlungen bezüglich Fließraten sind schwer zu formulieren, zumal unklar ist, bei welchem Schwellenwert es zu einer Überpressung kommt.

Der Einfluss der angewendeten Spülmethoden wird kontrovers diskutiert. Nur unterdruckerzeugende Spülmethoden zeigen eindeutig kleinere Druckspitzen am Apex, verglichen mit der konventionellen Spülung26. Generell erzeugt die konventionelle Spülung höhere Druckspitzen am Apex als aktivierte Spülmethoden27,32,33. Die laseraktivierte Spülung wird jedoch bezüglich des entstehenden Drucks gerne mit der frontal offenen Kanüle gleichgesetzt34.

Als vermutete Ursache für einen Spülunfall werden in Fallberichten häufig offene Apizes, übersehene Perforationen und ein Verkeilen der Kanüle angegeben9,11,27.

Offener Apex

Eine besondere Bedeutung kommt der Wurzelkanalspülung bei wurzelunreifen Zähnen mit offenem Apex zu. Insbesondere in der Traumatologie ist die Wurzelkanalbehandlung bei Kindern häufig unumgänglich. Da in den meisten Fällen die Frontzähne betroffen sind, sollte die bestmögliche Therapie für einen langfristigen Zahnerhalt angestrebt werden35. Die mechanische Wurzelkanalpräparation steht bei wurzelunreifen Zähnen im Hintergrund, um die bereits dünnen Dentinwände nicht zusätzlich zu schwächen36,37. Umso wichtiger ist dann eine effiziente chemische Desinfektion. Es ist davon auszugehen, dass Natriumhypochlorit aus Sorge vor einer Überpressung und einem Spülunfall nur spärlich oder gar nicht am offenen Apex verwendet wird. In-vitro-Untersuchungen am offenen Apex zeigen jedoch, dass bei konventioneller Spülung mit kontrolliertem Spüldruck der vermutete apikale Gegendruck nicht überschritten wird38. Es wurde gezeigt, dass weit verbreitete aktivierte Spülmethoden wie die ultraschallaktivierte oder die laseraktivierte Spülung und das Unterdruckspülsystem EndoVac (Kerr Dental) keine bedenklichen Druckspitzen verursachen. Auch diverse Feilensysteme, die für spezielle Kanalanatomien wie große Lumina konzipiert wurden, beispielsweise die Self-Adjusting-File (ReDent NOVA) oder der XP-endo Finisher (FKG dentaire SA), können unbedenklich am offenen Apex verwendet werden. Bei der schallaktivierten Spülung mit Eddy (VDW) ist jedoch Vorsicht geboten. Hier können Druckspitzen entstehen, welche den vermuteten Gegendruck überschreiten. Auch sollte von der hydrodynamischen Spülung mit RinsEndo (Dürr Denta) am offenen Apex abgesehen werden. Der vermutete Gegendruck wurde hier in vitro in 100 Prozent der Messungen überschritten39.

Therapie

Die therapeutischen Ansätze bei einem Spülunfall sind rein empirisch. Im Vordergrund stehen die Beruhigung der Patienten und die Aufklärung. Das Patientenbefinden beziehungsweise die Schmerzintensität können beispielsweise mithilfe der zehnstufigen Visuellen Analogskala (VAS) aufgezeichnet und die extraoralen und intraoralen Symptome mithilfe einer Checkliste zum Zeitpunkt des Spülunfalls dokumentiert werden. Die Patienten werden in den ersten Stunden regelmäßig überwacht, um die Ausbreitungstendenz abschätzen zu können und gegebenenfalls lebensbedrohliche Schwellungen zu erkennen. Im weiteren Verlauf sollten die Patienten bis zum Abklingen der Symptome regelmäßig nachkontrolliert und das Befinden und die Symptomatik weiter standardisiert dokumentiert werden40.

Eher nicht empfohlen wird eine zusätzliche Anästhesie, da erfahrungsgemäß die Schmerzen hierdurch nicht weiter gelindert werden können. Vasokonstriktoren können in der Theorie zwar die weitere Ausbreitung des Natriumhypochlorits vermindern, jedoch wird das Risiko einer Nekrose erhöht. Bei diffusen Schwellungen ist eine Infiltrationsanästhesie zudem kontraindiziert. Diese kann eine Ausbreitung der Infektion begünstigen11.

Der Blutausfluss aus dem Kanal nach koronal soll bei Auftreten eines Spülunfalls unbedingt ermöglicht werden. Einblutungen können durch diese Drainage minimiert werden9. Allenfalls kann mit steriler Kochsalzlösung nachgespült werden. Keinesfalls soll mit Chlorhexidin gespült werden, da das in Kombination mit Natriumhypochlorit auftretende Präzipitat toxisch ist41. Eine Inzision zur Dekompression eines Hämatoms wurde teils als weitere Therapiemaßnahme beschrieben9.

Ein Kühlbeutel vermag in den ersten 24 Stunden die Ausbreitung des Ödems zu vermindern. Darauffolgend sollen eher warme Kompressen angewendet werden, um die Mikrozirkulation anzukurbeln, Nekrosen zu verhindern und schließlich die Heilung zu beschleunigen. Bei der Mundspülung mit warmer Kochsalzlösung wird derselbe Effekt vermutet9.

Das Verschreiben von Analgetika ist häufig unumgänglich. Effektiv hat sich hier eine Kombination aus Nichtsteroidalem Antirheumatikum (NSAR) und Paracetamol erwiesen42. Antibiotika werden bei vorhandener Ausbreitungstendenz oder bei allgemeinmedizinischer Indikation empfohlen. Auch Antihistaminika wurden teilweise angewendet, um die Ausbreitung der Ödeme zu limitieren9. Einheitliche Empfehlungen liegen aber nicht vor.

Die Klinikeinweisung wird empfohlen, sobald eine Schwellung um 30 Prozent verglichen mit der kontralateralen Seite auftritt, oder wenn die lokalisierten Einblutungen eine diffuse Ausbreitung annehmen. Ebenfalls ist eine Hospitalisierung notwendig, wenn Ulzerationen, Nekrosen, eine Beteiligung der Nerven oder eine Atemwegsobstruktion auftreten. Für eine Klinikeinweisung spricht zudem grundsätzlich die Möglichkeit des Monitorings und der intravenösen Medikamentengabe40.

Die Prognose des entsprechenden Zahnes ist nicht abhängig vom erfolgten Spülunfall. Die Beendigung der Wurzelkanalbehandlung kann in der Regel nach Abklingen der Symptome vorgenommen werden. Die Ursache für den Spülunfall gilt es hierbei zu eruieren und in der weiteren Behandlung zu umgehen. Werden beispielsweise ein Verklemmen der Kanüle, ein Überschätzen der Arbeitslänge oder eine Perforation als ursächlich für den Spülunfall angesehen, so sollten in der weiteren Therapie das Verklemmen verhindert, die Arbeitslänge korrigiert und eingehalten oder die Perforation verschlossen werden. Sofern die Ursache identifiziert und umgangen werden kann, muss in der weiteren Therapie nicht auf Natriumhypochlorit als Spülmedium verzichtet werden.

Schlussfolgerungen

Der Spülunfall ist ein seltenes Ereignis, stellt aber für Patienten und Zahnärzte eine äußerst belastende Situation dar. Mit der Erkennung gewisser Einflussfaktoren kann das Risiko für eine Überpressung minimiert werden. Insbesondere muss ein Verkeilen der Spülkanüle im Wurzelkanal verhindert werden. Bei der konventionellen Spülung sollten die Arbeitslänge respektiert und ein hoher Stempeldruck vermieden werden.

Auf die vorteilhaften Eigenschaften von Natriumhypochlorit muss auch bei Zähnen mit offenem Apex nicht verzichtet werden. Bei einem kontrollierten Spüldruck und geeigneter aktivierter Spülmethode entstehen keine hohen Druckspitzen und die Wurzelkanalspülung am offenen Apex kann als sicher angesehen werden.

Ein Beitrag von Dr. Eva Magni, Prof. Dr. Roland Weiger und PD Dr. Thomas Connert, Basel, Schweiz

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Endodontie 03/2023 Endodontie

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