Die Tagung der European Association of Osseointegration (EAO) in Genf bot einen spannenden Freitagmorgen, der mit einem eher unklinischen, aber brisanten Thema begann: dem unglücklichen Patienten. Hat man einen solchen Menschen in der Praxis stehen, gibt es mehrere Aspekte zu beachten: Es sind tatsächlich fachliche Fehler passiert, entweder in der eigenen Praxis oder durch vorige Behandelnde; oder der Patient hat spezielle Erwartungen, die den Rahmen einer normalen Behandlung sprengen.
Wie man diesen Patienten helfen kann und wann man die Betroffenen eher an einen Spezialisten empfiehlt, zeigten drei Referenten auf. Prof. Klaus Gotfredsen (Kopenhagen) stellte verschiedene Modelle zur Messung der Patientenzufriedenheit vor. Die Zufriedenheit selbst setzt sich zusammen aus der Wahrnehmung von Fähigkeiten der Behandelnden (fachliche Expertise), der Verfügbarkeit (Wartezeiten, eigene Behandlungszeit) und der Zugehörigkeit (Informationsvermittlung, Empathie, Freundlichkeit), die der Patient in der Praxis erfährt. Hinzu kommt ein neues Erwartungsniveau der Patienten, denen mit Social Media eine unerschöpfliche Quelle „schöner Lösungen“ zur Verfügung steht, die vor allem bei jüngeren Patienten aktuell Weichen stellt, die das Problem unzufriedener Patienten künftig eher verstärken wird. Gotfredsens Empfehlungen:
- Erwartungen vor der Behandlung abgleichen und anpassen.
- Informationen vom und an den Patienten sind entscheidend
- Zuhören und Anhaltspunkte herausfinden
- Fragebögen zur Entscheidungsfindung verwenden
- allgemeine und krankheitsspezifische Patientenaussagen (Patient Reported Outcome Measures, PROMS) berücksichtigen.
Zuhören und eine Beziehung aufbauen
Prof. Dr. Tim Newton, Psychologe an der Abteilung für Zahnmedizin am King's College, London, lenkte den Blick auf die Frage, wie man die wirklichen Erwartungen der Patienten wahrnehmen und vor allem psychische Belastungen oder Erkrankungen und damit Risikopatienten erkennen kann. Zahnärztinnen und Zahnärzte stellten in der Regel zu sehr die technischen Aspekte ihrer Tätigkeit in den Fokus des Gesprächs. Wichtiger aus Patientensicht sind aber Empathie und Zuhören und das Sehen und Erklären dessen, was passiert. Das fängt zum Beispiel beim Händewaschen an – das tun Zahnärzte selbstverständlich, aber für Patienten sei es wichtig, das auch zu sehen. Es sei auch sinnvoll, die eigene Praxis einmal aus Sicht der Patientenerwartungen wahrzunehmen – das fange schon im Wartezimmer an.
Grundsätzlich sei es wichtig, die zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern, die Patienten nicht nur zu informieren, sondern sich wirklich auszutauschen, Fragen zu stellen, offen zu sein. Am Ende stehe das Shared Decision Making, also die gemeinsame Entscheidung über die Therapie.
Warum äußert der Patient jetzt diesen Wunsch?
Aber was ist mit Patienten mit ungewöhnlichen oder abnormen Erwartungen? Hier müsse die Frage geklärt werden, was der Patient wolle, warum und warum jetzt? Oft führten einschneidende Ereignisse im Leben zu solchen Erwartungen. Hier sei es noch wichtiger, sich Zeit zu nehmen, Vertrauen aufzubauen und dem Patienten Zeit zu geben, damit die tatsächlichen Beweggründe ans Licht kommen können. Das bedeute mehrere Termine, Wiederholen des Gesagten/Gewünschten, Vertraulichkeit, wenig anwesende Mitarbeiter (wobei mindestens eine Zeugin/ein Zeuge bei den Terminen dabei sein sollte). Eine „Red Flag“ sei, wenn von häufigen Arztwechseln berichtet werde oder die Patienten von sehr vielen Problemen erzählen. Dann müsse man davon ausgehen, dass hinter der Unzufriedenheit mit der oralen Situation oder dem Behandlungswunsch ein psychisches Problem, eine psychische Erkrankung stecken. Am King's College sei man dazu übergegangen, in die zahnmedizinischen Anamnesebögen auch Fragen zur psychischen Verfassung, wie sie zum Erkennen von Depressionen etc. verwendet werden, aufzunehmen. Patienten, die hier auffällig seien, sollten zur Abklärung an Fachärzte verwiesen werden.
Psychotische Störungen und BDD
Dr. Páll Matthíasson aus Island machte auf Alarmzeichen aufmerksam, auf die in den Patientenaussagen zu achten ist. Insbesondere ging er auf Patienten mit psychotischen Störungen und Patienten mit Body dismorphing disorder (BDD) ein. Auch hier gilt: „Zahnärzte sind oft die Ersten, die solche Patienten in ihren Praxen erleben.“ Vor allem BDD-Erkrankungen seien immer häufiger zu beobachten, sei es ebenfalls durch ständigen Abgleich von Wunsch und Wirklichkeit per Social Media, Missbrauch oder andere traumatische Kindheitserlebnisse, auch genetische Ursachen werden diskutiert. Bei diesen Patienten ist das Suizidrisiko um mehr als 50 Prozent erhöht.
Wie kann der Zahnarzt erkennen, ob er einen Patienten mit BDD vor sich hat? Auch Matthíasson setzt auf eine spezielle Kommunikation: Der Zahnarzt ist ein Experte, kein Freund. Hilfreich ist ein freundliches, empathisches, wertschätzendes Auftreten ohne wertende Aussagen, das von professioneller Distanz geprägt ist. Fragen wie „Machen Sie sich Sorgen um Ihr Aussehen?“ oder „Wie viel Zeit verbringen Sie damit, sich Sorgen zu machen?“ „Wodurch/von wem wurden Sie beeinflusst?“ helfen, BDD-Störungen auf die Spur zu kommen. Ganz wichtig: Den Patienten ernst nehmen.
Matthíassons Take-Home-Message:
- BDD nicht als Einbildung abtun, sondern als „beunruhigende Art und Weise, wie Sie sich mit Ihrem Aussehen fühlen“ oder „Es scheint einen Unterschied zu geben, wie Sie ihr Aussehen empfinden und wie andere Sie sehen“.
- Vorsicht mit Begriffen wie „Akzeptanz“ oder „Bewältigung“, die vom Patienten als Aufforderung empfunden werden können, sich mit seinem („hässlichen“) Aussehen abzufinden.
- als nicht hilfreich gelten:
- wiederholte Zusicherungen
- kosmetische/dermatologische Eingriffe
- Verkleinerungen der Probleme
- Störung als Verrücktheit oder Narzissmus abtun
- Behandlung als Psychose.
Neuigkeiten bei Implantatdesigns und Komponenten
In der zweiten Session des Vormittags ging es um Neuheiten bei Implantatsystemen, Komponenten und Materialien. Der Vortrag des Schweizer Implantologen Dr. Konrad Meyenberg war ein Husarenritt durch die Geschichte der Implantologie – sein Fazit:
- Soft Tissue Level Implantate können mit Lücken verbundene biologischen Auswirkungen besser berücksichtigen.
- Soft Tissue Level Implantate zeigen eine günstige Knochenmodellierung und die niedrigsten Verlustraten von Knochenvolumen.
- Unter Belastung gibt es keine dichte Verbindung; eine tiefe subkrestale Platzierung wird nicht empfohlen.
- Unter Belastung zeigen konische Verbindungen mehr Verformung und Abnutzungen als butt joint connections
- Konische Verbindungen haben ein höheres Frakturrisiko von Implantathals und Abutment.
- Raue Implantathälse und poröse Oberflächen bieten ein höheres Risiko für Periimplantitis.
Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten die Bedeutung des Implantatdesigns und seine Wirkung auf die Biologie nicht unterschätzen, ebenso seine Auswirkungen auf technisches Versagen. Sie sollten die Stärken und Schwächen ihres Systems kennen – die Feinheiten machten den Unterschied. Und es komme auf die richtige Anwendung/Indikation an.
Dr. Vencestlav Stankow stellte das V3-Implantatsystem mit triovalem Halsbereich von Nobel Biocare (N1) vor, die Vorteile sind knochenschonende Insertion trotz vergrößerter Kontaktfläche zum Knochen, schmalere Komponenten, die mehr Platz für das Weichgewebe und mehr Optionen für das Platzmanagement schaffen.
Voraussetzungen schaffen, damit Mutter Natur ihren Job machen kann
Dr. Luigi Canullo widmete sich in seinem Beitrag verschiedenen Konzepten der Modifizierung transmukosaler Komponenten. Wichtig ist unter anderem die stoffliche und mikrobiologische Reinheit der Oberflächen der Abutments, hier sind individuell erstellte Abutments häufiger kontaminiert als industriell vorgefertigte. Plasmabehandlungen räumt er durch Erhöhung der hydrophilen Eigenschaften gut Chancen ein. Sein Fazit: Der prothetische Arbeitsablauf beeinflusst die Integration des Abutments – je häufiger das Gewebe durch Entfernen von Komponenten gestresst werde, desto schlechter. Daher sei das Konzept „One Abutment one Time“ zu bevorzugen. Die Modifikation der Außenfläche des Abutments verbessert langfristig dessen Integration, wenn sie nicht unterbrochen wird. Die mikrobiologische Umgebung konkurriert mit den Fibroblasten um das Platzangebot.
Highlight des Freitagnachmittags war eine Live-OP im Doppelpack: Prof. Istvan Urban operierte im ungarischen Budapest, Prof. Mario Roccuzzo im italienischen Turin jeweils Patienten mit Knochendefiziten und zeigten dabei unterschiedliche Vorgehensweisen der 3-D-Rekonstruktion von Knochendefekten, Lappen- und Nahttechniken. Urban nutzte eine titanverstärkte Membran für den Aufbau eines großen Knochendefekts im Unterkiefer, Roccuzzo für einen Defekt 12-22 in der Oberkieferfront ein mit 3-D-Technologie für den Defekt vorgefertigtes Titanmesh.
Karen Nathan, Marion Marschall, Berlin
Mehr Impressionen von der EAO in Genf, insbesondere vom Quintessenz-Stand und den druckfrisch erschienenen Büchern, sehen Sie hier im Blog „Meet Quintessence …“.