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Die Digitalisierung beginnt, die therapeutischen Perspektiven in der Realität zu verändern – Dr. Uwe Axel Richter lenkt den Blick auf neue, disruptive Veränderungen

(c) Pixelvario/Shutterstock.com

Dem Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen auszuweichen, ist schwierig bis unmöglich, den damit zumeist verbundenen negativen Gefühlsaufwallungen ebenfalls. Man hört „Telematikinfrastruktur“ – und im Kopf startet der „Horror“-Film.

Doch die bei diesem Thema naheliegende Reduktion der Digitalisierung auf die Telematikinfrastruktur (TI) samt deren gesetzlich oktroyierten Anwendungen verstellt leider zu oft auch den Blick für die Veränderungen, die bereits Raum greifen und perspektivisch ein enormes disruptives Potential für das etablierte Versorgungssystem und die gewohnten Rollen haben. Deshalb einmal ein kurzer Blick auf das weitgespannte Thema, diesmal von DiGAs, den Digitalen Gesundheitsapps, über den neuesten Vorschlag des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung bis zu den Aktivitäten der Parfümeriekette Douglas.

Expertenkonsens der DGIM zu den Gesundheitsapps

Vor wenigen Tagen stolperte ich über eine Pressemeldung der altehrwürdigen Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) zu den DiGAs mit der Überschrift: „Was kann die „App auf Rezept“ leisten? DGIM-Arbeitsgruppe legt Expertenkonsens vor“. Die internistische Fachgesellschaft nimmt das therapeutische(!) Digitalthema ernst, verfügt sogar über ein professorales kooptiertes Vorstandsmitglied für digitale Medizin. Die Arbeitsgruppe der DGIM trägt die treffendende Bezeichnung „Digitale Transformation in der Inneren Medizin“.

Der Expertenkonsens bemängelte unter anderem die geringe Anzahl internistischer DiGA’s – nur zwei von 24 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelisteten DiGA’s seien zu wenig. Ein Blick auf die Liste des BfArM mit den zu Lasten der Krankenkasse verordnungsfähigen DiGAs und deren Indikationen ist durchaus erhellend. Und ja, auch die Pharmaindustrie ist auf der Anbieterseite wieder dabei.

Allerdings lässt die wesentliche Kritik der Autoren des Konsenspapiers aufhorchen: Ärzte wüssten gerne etwas genauer über Indikation, Einsatz und Leistung der Gesundheits-Apps Bescheid, die da zu Lasten der Kassen verschrieben werden sollen. Kurz: Welche DiGA ist eigentlich gut und für welchen Patienten sinnhaft? Bei Kosten/Preisen bis zu rund 400 Euro jährlich eine auch unter wirtschaftlichen Aspekten nachvollziehbare Frage.

Desinteresse oder Lapsus?

Damit sind wir bei einer verblüffenden Feststellung des Konsenspapiers der Internisten: Ein Testzugang zu den Apps ist für Ärzte nicht vorgesehen. Und somit ist die obige Frage nicht (budget)verantwortlich zu beantworten. Ob dieser Lapsus wirklich nur an den für den damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn typischen Gesetzesschnellschüssen lag? Oder aber am geringen Interesse der Heilberufler an der Gestaltung dieses Themas?

Jedenfalls soll das im Dezember 2019 in Kraft getretene „Digitale Versorgungs-Gesetz“ eine bessere Gesundheitsversorgung durch Digitalisierung und Innovation gewährleisten. Nun führt aber der normierte Anspruch auf bezahlte Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen nicht zwangsläufig auch zu dem gewünschten „ganzheitlicheren Verständnis von Therapie“. Und was wird eigentlich aus den Daten? Wie bekommt der Arzt diese aus der Patienten-App in seine Praxisverwaltungssystem (PVS) und wie erfolgt die Auswertung? Wer jetzt noch ePA denkt, ist ganz schnell beim wunden Punkt …

Datensicherheit, Auswertung – und die Rolle von Arzt und Patient

Und der betrifft eben nicht nur die Datensicherheit oder die kontextuelle automatisierte Auswertung der Daten, sondern auch die für das ärztliche (Selbst-)Verständnis wesentliche Frage, wie sich denn die Rolle des Patienten und die des Arztes in diesem „agilen“ digitalen Kontext gestalten soll. Ob Jens Spahn dieses im Hinterkopf hatte, als er von einem schnellen und unkomplizierten Verfahren für die Einführung „therapeutischer“ digitaler Produkte sprach? Zwangs-Disruption?

Interessenverband schlägt „Telemedizinische Versorgungszentren“ vor

Apropos therapeutische digitale Produkte. Der im Zuge des Spahnschen Gesetzgebungsverfahrens gegründete Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung schlägt nun telemedizinische Versorgungszentren, kurz TMVZ, vor. In seinem vor wenigen Tagen vorgelegten Positionspapier mit dem Titel „Potenziale der Telemedizin für eine bessere Versorgung nutzen“  heißt es: „Mit einem TMVZ soll ein Leistungserbringer eingeführt werden, der – analog zu einem MVZ – eine ärztlich geleitete Einrichtung bildet, in der mehrere Ärztinnen und Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Dies gilt ebenfalls für die ärztliche Leitung, die in medizinischen Fragen weisungsfrei bleibt. Dabei sollte ein TMVZ ausschließlich Ärztinnen und Ärzte solcher Fachgebiete anstellen, die fachspezifisch telemedizinische Versorgung erbringen können. Damit wird die bisherige Limitierung der Telemedizin adressiert: Telemedizinisch durchführbare Leistungen werden nun auch tatsächlich telemedizinisch erbracht. Damit wird mehr Patientinnen und Patienten der Zugang gewährt“.

Digital gedachte Antwort auf Ärztemangel in der Fläche

Wer nun denkt, dass die üblichen Regeln für MVZ gelten sollen, muss auch hier im wahrsten Sinne des Wortes neu denken, denn: „Stattdessen kann für ein TMVZ das gesamte Bundesgebiet als einheitlicher Planungsbereich fungieren. Dies ist sinnvoll, da medizinische Leistungen im TMVZ ortsunabhängig durchgeführt werden können“. Dies ist die digital gedachte Antwort auf den sich abzeichnenden Ärztemangel, vor allem in der sogenannten Fläche.

Die Webseite, zu finden unter „digital versorgt.de“, ist einen Blick wert. Man sollte dabei die Fotos und Aussagen einmal unvoreingenommen auf sich wirken lassen und den Gedanken zulassen, wie sich die altgewohnte Medizin für die Akteure verändern wird.

Apothekenmarkt erneut als Blaupause

Zuletzt ein Blick auf einen weiteren neuen Player, der die Planche des Gesundheitswesens betreten will – die Parfümeriekette Douglas kauft die Versandapotheke Disapo und steigt damit in den Apothekenmarkt ein. Wesentlicher Treiber: das e-Rezept!

„So what“, könnte man sagen, auch DocMorris und Konsorten sind noch weit von ihren Marktanteilsprognosen entfernt. Doch Douglas ist anders aufgestellt – und darin liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Apotheken. Denn die Parfümeriekette hat nach eigenen Angaben allein in Deutschland bereits Millionen von Kundinnen auf ihrer Digitalplattform. Hier muss nicht Reichweite mittels Werbung mühsam und teuer aufgebaut werden – sie ist bereits vorhanden, und dass sogar europaweit. Die Grenzen zwischen Schönheit und Gesundheit verschwimmen, man will Beauty- und Gesundheitsplattform werden.

Digitalisierung verändert auch Perspektiven in der Zahnmedizin

Was das alles mit der Zahnmedizin zu tun hat? Mit der jetzigen wenig, mit der zukünftigen viel, und dies umso mehr, je stärker sich die Zahnheilkunde als orale Medizin versteht. Denn die Digitalisierung beginnt, die therapeutischen Perspektiven in der Realität zu verändern. Und die bestehen bekanntlich nicht nur aus Bohren und Füllungen, wie zum Beispiel die PAR-Behandlungsstrecke exemplarisch deutlich macht. Die Digitalisierung verändert aber auch die ökonomischen Perspektiven – von den Umsatzmöglichkeiten in der eigenen Praxis bis hin zu neuen Wettbewerbern, die nicht aus der Zahnmedizin kommen. Die Aligner-Problematik lässt grüßen.

Die Politik hat den Weg zu einer industriell strukturierten Versorgung geebnet. Darauf gilt es als Berufsstand Antworten zu finden. Oder wie es Tina Müller, die Douglas-Chefin, in ihrem früheren Berufsleben auf den Punkt brachte: „Umparken im Kopf“!

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

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