Die Behandlung von Erwachsenen nimmt einen hohen Anteil im kieferorthopädischen Alltag ein. Erwachsenenbehandlungen zeichnen sich in der Kieferorthopädie meist durch eine hohe Komplexität aus und erfordern daher das Zusammenspiel mehrerer Fachdisziplinen, um das Behandlungsziel zu erreichen. In der Rubrik „Interdisziplinäre Kieferorthopädie“ in der Zeitschrift „Kieferorthopädie“ werden solche komplexen interdisziplinären Patientenbeispiele vorgestellt. Der folgende Beitrag aus dieser Fachzeitschrift, Ausgabe 1/20, basiert auf der Originalpublikation von Hürzeler et al. im Int J Esthet Dent 2019;14:116–117.
Die „Kieferorthopädie“ informiert viermal im Jahr über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen aus Praxis und Wissenschaft. Die Beiträge befassen sich mit allen Sachgebieten der modernen Kieferorthopädie. Praxisnahe Patientenberichte und Übersichtsartikel bilden das Herzstück jeder Ausgabe. Kongressberichte, Buchbesprechungen, Praxistipps, Interviews und eine ausführliche Übersicht über kieferorthopädische Fortbildungsveranstaltungen runden das redaktionelle Spektrum ab. Eine Vielzahl von anschaulichen, zum größten Teil farbigen Abbildungen in optimaler Reproduktionsqualität illustriert die einzelnen Beiträge. Mit kostenlosem Zugang zur Online-Version recherchieren Abonnenten komfortabel online – auch rückwirkend ab 2003 im Archiv. Kostenloser Zugang zur App-Version für Abonnenten. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Patientenbeispiel
Die 35-jährige Patientin stürzte mit dem Fahrrad und erlitt eine Fraktur der Zähne 12, 11 und 21. Zahn 11 zeigte einen horizontalen Frakturverlauf unterhalb des Knochenniveaus. Die Patientin wurde nach einer vor Ort erfolgten Notfallbehandlung in die Praxis überwiesen. Ihr Hauptanliegen war eine Wiederherstellung der Ausgangssituation mit gleichzeitiger ästhetischer und funktioneller Rehabilitation. Aufgrund einer hohen Motivation der Patientin konnte von einer guten Patientenmitarbeit ausgegangen werden. Die Prognose für den Zahn 11 wurde als zweifelhaft bis hoffnungslos eingeschätzt.
Im Behandlerteam wurden verschiedene Behandlungsoptionen diskutiert, um den Patientenwunsch zu erfüllen. Es wurde folgender Behandlungsplan festgelegt:
- endodontische Behandlung Zahn 11,
- Kompositrekonstruktionen an Zahn 12 und 21,
- Extrusion von Zahn 11.
- Die Zähne 12, 21 und 11 sollten im Anschluss prothetisch versorgt werden.
Die kieferorthopädische Extrusion des Zahns 11 wurde mit zwei Miniimplantaten vorgenommen (OrthoEasy, Dimension: 1,7 x 8 mm, Fa. Forestadent, Pforzheim, Deutschland), die in den anterioren Gaumen eingebracht wurden. Die anteriore Gaumenregion ist für die Insertion von Miniimplantaten die am besten geeignete Region. Sie zeichnet sich durch die geringste Miniimplantat-Verlustrate1 und eine einfache klinische Identifikation des Insertionsorts aus2. Das Angebot an horizontalem Knochen ist im anterioren Gaumen zudem ausreichend groß und der Durchmesser der Miniimplantate daher nahezu unlimitiert. Die Länge der Miniimplantate sollte 8 bis 9 Millimeter jedoch nicht überschreiten, da das vertikale Knochenangebot limitiert ist3.
Die das Implantat umgebende attached Gingiva wird für eine komplikationslose Belastungszeit der Miniimplantate benötigt4. Der anteriore Gaumen ist von einer dünnen Schicht keratinisierter Gingiva bedeckt und weist eine Dicke von ca. 1,5 mm auf5,6. In der Regel werden am Patienten meist zwei Miniimplantate von 7 bis 9 mm Länge und 1,8 bis 2,3 mm Durchmesser empfohlen. Der transgingivale Anteil der Miniimplantate sollte einer Länge von 1,5 bis 2 mm entsprechen. Da palatinal gesetzte Miniimplantate im Gegensatz zu den interradikulär gesetzten Implantaten niemals mit der Zahnbewegung kollidieren, können sie hinsichtlich biomechanischer Überlegungen maximal flexibel eingesetzt werden7.
Auf den beiden Miniimplantaten wurde eine analog im Labor gefertigte Apparatur zur indirekten Verankerung des Zahns 11 befestigt (federharter Draht, Durchmesser: 1,2 mm, Forestanit Super, Fa. Forestadent). Die Verankerungseinheit wurde palatinal an den Zähnen 13–12 und 21–22 adhäsiv mit Komposit befestigt. Vestibulär wurde an den Zähnen 13–22 eine Multibandteilapparatur adhäsiv befestigt (Brackets: QuicKlear III, Fa. Forestadent). Die Extrusion des Zahns 11 erfolgte mit einem 0.016” NiTi Bogen (Fa. Forestadent). Grundsätzlich kann die Extrusion durch Bracketumplatzierung oder Extrusionsbiegungen des Drahtbogens vorgenommen werden. Die Möglichkeit, Weich- und Hartgewebe durch kieferorthopädische Extrusionsbewegungen zu gestalten, wurde 1993 von Salama et al.8 beschrieben.
Im vorliegenden Fall betrug die Extrusionsphase sechs Monate. Nach der Extrusionstherapie wurde der Zahn präpariert und eine provisorische Krone zementiert, um den Zahn in seiner koronalen Position zu stabilisieren. Nach acht Monaten wurde die definitive verblendete Zirkonoxidkrone auf Zahn 11 adhäsiv eingesetzt. An den Zähnen 12 und 21 erfolgte die adhäsive Befestigung zweier Veneers aus Feldspatkeramik. Die Patientin wurde in ein Recallprogramm aufgenommen.
Schlussfolgerungen
Dieser Fall zeigt eindrücklich, dass das Hauptanliegen in der ästhetischen Zone stets dem Erhalt gesunder Zahnsubstanz gilt und somit die Grundlage für die Behandlungsplanung sein sollte. Wenngleich die Langzeitprognose hinsichtlich der Langzeitstabilität in diesem Fall mit Implantaten besser gewesen wäre, wäre der endgültige Erfolg der Restauration hinsichtlich des ästhetischen Ergebnisses fraglich. Implantate sollten soweit möglich in der ästhetischen Zone vermieden werden. Sollte einer der geschädigten Zähne in Zukunft dennoch frakturieren, ergibt sich immer noch die Möglichkeit des Einsetzens von Implantaten. Der Wunsch der Patientin konnte mit dem dargestellten Behandlungsablauf somit entsprochen werden.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Markus Hürzeler, Dr. Otto Zuhr, Dr. Wolf Richter, Dr. Bärbel Hürzeler und Uli Schoberer, alle München, Dr. Björn Ludwig und Dr. Moritz Zimmermann, beide Traben-Trarbach
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