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Finanzvorschuss und „Primärarztsystem“ – das gesundheitspolitische Programm der neuen Bundesregierung bleibt viel zu vage, meint Dr. Uwe Axel Richter
(c) c-2024-Tobias-Koch
Den Überraschungseffekt der Kanzlerwahl erreichte die Regierungserklärung von Friedrich Merz in der vergangenen Woche nicht. Mit markigen Worten arbeitete sich der Neukanzler eine Stunde lang durch die Beschreibung seines „ambitionierten“ Reiseprogramms der ersten Tage und deutlich weniger ambitioniert, eher aufzählend, durch die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD.
Für die Gesundheitspolitik fand er nur wenige Worte. Und das, obwohl nur wenige Stunden zuvor – schon wieder eine wenig überraschende Überraschung – der Bund seine euphemistisch als „Bundeszuschuss“ bezeichneten Zahlungen an die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Teilen aus dem Dezember in den Mai vorziehen musste, um mit 800 Millionen Euro die Liquidität des Gesundheitsfonds zu sichern. Ansonsten wäre die kurzfristige Zahlungsfähigkeit vornehmlich der kleinen Kassen gefährdet gewesen (sie hatten die gesetzliche Mindestreserve bereits unterschritten). Mit anderen Worten: Man hat Insolvenzschutz betrieben, was im Hinblick auf das Vertrauen der Versicherten in die GKV eine gute Sache ist.
Finanzmanöver des letzten Augenblicks
Überraschend kam dieses Manöver des letzten Augenblicks für die meisten, die die Entwicklung der Finanzlage der Krankenkassen verfolgt haben, nicht. Überraschend war allerdings der Zeitpunkt des Öffentlichwerdens – nämlich am Abend vor der Regierungserklärung von Neukanzler Friedrich Merz. Wie das halt so mit Finanzlöchern und deren zeitlichen Dimensionen ist – wenn sie da sind, sind sie da. Das müsste eigentlich auch ein Ökonom wissen, selbst wenn sich vor dem „Ö“ noch das Wörtchen „Gesundheits“ befindet.
Denn das rund sechs Milliarden Euro große Minus in der GKV aus 2024 ist ja nicht weg, schon gar nicht die Ursachen, die zu diesem erheblichen Defizit geführt haben. Mir ist es vollkommen unbegreiflich, dass ein Minister, der ursächlich an der Entstehung dieses Desasters beteiligt war – zum Beispiel mit dem gezielten Abschmelzen der Kassenreserven bei gleichzeitig steigender Belastung der GKV mit zusätzlichen versicherungsfremden Leistungen wie beispielsweise dem Transformationsfonds – auch noch der Meinung ist, gute Ergebnisse erzielt zu haben. 126 Beitragserhöhungen bei den GKV-Kassen allein in 2024 laut einer McKinsey-Analyse bei rund 100 Kassen sind ein deutlicher Hinweis für allseits steigende Kosten.
„Vorgefressen ist nachgehungert“
Während also im politischen Berlin die neuen Minister noch mit Geschichtsklitterung und freundlichen, gar lobenden Verabschiedungen Ihrer Vorgängerinnen oder Vorgänger beschäftigt waren, wurde also die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds, aus dem die GKV finanziell gespeist wird, so knapp, dass ein Teil der für den Dezember vorgesehenen Zahlungen im Wonnemonat Mai ausgeschüttet werden mussten. Nun ist der sogenannte Bundeszuschuss keine aus Güte gewährte Finanzspritze aus Steuermitteln des Bundes, sondern die noch nicht einmal vollumfängliche Abgeltung des Bundes für die der GKV auferlegten Kosten für die sogenannten versicherungsfremden Leistungen. Deren größter Brocken sind die Leistungen für Bürgergeldempfänger. Der Bund überweist als „Ausgleich“ in zwölf monatlichen Raten à 1,2 Milliarden Euro insgesamt 14,4 Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds. Im Ergebnis sind von den für Dezember 2025 vorgesehen 1,2 Milliarden nun bereits 800 Millionen Euro verfrühstückt. (Die tatsächlich anfallenden Beiträge für die Bürgergeldempfänger sind damit allerdings längst nicht gedeckt.)
Gesundheitssystem in tiefroten Zahlen
So etwas nennt man Vorschuss. In der Folge müsste die Summe bis Ende des Jahres eingespart werden. Und spätestens an dieser Stelle wird es jetzt spannend. In dem am Abend des 13. Mai erschienenen Artikel im Handelsblatt ließ sich die neue Gesundheitsministerin Nina Warken wie folgt zitieren: „Schon jetzt unterschreitet die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds die gesetzlich festgelegte Grenze [von 20 Prozent der Monatsausgaben] …“, „Die Lage der GKV ist dramatischer als ohnehin angenommen …“; „sie übernehme ein System in tiefroten Zahlen …“. „Wir müssen jetzt schnell handeln“, ein „Weiter so“ sei keine Option. Klingt wie Abwärtsspirale.
Und der Bundeskanzler schweigt
Das mit dem schnellen Handeln schien dann ausweislich der Reden von Merz wie auch Warken vor dem Deutschen Bundestag doch nicht so wichtig zu sein. Auch wenn Friedrich Merz gleich zu Beginn eben jenes schnelle Handeln in den Vordergrund stellte. „Schon im Sommer sollen die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass es voran geht“, so der Kanzler. Nun, bis zum Sommerbeginn sind es mit dem Erscheinen der Kolumne nur noch 32 Tage. Da sei die Frage erlaubt, wann denn die neue Regierung gedenkt, die ersten der dringend notwendigen „eigenen und zum Teil neuen Antworten“ (O-Ton Merz) jenseits des üblichen „wir werden“ oder „wir wollen“ zu geben.
Deshalb nachfolgend die drei Sätze aus seiner knapp einstündigen Rede, die sich mit dem Gesundheitswesen befassten. „Grundlegende Strukturreformen brauchen wir ebenfalls dringend im Gesundheits- und Pflegesystem. Auch hier werden wir uns Rat von Expertinnen und Experten und den Sozialpartnern holen. Und wir werden die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen verbessern.“
Man mag obige Aussagen angesichts der Wichtigkeit des Gesundheitswesens auch für das Vertrauen der Menschen in den Staat als nicht angemessen empfinden. Vielleicht manifestiert sich darin aber auch das Vertrauen des Bundeskanzlers in die nun verantwortliche Gesundheitsministerin Nina Warken. Er setzt darauf, dass die anstehenden Aufgaben im BMG im Gegensatz zu dem erratischen Vorgehen des Vorgängers nun strukturierter, priorisiert und teamorientiert angegangen werden.
Bürokratieabbau: Neues Denken in unseren Köpfen?
Wichtig sind in diesem Zusammenhang jedoch die Aussagen von Merz zum Thema Bürokratie. Nachfolgend in der Reihenfolge die wesentlichen Zitate aus seiner Rede. „Natürlich reicht Geld allein dafür nicht aus. Zu diesen Investitionen gehören Reformen zwingend dazu. Wir brauchen vor allem einen beherzten Rückbau der überbordenden Bürokratie in unserem Land. Und dazu brauchen wir vor allem ein neues Denken in unseren Köpfen. Wir werden die unzähligen Dokumentations-, Berichts- und Meldepflichten schnell und spürbar reduzieren. Wir werden die staatliche Verwaltung modernisieren und konsequent digitalisieren. Die notwendigen Kompetenzen dafür bündeln wir erstmalig in einem neuen Ministerium, dem Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Unser Ziel ist klar: Verwaltungsleistungen sollen einfach und digital über eine zentrale Plattform ermöglicht werden, ohne Behördengang.“
Und dann ist da noch Brüssel: „Insgesamt rücken wir die Wettbewerbsfähigkeit wieder ins Zentrum der europäischen Politik. Und wir drängen auch auf mutigen Rückbau der Bürokratie in Brüssel, auf weniger Berichtspflichten und auf weniger Vorschriften von dort.“
Bürger statt Untertanen – ein neues Grundverständnis
Der neue Bundeskanzler erklärte vollmundig: „Vieles von dem, was ich hier gerade sage, mag dem ein oder anderen ein wenig zu detailgenau vorkommen. Aber diese einzelnen Fragen, über die ich spreche, und die Antworten, die wir darauf geben, sind Teil eines neuen Grundverständnisses, das wir in der Koalition miteinander vereinbaren konnten, nämlich des Grundverständnisses, dass wir unseren Unternehmen und ihren Beschäftigten grundsätzlich nicht mit Misstrauen und Kontrollansprüchen begegnen, sondern mit Vertrauen und eben mit Verantwortung. Denn auch die Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sozialpartner in den Betrieben genauso wie die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerkschaften, sie alle tragen Verantwortung, und sie alle verdienen einen Vertrauensvorschuss. Sie verdienen mehr Freiheit und Unterstützung statt mehr Misstrauen und immer mehr Verordnungen und Vorschriften.“
Warum mehr „IT“ immer noch nicht zu weniger Bürokratie führt
Auch Merz bedient eine viel strapazierte Politikermarotte: Als ob durch den Einsatz von IT und „Digitalisierung“ die überbordende Bürokratie abgebaut werden würde. Mit dieser Behauptung „verkauft“ zum Beispiel seit 25 Jahren – beginnend mit Ulla Schmidt – jeder Gesundheitsminister den Leistungserbringern zusätzliche(!) IT. Das Gegenteil ist richtig: Überbordende Bürokratie produziert aufgeblähte Software und ist eine Wachstumsgarantie für die Softwarebranche. Der Hoffnung, dass die neue Regierung hinsichtlich des Bürokratieabbaus jenseits von Plattitüden und Appellen spürbar und eigeninitiativ tätig wird, sollte man daher nicht zu viel Raum geben. Ohne permanentes und öffentliches Einfordern des Kanzlerversprechens wird es keine Rückschnitte des Bürokratiewustes geben.
Eine Viertelstunde Plattitüden
Bleibt die Frage, ob die neue Gesundheitsministerin einen Tag später in ihrer Vorstellung des Regierungsprogramms angesichts der dringlicher werdenden Finanzprobleme in der GKV und bei den Pflegekassen konkreter geworden ist. Machen wir es kurz: Leider nicht! Nina Warken kam an ihrem 46. Geburtstag in ihrer Premierenrede als Gesundheitsministerin ebenfalls nicht über die allgemein gehaltenen Vorstellungen des Koalitionsvertrags hinaus. Wer sich die knapp zehnminütige Rede und insbesondere die nachfolgende Aussprache zu Gemüte führen möchte, findet diese auch auf dem Youtube-Kanal von Phoenix. (Wer das lieber lesen möchte, kann das auf der Internetseite des Bundesgesundheitsministerium tun.)
Gamechanger Primärarztsystem? – „Lass mal …“
Sei es der frischgebackenen Gesundheitsministerin aufgrund der kurzen Zeit im Amt nachgesehen, dass sie keine konkreten Gesetzes- und Zeitpläne lieferte. Allerdings wären abseits der Aufzählung der seit Jahren sattsam bekannten Themen respektive Problemfelder konkretisierende Worte zu einem der gemäß Koalitionsvertrag wichtigsten Versorgungsthemen der Legislatur wünschenswert gewesen: der Einführung eines Primärarztsystems. Dort heißt es bekanntlich: „Zu einer möglichst zielgerichteten Versorgung der Patientinnen und Patienten und für eine schnellere Terminvergabe setzen wir auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte in der Hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag.“
Primärarztsystem schließt die Gerechtigkeitslücke – aber nicht von heute auf morgen
In der nachfolgenden Aussprache schien für die gesundheitspolitisch aktiven Parlamentarier quer durch die Parteienlandschaft das Primärarztsystem vor allem eines zu sein: Die schnelle Lösung für das politisch zu einer Frage der Gerechtigkeit zwischen GKV- und PKV-Patienten hochstilisierten Terminproblems. Angesichts der inhaltlichen Höchstleistungen im Verlauf der parlamentarischen Aussprache habe ich allerdings meine Zweifel, ob den Parlamentariern bewusst ist, dass es nicht reichen wird, den hausärztlich tätigen Ärzten ein Schild mit der Aufschrift „Lotse“ um den Hals zu hängen und gut ist. Vielmehr wird es zu fundamentalen und aufwändigen Veränderungen des gewohnten ambulanten Systems für alle, ausnahmslos alle Beteiligten inklusive der Kassen kommen.
Aber immerhin gibt es eine Blaupause, die hausarztzentrierte Versorgung mitsamt der fachärztlichen Verzahnung in Baden-Württemberg, der Heimat von Frau Warken. Zufälle gibt es …
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Foto: Verena GaliasDr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.
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