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Experteninterview mit Dr. Imke Kaschke zur Mundgesundheit bei Handicap zum Tag der Zahngesundheit 2018

Es gibt viele Möglichkeiten, Menschen mit Behinderung für die Mundhygiene zu motivieren. Dr. Imke Kaschke erklärt in einem Gespräch zum Schwerpunkt beim diesjährigen Tag der Zahngesundheit am 25. September, welche Informationen und Hilfsmittel dabei helfen und wie Angehörige, Zahnarztpraxen und die Betreuer in den Wohneinrichtungen die Mundgesundheit bei Handicap unterstützen können.

Frau Dr. Kaschke, haben Menschen mit Behinderung ein erhöhtes Risiko für orale Erkrankungen?

Dr. Imke Kaschke: Ja. Zieht man einen Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung und betrachtet gleiche Lebensaltersgruppen, kann man feststellen, dass Menschen mit zahnmedizinisch relevanter Behinderung einen höheren Anteil fehlender Zähne haben. Auch leiden sie häufiger an Gingivitis, also Entzündungen des Zahnfleischs. Diese wird vor allem durch Zahnbelag verursacht.

Wann ist eine Behinderung zahnmedizinisch relevant?

Kaschke: Wenn sie dazu führt, dass ein Mensch nicht in der Lage ist, seine Mundhygiene selbstständig so durchzuführen, wie es erforderlich ist oder wenn zahnmedizinische Behandlungsmaßnahmen erschwert sind.

Welche Rolle spielen die Eltern für die Mundgesundheit bei Menschen mit Behinderung?

Kaschke: Eine ganz zentrale. Eltern sollten ihr Kind bei der Mundhygiene anleiten und vom ersten Zahn an regelmäßig den Zahnarzt aufsuchen, Maßnahmen der Prävention wahrnehmen und das dem Kind als Regelmäßigkeit für sein Leben mitgeben. Es ist ganz wichtig, dass der erste Kontakt zum Zahnarzt keine Schmerzbehandlung ist, sondern angstfrei und für alle Personen positiv verläuft.

Was deutet darauf hin, dass ein Mensch mit Behinderung Unterstützung bei der Mundhygiene braucht?

Kaschke: Wenn man feststellt, dass er oder sie Probleme bei der Handhabung der Zahnbürste oder der Putztechnik hat und so regelmäßig Zahnbeläge im Mund verbleiben, weil nicht alle Zähne erreicht werden. Dann ist davon auszugehen, dass Unterstützung nötig ist. Der Bedarf kann sehr unterschiedlich sein und von rein verbaler Information bis hin zur kompletten Übernahme der Zahn- und Mundhygiene gehen.

Alle Menschen sind lernfähig

Wie informiert man Menschen mit Behinderung am besten über Mundgesundheit?

Kaschke: Zunächst einmal muss man sich bewusst machen, dass alle Menschen mit einer Behinderung, natürlich auch Menschen mit geistiger Behinderung, lernfähig sind. Deshalb ist es besonders wichtig, frühzeitig anzufangen, sie für die Mundhygiene fit zu machen und dann dranzubleiben. Dafür brauchen sie Informationen, die sie erreichen und die regelmäßig wiederholt werden. Das können geschriebene Informationen in Leichter Sprache sein oder bebilderte Anleitungen. Letztlich sollte alles darauf abzielen, dass Menschen mit Behinderung ihre Gesundheitskompetenzen selbst steigern können.

Mit welchen Hilfsmitteln kann man die Mundgesundheit bei Handicap fördern?

Kaschke: Es hilft schon, eine Spezial-Zahnbürste auszuwählen und dem Menschen mit Behinderung eine adäquate Putztechnik zu vermitteln. Die Rotationstechnik etwa ist relativ einfach erlernbar. Dabei muss man vermitteln, dass der Zahn aus vielen Flächen besteht und dass nicht nur die Außen-, sondern auch die Kau- und Innenflächen besonders wichtig sind. Bei Menschen mit eingeschränkter Motorik können auch bestimmt Griffhilfen zum Einsatz kommen, damit die Zahnbürste besser gehalten werden kann.

Haben Sie Tipps für Angehörige und Pflegepersonal?


Dr. Imke Kaschke (Foto: Georg Lopata/Axentis.de)

Kaschke: Vor allen Dingen ist es wichtig, auch wenn bei Menschen mit Behinderung die Zahnpflege durch andere Personen übernommen wird, dass immer eine Selbstkontrolle möglich ist. Die Zahnpflege sollte immer vor einem Spiegel erfolgen, so dass derjenige, bei dem die Mundhygiene unterstützt wird oder wo die Mundhygiene komplett durch andere übernommen wird, verfolgen kann, was in diesem Moment mit ihm passiert. Außerdem sollte die Mundhygiene in einer gewohnten Atmosphäre, in einer vertrauten Umgebung erfolgen und am besten zu einem Zeitpunkt, wo nicht gerade der Lieblingsfilm im Fernsehen läuft, sondern wo Zeit und Muße für die Zahnpflege da sind. Oft lässt sich die Dauer der Zahnpflege durch das Spielen eines Lieblingslieds verlängern. Man kann eine Zahnputzuhr oder einen Zeitstopper einsetzen. Natürlich ist auch der Geschmack der Zahnpasta ein Faktor. Eine Selbstaktivierung kann man erreichen, indem man eine geeignete Zahnbürste auswählt, zum Beispiel eine dreiköpfige Zahnbürste, mit der er alle Zahnflächen im Mund erreicht werden und damit die Putzzeit etwas verkürzt werden kann. Ob eine Hand- oder eine elektrische Zahnbürste zu empfehlen ist, muss individuell entschieden werden.

Wie können Angehörige und Unterstützungspersonen den Zahnarztbesuch vorbereiten?

Kaschke: Das kann zum Beispiel mithilfe von Bildmaterial geschehen, das bei einem früheren Besuch in der Zahnarztpraxis aufgenommen wurde. Man sollte den Termin explizit ankündigen und sagen: „Morgen gehen wir zum Zahnarzt.“

Man sollte dabei vermeiden zu sagen, dass es nicht weh tun wird oder dass nicht gebohrt wird. Denn wenn das doch nötig sein sollte, muss der Zahnarzt Wege finden, das zu begründen.

Ganz wichtig ist, möglichst alle Unterlagen, die über den Patienten zur Verfügung stehen, zur zahnärztlichen Untersuchung mitzubringen. Das verkürzt das gesamte Prozedere. Oftmals müssen die Kollegen sonst mit den behandelnden Allgemeinmedizinern, Neurologen oder weiteren behandelnden Ärzten Kontakt aufnehmen.

Geduld und Ruhe

Wie können sich Zahnarztpraxen auf Menschen mit Behinderung einstellen?

Kaschke: Vor allem sollte das ganze Team zum ersten Kennenlernen gemeinsam auftreten. Hilfreich sind auch hier barrierefreie Informationen in Leichter Sprache oder entsprechende Praxisbeschilderungen. Bei Patienten mit schweren Sehbehinderungen kann auch der Einsatz von Anrufbeantwortern und gesprochenen Informationen helfen. Für gehörlose Patienten stellt die Kommunikation über das Internet oder ein Fax, etwa zur Terminvereinbarung, einen Barriereabbau dar. Man kann zudem bestimmte Sammelsprechzeiten für Wohngruppen anbieten. Es hilft auch, sich ein bisschen auf die Vorlieben der Patienten mit Behinderung einzustellen und vielleicht mit Musik zu behandeln oder bei Menschen mit einer autistischen Behinderung auf eine sehr reizfreie Umgebung zu achten.

In allen Fällen ist Folgendes ganz wichtig: Man braucht bei Menschen mit Behinderung, die oftmals Angst vor der Behandlung haben oder auch Angst, den Zahnarzt mit ihrer Behinderung zu konfrontieren, Geduld und Ruhe. Hektik und Stress gehören nicht dazu. Oftmals hängt der Behandlungserfolg nicht vom Schweregrad der Behinderung ab, sondern vom zwischenmenschlichen Verhältnis. Wenn man über viele Jahre Menschen mit Behinderung betreut, wird man feststellen, dass sich sehr viele zum Schluss in der Behandlung nur noch wenig von anderen Patienten unterscheiden.

Welche Fortbildungsmöglichkeiten gibt es für Zahnarztpraxen?

Kaschke: Zahnarztpraxen, die sich in diesem Bereich weiterbilden wollen, können Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderen medizinischen Unterstützungsbedarf werden oder deren Fortbildungsangebote in der Jahrestagung diesen September in Anspruch nehmen. Angebote machen auch die Landeszahnärztekammern.

Rituale schaffen und Anreize setzen

Wie können Wohneinrichtungen die Mundhygiene organisieren?

Kaschke: Menschen mit Behinderung kann man für die Mundhygiene aktivieren, indem man gewohnte Zahnputz-Rituale schafft oder indem man bestimmte Anreize setzt wie Zahnputzuhren oder Lieblingslieder. Als besonders erfolgreich hat sich ein niedrigschwelliger Ansatz erwiesen. Dabei setzt man Menschen mit Behinderung, die in einer Wohngruppe wohnen und sich besonders für die Mundhygiene interessieren, nach einer entsprechenden Schulung als Multiplikatoren ein. In dieser Rolle geben sie ihr Wissen zur Umsetzung der Zahn- und Mundhygiene an ihre Mitbewohner weiter.

Wo können sich Unterstützungspersonen, Pflegepersonal und Wohneinrichtungen informieren?

Kaschke: Sie können mit den Zahnärztekammern Kontakt aufnehmen, um zu erfragen, ob es spezielle Angebote in Wohneinrichtungen in ihrer Nähe gibt. Das ist zum Beispiel seit vielen Jahren in Berlin der Fall. Sie finden Angebote aber auch über die Landesverbände der Sportorganisation Special Olympics. Dort laufen in mehreren Bundesländern aufsuchende Angebote.

Wie findet man einen Zahnarzt, der auf die Behandlung von Menschen mit Behinderung spezialisiert ist?

Kaschke: Viele Landeszahnärztekammern haben gedruckte oder online zugängliche Praxisführer, in denen entsprechende Kollegen aufgelistet sind. Dort ist zum Teil auch nachzulesen, ob sie Wohneinrichtungen aufsuchen oder ob die Behandlung nur in der Praxis erfolgen kann und ob Behandlungen auch in Narkose möglich sind.

Gleiches Recht auf gleiche Lebensverhältnisse

Wie kann man die Zahngesundheit von Menschen mit Behinderung außerdem fördern?

Kaschke: Das ist im weitesten Sinne eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen an den Barrieren im Kopf arbeiten. Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen ist in Deutschland nach meinen Erfahrungen und nach vielen Gesprächen immer noch schwierig. Es ist eben etwas ganz Anderes, eine geistige Behinderung zu haben oder mit einem Rollstuhl unterwegs zu sein, als an Bluthochdruck oder Diabetes zu leiden. Ich glaube, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern viel Nachholbedarf in der gesellschaftlichen Wahrnehmung hat. Zum Beispiel in Schweden ist das Anderssein positiver besetzt. Fest steht: Menschen mit Behinderungen wollen genauso leben wie alle anderen und sie haben ein genau gleiches Recht auf gleiche Lebensverhältnisse und ein gleichberechtigtes Miteinander.

Vita


Dr. Imke Kaschke studierte von 1980 bis 1985 Zahnmedizin an der Charité Berlin. Ab 1985 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Zahnerhaltung am Zentrum für Zahnmedizin der Charité. Sie promovierte im Jahr 1988 und wurde 1997 zur Oberärztin ernannt. Von 1992 bis 2008 leitete sie die Zahnärztliche Sondersprechstunde für Patienten mit Behinderungen. Im Jahr 2009 schloss sie ihr Masterstudium Public Health an der FU Berlin erfolgreich ab. Seit 2009 leitet sie den Bereich Medizin und Gesundheit der Sportorganisation Special Olympics Deutschland und in dieser Funktion die seit 2011 durch das Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekte „Selbstbestimmt gesünder I-III“ sowie „Gesund durchs Leben“. Imke Kaschke ist zweite Vorsitzende der AG Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (AG ZMB) in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.


Titelbild: Jaren Jai Wicklund/Shutterstock.com
Quelle: TdZ Prävention und Prophylaxe Zahnmedizin Praxis Team Nachrichten

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