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Diagnosestellung, praktisches Vorgehen und Abgrenzung zur Pulpektomie


Dr. Mario Schulze

Seit der Etablierung hydraulischer Kalziumsilikat-Zemente gewinnen pulpavitalerhaltende Maßnahmen zunehmend an Popularität. Bei Exposition der Kronenpulpa stehen mehrere Behandlungsoptionen zur Verfügung. Anhand zweier klinischer Fälle arbeitet Autor Dr. Mario Schulze in seinem Beitrag für die Endodontie 3/19 die Pulpaamputation als eine dieser Möglichkeiten theoretisch auf, stellt den praktischen Ablauf anhand eines Patientenfalls vor und vergleicht es mit der Pulpektomie.

Die Vitalamputation ist im Milchgebiss die bekannte und anerkannte Therapiemethode bei Karies mit Pulpabeteiligung. Neben dem kariös erweichten Dentin werden auch erkrankte, das heißt irreversibel entzündete Pulpaanteile entfernt und vermutlich nicht erkranktes Pulpagewebe belassen1,2. Nach einem Frontzahntrauma mit Eröffnung des Pulpakavums ist es bis zu sieben Tage nach dem Unfall möglich, auf ähnliche Weise pulpa-vitalerhaltend vorzugehen. Die entzündlichen Veränderungen blieben in histologischen Untersuchungen bis zu dieser Expositionszeit auf die oberen 2 mm des Pulpagewebes begrenzt3. Bei der Amputation wird das exponierte Pulpagewebe in entsprechender Höhe abgetrennt und nach Blutstillung abgedeckt, wofür unterschiedliche Materialien vorgeschlagen werden4,5. Ziele der Behandlung sind die Vitalerhaltung von Teilen der Kronenpulpa oder mindestens der radikulären Pulpa und die Erhaltung der Unversehrtheit der periradikulären Gewebe. Bei noch nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum soll auf diesem Wege auch der Abschluss von letzterem (Längen- und Dickenwachstum) ermöglicht werden.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.


Im Gegensatz zur Vitalexstirpation wird bei der Vitalamputation oder auch Pulpotomie nur ein Teil des Pulpagewebes entfernt. Das Verfahren wurde bereits vor mehr als 100 Jahren als Behandlungsmethode bei partieller Pulpitis beschrieben. Die häufigste Form der Vitalamputation ist aufgrund der einfacheren Durchführung die zervikale Pulpaamputation am Wurzelkanaleingang, prinzipiell kann die Amputation aber in jedem Abschnitt innerhalb des Wurzelkanals oder der Pulpakammer erfolgen. Dabei ist es unerheblich, ob das Wurzelwachstum abgeschlossen ist. Mitentscheidend im Hinblick auf die Prognose ist, dass das verbliebene Gewebe in der Lage ist, Reparaturvorgänge einzuleiten. Klinisch sollte nach dem Abtrennen der Pulpa eine gut stillbare Blutung eintreten. Eine nicht stillbare Blutung deutet indes darauf hin, dass auch das verbliebene Pulpagewebe irreversibel entzündet ist6.

Praktisches Vorgehen

Nach Lokalanästhesie, Trockenlegung und Eröffnung des Zugangs zum betroffenen Pulpagewebe wird dieses so schonend wie möglich entfernt. Dafür hat sich das hochtourige Abtrennen mit diamantierten Schleifinstrumenten unter Kühlung durchgesetzt. Handinstrumente sowie niedrigtourig betriebene Rosenbohrer hinterlassen Riss-Quetschwunden, sodass dieses Vorgehen nicht mehr empfohlen wird7,8. Danach erfolgen im Rahmen der intrakoronalen Diagnostik die Einschätzung des Pulpagewebezustands und die Absicherung von Arbeitsdiagnose und geplantem Therapieansatz. Zur Blutstillung werden unter anderem Kochsalzlösung, Aluminiumchloridpräparate oder auch Natriumhypochloritlösung empfohlen9. Für die Abdeckung des Pulpastumpfes galten Kalziumhydroxidpräparate als Goldstandard, mit deren Anwendung aber verschiedene Nebenwirkungen verbunden sind. So wurden unter anderem sterile Nekrosen der Pulpa an der Kontaktfläche, die Versprödung der Zahnhartsubstanz, die damit verbundene Erhöhung der Frakturanfälligkeit der Zähne sowie eine Hohlraumbildung durch Resorption des Präparates beschrieben10,11. Mineraltrioxidaggregat-Präparate (MTA) lösen Kalziumhydroxid als Präparat der Wahl immer mehr ab. Bis auf Zahnverfärbungen sind keine negativen Wirkungen bekannt12. Die seit Ende der neunziger Jahre in der Zahnmedizin eingesetzten hydraulischen Kalziumsilikat-Zemente verzichten auf das verfärbende Agens und verwenden als Röntgenkontrastmittel Zirkonoxid. Aufgrund von Erfolgsquoten bei reversibler Pulpitis von 80 bis 90 Prozent nach zwei Jahren wird heute die Anwendung von MTA-basierten Zementen zur Abdeckung der Pulpawunde empfohlen7,13,14. Abschließend sollte in derselben Behandlungssitzung die klinische Krone bakteriendicht restau­riert werden, um bakterielles Mikroleakage auszuschließen.

Falldarstellung 1

Anamnese und Befund


Abb. 1 Ausgangsbefund Zahn 46.

Die dreißigjährige Patientin wurde zur Wurzelkanalbehandlung am Zahn 46 überwiesen. Die allgemeine Anamnese war unauffällig. Der Zahn zeigte zum Zeitpunkt der Erstvorstellung einen provisorischen Verschluss nach punktueller Eröffnung der Pulpakammer während einer Caries-profunda-Behandlung. Die Patientin war subjektiv beschwerdefrei, der klinische Befund unauffällig. Der Zahn reagierte auf thermischen und elektrischen Reiz sensibel, die Perkussion war negativ. Röntgenologisch zeigte sich im Bereich der klinischen Krone eine nicht randständige Füllung. An der mesialen Wurzel erschien der Parodontalspalt verbreitert (Abb. 1). 

Diagnose

Aufgrund der Asymptomatik sowie der unauffälligen Pulpadiagnostik lautete die Diagnose: reversible partielle Pulpitis.

Therapie

Nach intraligamentärer Anästhesie und Trockenlegung mittels Kofferdam wurden das provisorische Verschlussmaterial sowie das kariös erweichte Dentin im distalen Kasten entfernt und die distale Randleiste in einer Approximal-Box-Elevation-­Technik aufgebaut. Bei der Exkavation der Karies kam es zur Pulpaexposition. Nach Abtragen des Pulpakammerdachs und der Kronenpulpa am Wurzelkanaleingang konnte die Blutung durch dreiminütige Auflage eines mit 3-prozentiger Natriumhypochloritlösung getränkten Schaumstoffpellets gestillt werden (Abb. 2). Die Pulpastümpfe wurden mit dem hydraulischen Kalziumsilikat­zement Biodentine ( Septodont) abgedeckt und die Pulpakammer ebenfalls mit Biodentine gefüllt (Abb. 3). Nach 15 Minuten Wartezeit wurde die klinische Krone in Säure-Ätz- und Schmelz-Dentin-Adhäsivtechnik restauriert (Abb. 4 und 5). Die Einzelzahnaufnahme nach Behandlungsabschluss zeigt distal einen suffizienten Füllungsrand und eine intrakoronal homogen eingebrachte Füllung (Abb. 6).

Recall

Die Patientin stellte sich im Rahmen der Nachkontrollen nach sechs und neun Monaten subjektiv beschwerdefrei vor. Klinisch wie radiologisch zeigten sich keine pathologischen Befunde (Abb. 7 und 8). Der Zahn reagierte auf thermischen und elektrischen Reiz sensibel ohne auffällige Unterschiede zu den Nachbarzähnen.


Abb. 9 Röntgenologischer Ausgangsbefund Zahn 27, DVT-Ausschnitt.

Falldarstellung 2

Der einundvierzigjährige Patient wurde zur Durchführung der Wurzelkanalbehandlung am Zahn 27 überwiesen. Grund war eine unzureichende Anästhesietiefe bei der Kariesexkavation mit Einbruch in das Pulpakavum. Die allgemeine Anamnese war unauffällig. Der Zahn 27 war am Vorstellungstag klinisch symptomlos, reagierte auf Temperatur und elektrischen Reiz sensibel, war nicht perkussionsempfindlich und röntgenologisch ohne pathologischen Befund (Abb. 9).

Diagnose

Die Diagnose lautete: reversible partielle Pulpitis.

Therapie

Nach Infiltrationsanästhesie und absoluter Trockenlegung wurde die Karies unter Eröffnung der Pulpakammer entfernt. Nach Darstellung des Pulpakavums erfolgten das Abtrennen der Kronenpulpa am Wurzelkanaleingang und die Blutstillung (Abb. 10), die Applikation des hydraulischen Kalziumsilikatzementes Biodentine (Abb. 11) sowie die Restauration der klinischen Krone mit Komposit wie im Fall 1 (Abb. 12). Abbildung  13 zeigt den röntgenologischen Zustand nach der Behandlung.

Recall

Klinische sowie röntgenologische Nachkontrollen erfolgten 3, 9 und 14 Monate nach der Behandlung. Der Patient war zu allen Zeitpunkten subjektiv beschwerdefrei und zeigte weder klinisch noch röntgenologisch pathologische Befunde (Abb. 14 bis 16).

Diskussion

In beiden Fällen erfolgte die Behandlung aufgrund einer beginnenden und somit noch reversiblen Pulpitis durch eine das Pulpakavum penetrierende Karies. Die Ausbreitung der Entzündung konnte durch Abtrennen des betroffenen Gewebes gestoppt werden. Auf diese Weise gelang es, vitale, nicht betroffene Anteile der Pulpa zu erhalten und eine komplette Wurzelkanalbehandlung zu vermeiden. Die Schwierigkeit dieser Behandlungstechnik liegt vor allem darin begründet, dass die Prognose stark von der richtigen Einschätzung des Erkrankungsgrades der Pulpa abhängt. Inwieweit die Erfahrung des Zahnarztes eine Rolle spielt, ist in der Literatur nicht ausreichend untersucht. 

Die Erfolgsrate der partiellen Pulpotomie nach zwei Jahren wird in der Literatur mit 85 bis 97 Prozent angegeben15–19. Bei kompletter Entfernung der Kronenpulpa schwanken die Erfolgsquoten zwischen 75 bis 94 Prozent. Ausgangsbefunde waren jeweils reversible und irreversible Pulpitiden. Inwieweit die symptomatische irreversible Pulpitis ein vitalerhaltendes Behandlungsverfahren ausschließt, muss vor dem Hintergrund einer nur geringgradig niedrigeren Erfolgsrate sowie aufgrund neuer Erkenntnisse zu Reparaturleistungen der Pulpa in Frage gestellt werden20–23.

Im Fall des Behandlungsmisserfolgs mit einsetzender Pulpanekrose sinkt die Gesamtpro­gnose für den betroffenen Zahn unter die Prognose der Vitalexstirpation24,25. Aus diesem Grunde sollte der Zustand von Pulpa und Zahn im Rahmen der klinischen Nachuntersuchung nach 3, 6 und 12 Monaten kritisch geprüft werden. Durch den nach Therapie größeren Abstand von vitalem Gewebe zum Ort der Sensibilitätsprüfung im Bereich der klinischen Krone kann die Reaktion der Pulpa verzögert oder auch negativ sein. Deshalb sollte immer zusätzlich der radiologische Befund erhoben werden. Da die Infektion des Wurzelkanalsystems auch viele Jahre später auftreten kann, sollten die betroffenen Zähne lebenslang klinisch wie radiologisch nachuntersucht werden.

Schlussfolgerungen

Bei korrekter Indikationsstellung ist die Vitalamputation der kompletten Wurzelkanalbehandlung vorzuziehen. Durch dieses Vorgehen bleibt vitales, komplexes Pulpagewebe erhalten, sodass Abwehr- und Reparaturleistungen sowie Signalgeberfunktion der Pulpa erhalten bleiben. Die funktionelle Belastung gleicht einem pulpagesunden Zahn. Das Kollagen der Wurzel wird nicht geschädigt. Zum anderen ist die Vitalamputation das technisch einfachere Behandlungsverfahren gegenüber der vollständigen Präparation, Desinfektion und Füllung aller Wurzelkanalsysteme.

Literatur auf Anfrage unter news@quintessenz.de


Ein Beitrag von Dr. med. dent. Mario Schulze, Dresden

Quelle: Endodontie, Ausgabe 3/19 Endodontie Zahnmedizin

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