Die mittleren oberen Inzisivi sind die am dritthäufigsten von Durchbruchsstörungen betroffenen Zähne, berichten die Autoren PD Dr. Svenja Beisel-Memmert, Dr. Eric Kutschera und Prof. Andreas Jäger im ersten Teil ihres dreiteiligen Beitrags für die Quintessenz Zahnmedizin 4/21. Diese Störung der normalen dentalen Entwicklung manifestiert sich in der ersten Wechselgebissphase der betroffenen Patient/-innen durch Abweichungen von der normalen Durchbruchssequenz. Durch ihre prominente Position im Zahnbogen und dem damit einhergehenden Einfluss auf das äußere Erscheinungsbild der Patient/-innen sowie die durch den ausbleibenden Durchbruch hervorgerufenen Störungen der oralen Funktionen, Lautbildung und Entwicklung einer physiologischen Zahnbogenform wird eine therapeutische Intervention notwendig. Die Wahl des richtigen Behandlungszeitpunktes sowie das individuell angemessene therapeutische Vorgehen müssen in jedem Einzelfall in Abhängigkeit von der individuellen Situation nach gezielter Anamnese, ausführlicher klinischer und differenzierter radiologischer Diagnostik von einem multidisziplinären Team aus (Kinder-)Zahnärzt/-innen, Kieferorthopäd/-innen, Kiefer- und Oralchirurg/-innen gemeinsam festgelegt und umgesetzt werden.
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Einleitung
Die medizinische Notwendigkeit für eine therapeutische Intervention durch kieferorthopädische Maßnahmen beim Vorliegen einer Durchbruchsstörung einzelner oder mehrerer Zähne muss – gerade auch im Lichte der aktuellen medialen Diskussionen bezüglich der kurativen Relevanz des Fachs – als unbestritten gelten. Insbesondere in Anbetracht der chronologischen Entwicklungsdynamik junger Patient/-innen und in Abhängigkeit von den betroffenen Zähnen sowie der Ursache für die Störung erfordern hierbei die Wahl der Differenzialdiagnostik, des richtigen Zeitpunkts für den Beginn der therapeutischen Intervention sowie des individuell angemessenen Umfangs der therapeutischen Maßnahmen dezidierte Kenntnisse der physiologischen Entwicklungsabläufe oraler Strukturen und große klinische Erfahrung. Während sich Zahnärzt/-innen und Kieferorthopäd/-innen in der Vergangenheit in der Regel vor allem an persönlichen und überlieferten Erfahrungen einzelner Expert/-innen orientierten, besteht heute allgemeiner Konsens darüber, dass die erforderlichen klinischen Entscheidungen gemäß der besten zur Verfügung stehenden Erkenntnisse – also evidenzbasiert – gefällt werden sollten. In diesem und in zwei darauffolgenden Übersichtsbeiträgen haben die Autor/-innen daher versucht, die aktuell verfügbare Evidenz sowie die persönlichen klinischen Erfahrungen betreffend die Ätiologie, Differenzialdiagnostik und Therapie von Zahndurchbruchsstörung möglichst übersichtlich und praxisrelevant zusammenzufassen und dabei auch konkrete Handlungsempfehlungen für den Einzelfall zu entwickeln. In diesem ersten Teil stehen dabei die Störungen des Zahndurchbruchs im Bereich der oberen Schneidezähne im Vordergrund.
Die mittleren oberen Inzisivi sind mit einer Inzidenz zwischen ca. 0,34 bis 2 Prozent nach den dritten Molaren und den Eckzähnen des Oberkiefers die am dritthäufigsten von Durchbruchsstörungen betroffenen Zähne, wobei unterschiedliche Häufigkeiten bei verschiedenen Ethnien sowie ein vermehrtes Auftreten beim männlichen Geschlecht in der Literatur beschrieben wurden11,18,19. Durchbruchsstörungen der maxillären Inzisivi manifestieren sich in der ersten Wechselgebissphase ab dem 7. bis 9. Lebensjahr der betroffenen Patienten. Da diese Zähne durch ihre Position im Kiefer und im Gesicht in besonderer Weise das äußere Erscheinungsbild bestimmen, sind Durchbruchsstörungen in diesem Bereich nicht nur mit funktionellen Einbußen und Entwicklungsverzögerungen des orofazialen Systems, sondern auch mit erheblichen ästhetischen Beeinträchtigungen assoziiert. Aus diesen Gründen ist eine frühzeitige Erkennung der Problematik mit Abklärung ihrer Ursachen für eine differenzierte Therapie und Minimierung unerwünschter Folgeerscheinungen essenziell.
Ätiologie
Die ätiologischen Faktoren lassen sich in erbliche beziehungsweise genetische und umweltbedingte beziehungsweise erworbene Ursachen unterteilen. Im Zusammenhang mit genetischen Mustern lassen sich häufig zusätzliche Zahnanlagen, Odontome, verschiedene Ausprägungen der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, aber auch vielfältige syndromale Erkrankungen des orofazialen Komplexes wie zum Beispiel die Dyostosis cleidocranialis benennen. Erworbene Faktoren sind Traumata, ein früher Verlust der Milchvorgänger, Platzmangel im Frontsegment des Oberkiefers und Zysten19. Von den genannten Ursachen für Durchbruchsstörungen sind überzählige Zahnanlagen und Traumata besonders häufig7,18.
Vor dem Hintergrund, dass Platzmangel als mechanische Ursache den Frontzahndurchbruch beeinträchtigen kann, erscheint es nicht verwunderlich, dass Hyperdontien, Zahnformanomalien, Zahnektopien und zystische Prozesse als Durchbruchshindernisse häufig mit Durchbruchsstörungen assoziiert sind. Darüber hinaus kann das Fehlen regelrecht geformter und mineralisierter Zahnwurzeln durch den daraus resultierenden Verlust an Leitstrukturen für durchbrechende Zähne den physiologischen Zahndurchbruch beeinträchtigen7,18. Weiterhin kann eine Assoziation mit Schmelzhypoplasien durch einen gemeinsamen Ursprung in einem Trauma der Milchvorgänger bedingt sein18.
Allgemeine klinische Aspekte und Folgen
Hinweise auf das Vorliegen einer Frontzahndurchbruchsstörung geben Abweichungen von der normalen Durchbruchssequenz18. Dabei gilt ein Ausbleiben der Eruption eines mittleren Inzisivus bei bereits erfolgter Eruption seines kontralateralen Äquivalents vor mehr als 6 Monaten oder auch der unteren Frontzähne vor mehr als 12 Monaten sowie ein bereits stattgefundener Durchbruch der lateralen Inzisivi als verdächtig. Die impaktierten Zähne selbst liegen häufig ektopisch oder rotiert vor. Ausgehend von den impaktierten permanenten Zähnen, aber auch um gegebenenfalls vorhandene zusätzliche Zahnanlagen können Zysten auftreten5,11. In diesem Zusammenhang können möglicherweise Wurzelresorptionen, -dilazerationen, also abnorme Abwinkelungen der Krone oder Wurzel von der Längsachse des Zahns, sowie verzögertes oder abnormes Wurzelwachstum der benachbarten Zähne beobachtet werden5,14,17. Nichteruptierte maxilläre Inzisivi beeinflussen das Erscheinungsbild des Patienten und kompromittieren die orale Funktion sowie die Lautbildung7. Weitere Folgen einer Durchbruchsstörung sind ein Platzverlust im Zahnbogen durch Kippung und Aufwanderung der Nachbarzähne und die Behinderung der Entwicklung einer physiologischen Zahnbogenform (Abb. 1).
Diagnostik und Management
Aus der beschriebenen Ätiologie und Klinik ergibt sich zur gezielten Detektion der Ursachen die Notwendigkeit einer entsprechend ausgerichteten Anamnese nach exogenen und genetischen Faktoren. Zur weiteren Abklärung der intramaxillären morphologischen Situation und Topografie sollten bildgebende Verfahren wie Zahnfilme, Panoramaschichtaufnahmen (Orthopantomogramm, OPG), Aufbissaufnahmen, Fernröntgenseitenbilder (FRS) oder digitale Volumentomografie-Aufnahmen (DVT) nach differenzierter Indikation und in Rücksprache mit den involvierten Fachdisziplinen zur Anwendung kommen. Trotz der unbestrittenen Vorteile einer dreidimensionalen Darstellung gerade im Frontzahnbereich sollte dabei eine unnötige Strahlenexposition der jugendlichen Patient/innen nach Möglichkeit vermieden werden18,19 (Abb. 2).
Klinische Konzepte in Abhängigkeit von den Befunden
Eine definitive Therapie sollte in jedem Einzelfall in Abhängigkeit der individuellen Situation von einem multidisziplinären Team, bestehend aus (Kinder-)Zahnärzt/-innen, Kieferorthopäd/-innen, Kiefer- und Oralchirurg/-innen, geplant und umgesetzt werden14. Aus kieferorthopädischer Sicht erwähnenswert ist, dass bei Frontzahndurchbruchsstörungen im Falle zusätzlicher Malokklusionsbefunde aufgrund der zeitlichen Abfolge zu deren Therapie mehrere Behandlungsphasen notwendig werden können (Tab. 1).
Durchbruchsstörungen durch überzählige Zahnanlagen
Mesiodentes nehmen mit einer Prävalenz von 0,15 bis 3,18 Prozent bei den überzähligen Zahnanlagen den größten Anteil ein2,17. Sie machen dabei je nach Studie 38,8 bis 86,3 Prozent aller überzähligen Zahnanlagen aus2,14. Sie befinden sich per Definition in der Region der maxillären Sutura palatina mediana2. Als zusätzliche Zahnanlagen treten sie zumeist einzeln (76 bis 80 Prozent), aber auch doppelt (12 bis 23 Prozent) oder multipel (weniger als 1 Prozent) auf. Sie haben häufig eine Durchbruchsstörung der permanenten Inzisivi im Sinne eines ektopen Durchbruchs (28 bis 82 Prozent) oder einer Impaktation (26 bis 52 Prozent) zur Folge5,17.
Klassifizieren lassen sich Mesiodentes entweder nach ihrer Morphologie oder ihrer Orientierung im Zahnbogen. Morphologisch unterscheidet man konische (75 Prozent), tuberkuläre (12 Prozent), zusätzliche Zähne mit regulärer Zahnform (7 Prozent) und Odontome (6 Prozent)5,14. Ihre Orientierung kann mit der normalen Durchbruchsrichtung der Frontzähne übereinstimmen (63,6 Prozent). Sie können aber auch invers ausgerichtet sein (33,3 bis 50 Prozent) oder inkliniert beziehungsweise horizontal liegen5,14. Konische Mesiodentes kommen zumeist einzeln vor und können – bei Orientierung in Durchbruchsrichtung – regulär in die Mundhöhle eruptieren. In diesen Fällen ist eine einfache Entfernung durch Extraktion möglich2,17. Bei konischen Mesiodentes mit Orientierung entgegen der Durchbruchsrichtung kann es im Einzelfall zu einem Durchbruch in die Nasenhöhle kommen, was eine erschwerte Entfernung zur Folge hat2,14. Generell ist die Durchbruchswahrscheinlichkeit der zentralen Frontzähne bei Vorliegen von konischen Mesiodentes erhöht2,18. Jedoch kommt es in vielen Fällen zu einem ektopen Durchbruch der Frontzähne oder zu einer lückigen Einstellung der Front in Form eines Diastemas5,14. Tuberkuläre Mesiodentes sind häufig als Doppelanlage palatinal der Frontzähne gelegen und verursachen in der Regel eine Impaktation der permanenten Inzisivi2,5,14. Eine Eruption der tuberkulären zusätzlichen Zahnanlagen in die Mundhöhle ist äußerst selten2,14. Bei den Odontomen bestimmt offenbar deren histopathologische Struktur die möglichen klinischen Folgen für den Durchbruch der nachfolgenden Zähne. Bei „zusammengesetzten Odontomen“ bleibt bei etwa einem Drittel, bei „komplexen Odontomen“ bei der Hälfte der Fälle dieser Durchbruch aus18.
Bei der Behandlungsplanung müssen neben den oben genannten Differenzialdiagnosen das Alter der Patient/-innen zum Zeitpunkt der Diagnostik, die Position beziehungsweise Orientierung der zusätzlichen Zahnanlage(n) und ein mögliches Vorliegen weiterer assoziierter klinischer Risiken berücksichtigt werden. Der richtige Zeitpunkt für eine Intervention wird dabei in der Literatur kontrovers diskutiert. Einige Autoren empfehlen eine frühe Intervention, um die Chancen eines Spontandurchbruchs zu fördern und Folgen wie Platzverlust und Mittellinienverschiebungen vorzubeugen2,5,17. Auch wurde für den Fall einer Entfernung der zusätzlichen Zahnanlage nach Abschluss der Wurzelbildung des impaktierten mittleren Schneidezahnes ein erhöhtes Risiko von Wurzelresorptionen an benachbarten Zähnen beschrieben. Omer et al. empfehlen daher idealerweise eine Entfernung im 4. bis 5. Lebensjahr, aber auf jeden Fall vor dem Erreichen des 7. Lebensjahres15. Andere Autoren argumentieren hingegen, dass bei einer frühen Intervention das Risiko iatrogener Schäden der permanenten Zahnkeime oder des Alveolarknochens wie beispielsweise Wurzelbildungsstörungen oder Wurzelresorptionen erhöht sein kann2. Weiterhin führen sie die psychologische Belastung durch chirurgischer Eingriffe bei jungen Patient/-innen ins Feld2.
Infolge der Entfernung des Durchbruchshindernisses kann die Wahrscheinlichkeit einer Spontaneruption des impaktierten Frontzahns in bis zu 75 Prozent der Fälle erwartet werden2. Im Einzelfall kann eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Spontandurchbruchs der impaktierten Zähne anhand mehrerer Faktoren erfolgen. Neben der Berücksichtigung der oben bereits erwähnten Morphologie des zusätzlichen Zahns können prädiktive Aussagen in Abhängigkeit von der Position der impaktierten Zähne getroffen werden. Die Orientierung des verlagerten Zahns zur Durchbruchsrichtung, die vertikale Position des impaktierten Zahns sowie das Entwicklungsstadium der impaktierten Zähne sind ebenfalls relevant5,18. Beispielsweise eruptierten in einer Studie nur 28,6 Prozent der betroffenen Zähne spontan, wenn deren initiale Position vertikal im apikalen Wurzeldrittel des kontralateralen Inzisivus lag18.
Zuletzt stellt auch der vorhandene Platz im Zahnbogen einen wichtigen prognostischen Faktor dar. Daher kann eine interzeptive kieferorthopädische Behandlung im Sinne des Erhalts oder des Schaffens von ausreichendem Platz im Zahnbogen den spontanen Durchbruch positiv beeinflussen. Ein hoher Prozentsatz (89,4 Prozent) der impaktierten Zähne eruptierte spontan bei ausreichenden Platzverhältnissen5. Je nach individueller Ausgangslage kann der Platz durch Extraktion der Milcheckzähne, durch Aufrichtung von in die Lücke gekippten Zähnen und durch transversale Erweiterung des Oberkiefers zum Beispiel mittels einer Gaumennahterweiterung geschaffen werden2.
Nach einer Empfehlung von Becker kann die Behandlungssequenz wie folgt aussehen: Als erstes sollten – wenn erforderlich – ausreichende Platzverhältnisse für den Zahndurchbruch geschaffen werden. Anschließend sollte die zusätzliche Zahnanlage entfernt und ein Spontandurchbruch abgewartet werden, wenn dieser aussichtsreich erscheint3,4. In einer Studie von Bryan et al. wird die durchschnittliche Zeit bis zum spontanen Durchbruch der impaktierten Inzisivi mit 9,2 Monaten angegeben5. Hierbei spielte offensichtlich die vertikale Verlagerung des Zahnes zum Zeitpunkt der Entfernung des Hindernisses eine wesentliche Rolle18. Weiterhin war die Angulation der Längsachse des Zahnes zur normalen Durchbruchsrichtung mit einer verlängerten Durchbruchszeit assoziiert5. Sollte kein Spontandurchbruch erfolgen, kann in einem zweiten chirurgischen Eingriff ein Attachment angebracht werden, welches eine kieferorthopädische Einordnung des impaktierten Zahns erlaubt. Von einigen Autoren wurde diskutiert, ob gegebenenfalls bereits im Rahmen des ersten chirurgischen Eingriffs das Attachment an dem impaktierten Zahn angebracht werden sollte, um dem Patienten einen zweiten chirurgischen Eingriff zu ersparen2. Diese Entscheidung muss in jedem Einzelfall in Abhängigkeit von den prognostischen Faktoren für einen Spontandurchbruch getroffen werden. Nach Möglichkeit sollten bei dem chirurgischen Eingriff geschlossene Techniken zum Einsatz kommen. In jedem Fall muss jedoch vor dem chirurgischen Eingriff über mögliche Risiken aufgeklärt werden. So wurden beispielsweise bei klinischen Nachuntersuchungen eine erhöhte Taschentiefe, eine Veränderung der klinischen Kronenlänge sowie eine verminderte Alveolarknochenhöhe beobachtet2–4. Aus diesem Grund empfehlen die Autoren generell zunächst nur eine chirurgische Entfernung des Durchbruchshindernisses und raten von einer standardmäßigen Anbringung eines Attachments ab. Im Falle einer chirurgisch unterstützten kieferorthopädischen Einordnung ist eine Beachtung der mukogingivalen Aspekte essenziell. Dies macht eine enge Absprache zwischen Kieferorthopäden und Chirurgen bezüglich der Platzierung des Attachments, der Durchtrittsstelle des Kettchens und der geplanten Zugrichtung notwendig, um möglichst einen Durchbruch des einzuordnenden Zahns in der befestigten Gingiva – mit einem günstigen funktionellen und ästhetischen Ergebnis – zu gewährleisten. Für das praktische kieferorthopädische Vorgehen haben sich grundsätzlich festsitzende Apparaturen gegenüber herausnehmbaren Techniken als vorteilhaft bewährt. Zur Anwendung kommen im Wechselgebiss in der Regel segmentierte Techniken, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Hebelmechaniken3,4,6,13 (Abb. 3 und 4).
Durchbruchsstörungen infolge von Traumata
12 bis 74 Prozent der Entwicklungsstörungen der bleibenden Frontzähne lassen sich auf ein Trauma ihrer Milchvorläufer zurückführen, denn 30 Prozent der Kinder unter 7 Jahren erfahren mehr als ein Trauma der Milchschneidezähne1,16. Die einzige vorhandene prospektive Studie gibt eine Wahrscheinlichkeit von 53,6 Prozent an, mit der nach einer traumatischen Intrusion der Milchzähne Schäden an den bleibenden Nachfolgern auftreten. Andere Autor/-innen hingegen sehen die Prävalenz nach traumatischer Intrusion im Milchgebiss eher bei 4,4 bis 22 Prozent1,16. Die Folgen eines Milchzahntraumas der Frontzähne können von milden Schmelzbildungsstörungen bis hin zu einer Sequestration des Zahnkeims reichen und treten meist erst im 6. bis 7. Lebensjahr der betroffenen Patient/-innen zutage, wenn der reguläre Zeitpunkt für den Zahnwechsel erreicht ist16.
Die durch das Trauma hervorgerufenen Schäden können sich als Schmelzhypoplasien (28,3 Prozent) und/oder als Deformationen der Kronen oder Wurzeln (13,6 bis 16,7 Prozent) präsentieren. Darüber hinaus kann die ausgelöste Schädigung des Zahnkeims Durchbruchsstörungen im Sinne eines ektopen Durchbruches oder einer Impaktation des betroffenen permanenten Frontzahnes zur Folge haben1,8. In seltenen, schweren Fällen kann es nach einem Trauma zu einer partiellen oder vollständigen Unterbrechung der Wurzelbildung kommen. Dies wird vor allem bei älteren Kindern im Alter von 4 bis 7 Jahren beschrieben1,16. Die Art der Schädigung ist abhängig insbesondere vom Alter der Patient/-innen zum Zeitpunkt des Traumas und von der Art der Verletzung10.
Allgemein herrscht in den ersten 5 Lebensjahren eine große Nähe zwischen den Wurzeln des Milchschneidezahns und dem Zahnkeim des bleibenden Nachfolgers, das heißt, die Wurzel des Milchschneidezahns wird nur durch eine dünne Gewebeschicht von weniger als 3 mm Dicke von dem Zahnkeim des bleibenden Frontzahns getrennt16. Die initiale Kalzifizierung der Krone des permanenten mittleren Schneidezahns startet in den ersten 6 Lebensmonaten und ist im 4. bis 5. Lebensjahr abgeschlossen10. Im Anschluss an die Entwicklung der Zahnkrone entwickelt sich die Zahnwurzel, die erst im 10. Lebensjahr ca. 3 Jahre nach dem Zahndurchbruch beendet ist. Dementsprechend kommt es bei Kindern unter 2 Jahren nach einer traumatischen Einwirkung auf die Milchinzisivi wegen des frühen Entwicklungsstands vorwiegend zu einer Schädigung der Krone des bleibenden Nachfolgers. Bei Kindern über 4 Jahren treten dagegen zunehmend Schäden auf, welche die sich zu diesem Zeitpunkt entwickelnde Wurzel des Zahns betreffen10.
Bei den traumatischen Ereignissen im Bereich der Milchschneidezähne sind es vor allem Intrusionen und Avulsionen, die eine Schädigung der bleibenden Nachfolger nach sich ziehen8,10. Auch nach Frakturen des Alveolarfortsatzes wurden schwere Schädigungen des sich bildenden Zahnkeimes beobachtet10. Ein heftiges Trauma im Milchgebiss kann auch dann eine Schädigung der bleibenden Inzisivi zur Folge haben, wenn die Milchfrontzähne nicht beeinträchtigt erscheinen. Daher wird empfohlen, nach jedem auffälligen Traums sind eine verspätete oder eine verfrühte Eruption, ein ektopischer Durchbruch oder eine Impaktation. Wenn der Milchzahn durch das Trauma frühzeitig verloren geht, kann sich im Anschluss eine verdickte Kortikalis und/oder Gingiva über seinem Nachfolger ausbilden, wodurch der Zahndurchbruch verzögert wird. Nach einem Frontzahnverlust bei Kindern, die älter als 5 Jahre sind, kommt es meist zu einer verfrühten Eruption, und zwar insbesondere dann, wenn als Folge der mit dem Trauma assoziierten Entzündung eine verstärkte Resorption des Alveolarknochens eintritt16. Eine ektopische Eruption wird vermutlich durch ein mit dem Trauma assoziiertes Displacement des Zahnkeimes verursacht oder durch eine milde Ausprägung von Kronen- oder Wurzeldilazerationen16,19. Eine Impaktation des Zahnkeimes als Folge eines Frontzahntraumas wird dagegen mit einem ausgeprägten Displacement des Zahnkeimes, einer stärkeren Dilazeration von Zahnkrone oder -wurzel, einer Ankylose des Zahnkeimes oder des Milchvorläufers sowie allgemein mit einem Fehlen von Führungsstrukturen bei traumatischem Verlust des Milchzahnes in Verbindung gebracht16.
Im Falle einer Impaktation nach einem Trauma beziehungsweise bei Hinweisen auf eine Dilazeration ist neben Anamnese und klinischer Diagnostik auch eine röntgenologische Abklärung notwendig. Eine dreidimensionale Bildgebung bietet hier einen prognostischen Mehrwert, insbesondere für Kieferorthopäd/-innen, die den Erfolg eines Einordnungsversuchs des impaktierten beziehungsweise dilazerierten Zahns abwägen müssen. Prognostisch relevante Faktoren sind dabei die Lage und Orientierung des betroffenen Zahns zu den umgebenden Strukturen und insbesondere bei Dilazerationen das genaue Ausmaß der Abwinkelung von Krone oder Wurzel. Zudem können in Abhängigkeit von der Auflösung des dreidimensionalen Bildes unter Umständen Hinweise auf eine mögliche Ankylose identifiziert werden. Letztlich können die erhaltenen Informationen für die Planung eines gegebenenfalls erforderlichen chirurgischen Eingriffs genutzt werden16.
Behandlungsstrategien bei impaktierten Zähnen durch Traumata
Auch bei diagnostizierten Durchbruchsstörungen in der Folge von Traumata sollte die Therapieplanung ausgehend von der individuellen Situation von einem interdisziplinären Team durchgeführt werden (Abb. 6). Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass für avulsierte Milchschneidezähne eine Replantation nicht empfohlen wird. Ein solcher Eingriff stellt neben der psychischen Belastung des Patienten auch ein Risiko im Sinne einer Schädigung des bleibenden Nachfolgers dar. Im weiteren Verlauf sollten in den Fällen, bei denen anhand der Diagnostik ein Spontandurchbruch des bleibenden Zahns als wahrscheinlich eingeschätzt wird, initial möglicherweise retinierte oder ankylosierte Milchschneidezähne ohne Schädigung des Nachfolgers entfernt werden. In Abhängigkeit von der Lage und der Ausprägung einer Dilazeration stehen verschiedene Therapieoptionen zur Verfügung:
- Bei günstiger Ausgangslage des Zahns kann eine kieferorthopädische Einordnung in den Zahnbogen nach chirurgischer Freilegung vorgenommen werden. Für das praktische kieferorthopädische Vorgehen können die bereits oben genannten Techniken verwendet werden (Abb. 5).
- Eine Entfernung des Zahns und eine kieferorthopädische Lückengrößenanpassung für eine prothetische Versorgung oder ein Autotransplantat kann erwogen werden8,12,16.
- Möglich ist auch eine Entfernung des Zahns und nachfolgend ein kieferorthopädischer Lückenschluss mit einer anschließenden Umgestaltung der Zähne16.
- In manchen Fällen ist bei Dilazerationen auch eine chirurgische Wurzel- oder Kronenresektion sinnvoll und damit einhergehend eine endodontische Versorgung des Zahns mit gegebenenfalls anschließender Prothetik8.
- Bei unvollständig durchgebrochenen ankylosierten Frontzähnen ist ein Einordnungsversuch nach chirurgischer Luxation oder unterstützt durch Verfahren der Osteodistraktion abzuwägen9,20. In Einzelfällen ist auch eine Einordnung mittels Segmentosteotomie und -verlagerung möglich.
Fazit
Jede auffällige Verzögerung im Durchbruch der oberen Schneidezähne bedarf einer sorgfältigen differenzialdiagnostischen Abklärung. Neben Anamnese und klinischer Diagnostik spielt die fallspezifisch ausgewählte Bildgebung eine wichtige Rolle. Mögliche Therapiemaßnahmen werden bestimmt durch multiple Faktoren. Diese ergeben sich aus dem Alter, der Ursache für die Störung, der Morphologie und Lage des impaktierten Zahns, den vorhandenen Platzverhältnissen, der Mitarbeit der Patient/-innen sowie nicht zuletzt aus den individuellen Erfahrungen der beteiligten Zahnärzt/-innen, Chirurg/ -innen und Kieferorthopäd/-innen. Die persönlichen Erfahrungen, aber auch die aktuelle Literatur bestätigen, dass in vielen Fällen gute Therapieergebnisse und damit für die zumeist jungen Patient/-innen funktionelle, ästhetische und nicht zuletzt psychosoziale Gewinne erzielt werden können.
Ein Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Svenja Beisel-Memmert, Dr. Eric Kutschera, Prof. Andreas Jäger, alle Bonn
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de