Der Einsatz neu entwickelter molekularer Methoden erweiterte Wissen und Verständnis bezüglich Komplexität des oralen Mikrobioms und dessen Interaktionen mit dem Wirt – sowohl im Zustand oraler Gesundheit als auch bei Vorliegen pathologischer Veränderungen und Läsionen. Orale Mikroorganismen und ihre heterogenen mikrobiellen Gemeinschaften spielen eine wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung einer gesunden Homöostase im parodontalen Gewebe und in der gesamten Mundhöhle. Synergien und Interaktionen verschiedener oraler Mikroorganismen scheinen den menschlichen Körper gegen das Eindringen unerwünschter Erreger zu schützen, während ein Ungleichgewicht der mikrobiellen Flora – oft verursacht durch Veränderungen des Lebensstils oder unkontrollierter Krankheitszustände – zu nachteiligen Folgen für die orale sowie systemische Gesundheit führen kann. Der Beitrag von Prof. Dr. Henrik Dommisch, PD Dr. Annette Moter, Dr. Denica Kuzmanova für die Quintessenz Zahnmedizin 12/20 soll einen Überblick über Zusammenhänge zwischen mikrobieller Dysbiose, parodontalen Entzündungsprozessen und deren Einfluss auf systemische Erkrankungen geben.
Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.
Einleitung
Zusammen mit zahlreichen am und im Körper lebenden kommensalen, symbiotischen und pathogenen Mikroorganismen – dem Mikrobiom – bildet der Mensch eine untrennbare funktionelle biologische Einheit, die als Holobiont bezeichnet wird. Das Mikrobiom ist an kritischen metabolischen, physiologischen und immunologischen Funktionen wie zum Beispiel an der Verdauung, Stoffwechselregulierung, Differenzierung und Reifung des Immunsystems beteiligt59,86. Diese meist harmonische Koexistenz hat sich über Millionen von Jahren entwickelt und bestimmt die Physiologie und Gesundheit des Körpers54. Verschiedene lokale und systemische Faktoren, unter anderem Aspekte des modernen Lebensstils (Ernährung, Rauchen, Stress), können das dynamische Gleichgewicht zwischen Wirt und Mikrobiom stören46.
Die Mundhöhle ist einer der am stärksten und vielfältigsten bakteriell besiedelten Bereiche des Körpers43,54. Molekulare und mikrobiologische Studien berichteten über mehr als 750 Bakterienarten in der Mundhöhle, von denen mehr als 500 innerhalb des subgingivalen Biofilms leben44. Orale Bakterien existieren nicht als isolierte Organismen, sondern bilden koordinierte, strukturell und funktionell organisierte, metabolisch integrierte und speziesreiche mikrobielle Gemeinschaften, die in Form von Biofilm an Oberflächen haften72. Dort kommunizieren Bakterien untereinander über kleine Signalmoleküle, was als „Quorum sensing“ bezeichnet wird65,98. Das ermöglicht ihnen, eine bessere Koordination einzelner Abläufe innerhalb des Biofilms, eine bessere Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen sowie ökologische Stabilität (Resilienz) zu erreichen und verschafft ihnen zahlreiche Vorteile hinsichtlich der Wirtskolonisation, der Abwehr von Konkurrenten und des Überlebens65. Quorum-sensing-Aktivitäten im Biofilm verhelfen Bakterien dazu, toleranter gegenüber der Wirtsabwehr und antimikrobiellen Substanzen zu werden sowie ihre Virulenz (pathogenes Potenzial) zu erhöhen26. Parodontitis ist eine Biofilm-assoziierte, nicht ansteckende chronische Erkrankung („Non-communicable chronic disease“, NCCD) als Folge einer komplexen parodontalen Entzündung und gilt als die sechsthäufigste Erkrankung des Menschen50.
Parodontale Gesundheit, Entzündung und Destruktion
Gingivale Gesundheit
Zahnfleischgesundheit ist durch das Fehlen einer klinischen Entzündung definiert7. Diese zeichnet sich durch ein Plaque-Mikrobiom in Homöostase mit dem Wirt aus, das von kommensalen, grampositiven Mikroorganismen dominiert wird55. Krankheitsassoziierte Bakterien stellen im gesunden Zustand einen relativ geringen Anteil der subgingivalen Mikroflora dar. Die Mikroorganismen scheinen durch Konkurrenz zwischen einzelnen Spezies innerhalb der polymikrobiellen Gemeinschaft reguliert zu werden65. Gingivale Gesundheit erfordert einen immunoinflammatorischen Zustand, der die Homöostase im Parodontium aufrechterhalten kann17. Im Allgemeinen bleibt das mit Gesundheit assoziierte gingivale Mikrobiom über die Zeit in einem Zustand dynamischen Gleichgewichts mit dem Wirt stabil – unter Voraussetzung einer optimalen Mundhygiene (Abb. 1a und b).
Gingivitis
Durch dauerhafte Plaqueansammlung und ausbleibende Plaquekontrolle kann die Homöostase gestört werden und einen Wechsel zu einer entzündlichen Läsion auslösen3,71. Die Entzündung, die sich klinisch in Rötung und Schwellung des gingivalen Weichgewebes äußert, ist das bestimmende Merkmal einer Gingivitis8. Die Gingivitis bewirkt eine Zunahme der mikrobiellen Diversität in der subgingivalen Plaque (beginnende Dysbiose), was auf eine Zunahme von Nährstoffen aus dem entzündlichen Exsudat zurückgeführt werden kann104. So setzt sich der mikrobielle Biofilm zunehmend aus pathogenen Spezies (Pathobionten) und antagonistisch wirkenden kommensalen Spezies (Symbionten) zusammen (Abb. 1c). Bei Individuen, die nicht anfällig sind, können der kommensale Biofilm und die Homöostase in diesem Stadium durch Auflösung der Entzündung wiederhergestellt werden73. Bei empfindlichen Individuen wiederum können nichtmodifizierbare Risikofaktoren (genetische Faktoren), modifizierbare Risikofaktoren („Lifestyle-Faktoren“ wie Rauchen, mangelnde Mundhygiene, Ernährung) und erworbene Faktoren (zum Beispiel unbehandelte oder schlecht eingestellte systemische Erkrankungen und metabolische Störungen wie Diabetes mellitus) eine überschießende, chronische, sich nicht auflösende Entzündungsreaktion im parodontalen Gewebe auslösen60,61,74,97,111 (Abb. 1a und b).
Parodontitis
Mit fortschreitender Entzündung verändert sich das Milieu des gingivalen Sulkus. Entzündliche Gewebeabbauprodukte wie Kollagenpeptide, Plasmaproteine und hämhaltige Verbindungen, die Quellen von Aminosäuren beziehungsweise Eisen sind, reichern sich in der Sulkusflüssigkeit an. Diese dienen als Nährstoffe und Energiequelle für bestimmte Bakterienspezies und fördern die Vermehrung von anaeroben gramnegativen proteolytischen und asaccharolytischen Pathobionten23,37. Weiterhin kommt es zu Verschiebungen innerhalb der polymikrobiellen Gemeinschaft und Veränderungen der Häufigkeit sowie der relativen Anteile einzelner Spezies, abhängig von Redox- und Nährstoffgradienten73,104. Virulenzfaktoren werden hochreguliert110. Aus einem vormals symbiotischen, von kommensalen Bakterien dominierten subgingivalen Plaque-Mikrobiom entwickelt sich ein dysbiotisches, mit gramnegativen Bakterien angereichertes Mikrobiom, das die Entzündung weiter vorantreibt16. Mikrobielle Dysbiose und Entzündung bilden einen sich selbst aufrechterhaltenden, pathogenen Zyklus und verstärken sich gegenseitig104. Die unkontrollierte Entzündungsreaktion führt zu Gewebedestruktion36,62.
Die Parodontitis unterscheidet sich von der Gingivitis durch den irreversiblen Verlust parodontalen Stützgewebes, einschließlich des parodontalen Ligaments und des Alveolarknochens79. Ein Auflösen der Erkrankung, das sowohl die Resolution der Entzündung als auch die Rückkehr zur Gewebehomöostase mit Regeneration des verlorenen Gewebes beinhaltet, scheint nicht spontan zu geschehen. Therapeutische Ansätze sind auf die Verringerung der bakteriellen Belastung und damit der parodontalen Entzündung oder auf die Entzündungsreduktion, das Aufhalten der Gewebedestruktion und Auflösen der polymikrobiellen Dysbiose ausgerichtet12,52.
Der Auslöser für den Übergang von einer Gingivitis zur Parodontitis bleibt unbekannt (Abb. 1a und b). Das Ausmaß und Fortschreiten der Parodontitis variieren zwischen Individuen. Eine schwere Parodontitis ist durch eine Entzündung gekennzeichnet, die oxidativen Stress und eine überschießende Zytokinproduktion einschließt10,33. Die etablierte Parodontitis ist durch eine Abnahme der polymikrobiellen Diversität und Zunahme spezifischer Bakterienarten mit ansonsten geringen relativen Anteilen innerhalb der subgingivalen mikrobiellen Gemeinschaft infolge von Veränderungen in der Mikroumgebung gekennzeichnet81. Mehrere Parodontitis-assoziierte Bakterien haben Häm-Proteine als Wachstumsvoraussetzungen, die Blutung und Gefäßpermeabilität infolge von Entzündungen zu wichtigen Variablen machen73.
Immunsubversive Mechanismen
Porphyromonas gingivalis und Treponema denticola, zwei mit Parodontitis assoziierten Bakterienarten, sind vorwiegend in parodontalen Taschen in einer Tiefe von mehr als 4 mm lokalisiert53. Mikroorganismen wie Porphyromonas gingivalis scheinen in der Lage zu sein, die Immunantwort des Wirtes zu manipulieren und die Immunaktivierung zu unterdrücken. Dahinter wurde ein Mechanismus vermutet, der es ihnen ermöglicht, sich der Immunabwehr des Wirtes zu entziehen und eine kritische Menge zu erreichen, die eine dysbiotische Entzündung – Parodontitis – auslösen kann16. So exprimiert Porphyromonas gingivalis ein Lipopolysaccharid (LPS), welches die „Toll-like-receptor“ (TLR)-4-Reaktion vermindert und eine Serinphosphatase absondert. Diese hemmt die Sekretion von Interleukin 8 (IL-8), eines proinflammatorischen Zytokins, wodurch die Entzündungsreaktion beeinträchtigt wird16.
Weiterhin wurden auch Mechanismen beschrieben, wie Porphyromonas gingivalis eine symbiotische Mikroflora unter Ausnutzung des Komplementsystems in einen dysbiotischen Zustand überführen kann70. Dabei hemmt diese Bakterienart einen wirtsprotektiven, gegen die bakterielle Invasion gerichteten Signalweg und aktiviert einen alternativen Signalweg, der die Phagozytose blockiert. Auf diese Weise bietet es anderen Bakterienspezies wie Treponema denticola eine Art „Begleitschutz“, um gemeinsam dysbiotische Entzündungen auszulösen, zur Persistenz Dysbiose-fördernder mikrobieller Gemeinschaften beizutragen und günstige Bedingungen für das eigene Wachstum zu schaffen70. Treponema denticola wiederum blockiert die Verschmelzung von internalisiertem Fusobacterium nucleatum mit Phagolysosomen, unterdrückt die Synthese von intrazellulären reaktiven Sauerstoffspezies und hemmt die Expression von antimikrobiellen Peptiden (β-Defensin)94.
Porphyromonas gingivalis, Tannerella forsythia und Prevotella intermedia verfügen über Virulenzfaktoren, mit deren Hilfe sie sich und andere Bakterien vor komplementvermittelter Opsonierung und Abbau schützen48,49,83,84. Sie sezernieren Metalloproteinasen (Gingipains, Karilysin, Mirolysin beziehungsweise Interpain A), die synergistisch wirken können, um die Komplementaktivierung durch Abbau von C3 – dem wichtigsten Komplementfaktor, der alle drei Komplementaktivierungswege vereint – und anderen wichtigen Komplementkomponenten zu hemmen.
Systemische Auswirkungen oraler Dysbiose
Solche immunsubversiven und proinflammatorischen Strategien Parodontitis-assoziierter Bakterien verursachen – besonders bei gleichzeitigen Defiziten in Leukozytenanzahl, -regulation und -rekrutierung – nicht nur Kollateralschäden im Parodontium, sondern stellen den Zusammenhang zwischen Parodontitis und systemischen Erkrankungen her38 (Abb. 2 und 3). Die parodontale Dysbiose kann über eine Bakteriämie eine systemische Ausbreitung oraler Bakterien erleichtern, wodurch die Kolonisierung und die Entstehung von Infektionen und Entzündungen fern von der Mundhöhle entstehen können27,39. Beispiele sind neben der Endokarditis Abszesse in Gehirn, Lunge, Leber oder Milz sowie Infektionen der Atemwege. Zusätzlich scheinen freie Toxine bzw. lösliche Antigene oraler Bakterien über die Blutzirkulation systemische Effekte auszulösen39. Bekannt sind Zusammenhänge zwischen Parodontitis-assoziierten Bakterien und einer Reihe systemischer Erkrankungen und Zustände, darunter Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, rheumatoide Arthritis, ungünstiger Ausgang einer Schwangerschaft, Schlaganfall, entzündlichen Darmerkrankungen oder Darmkrebs, Infektionen der Atemwege, Meningitis oder Hirnabszesse, Lungen-, Leber- oder Milzabszesse und Lungenentzündung1,9,18,22,39,54. Im Folgenden soll eine Auswahl evidenter Zusammenhänge näher erläutert werden.
Parodontitis und Diabetes mellitus
Unter Diabetes mellitus (DM) wird eine Gruppe von Stoffwechselstörungen mit einem gemeinsamen Leitbefund, dem erhöhten Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie), zusammengefasst. Schon 1993 wurde Parodontitis als zusätzliche Komplikation einer länger bestehenden Hyperglykämie erwogen66. Die Beziehung zwischen DM und parodontalen Erkrankungen ist wechselseitig. Parodontitis hat einen signifikanten Einfluss auf die Kontrolle des hyperglykämischen Zustands, während DM ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung und den Schweregrad parodontaler Erkrankungen ist9,66. Insbesondere bei schlechter glykämischer Einstellung steigt das Risiko für eine parodontale Destruktion und gingivale Entzündung. Es wurde von einem dreifach erhöhten Risiko für Zahnverlust und Parodontitisprogression berichtet15. Hingegen ist der klinische parodontale Zustand gut eingestellter Diabetiker mit dem von Nichtdiabetikern vergleichbar5,11,30,34,69,82,90. Bei Parodontitis und DM Typ 2 (T2DM) induziert eine unkontrollierte lokale und systemische Entzündung mit Dysbiose in Mund beziehungsweise Darm105. Die daraus resultierende Dysregulation der Entzündung ist zentral für die Phagozyten-vermittelte Gewebeschädigung bei T2DM und deren parodontalen Komplikationen. Die aktive Resolution der Entzündung zu einer gesunden Homöostase scheint bei T2DM beeinträchtigt zu sein28.
Der hyperglykämische Zustand bei Diabetikern beeinflusst direkt die Funktionalität einiger Immunzellen (Monozyten, neutrophile Granulozyten, T-Zellen) durch Dysregulation der Synthese proinflammatorischer Zytokine101. Aufgrund des erhöhten Blutzuckers kommt es zu einer verstärkten Glykierung von Proteinen und irreversiblen Bildung sogenannter Endprodukte der fortgeschrittenen Glykierung („Advanced glycation end products“, AGE). Diese werden unter anderem in parodontalen Geweben abgelagert und können sowohl direkte proinflammatorische als auch prooxidative Wirkungen auf Zellen haben. Binden AGE an einem spezifischen Zelloberflächenrezeptor („Receptor for advanced glycation end products“, RAGE) auf Immunzellen, kommt es zu deren Aktivierung und Freisetzung reaktiver Sauerstoffspezies und proinflammatorischer Zytokine. Die Folgen sind eine überschießende Entzündungsreaktion, oxidativer Stress und Gewebedestruktion82,101. Umgekehrt können durch eine Parodontitis erhöhte Entzündungsmediatoren wie C-reaktives Protein (CRP), Tumornekrosefaktor α (TNF-α) und IL-6 zu einer systemischen Inflammation beitragen82,100. Es gibt Hinweise, dass hyperaktive neutrophile Granulozyten, zum Beispiel aus dem entzündeten Parodontium, eine wichtige Quelle von reaktiven Sauerstoffspezies („Reactive oxygen species“, ROS) sein können, die proinflammatorische Mechanismen aktivieren und Insulinresistenz bei Patienten mit Parodontitis und DM zusätzlich fördern101. Es sind jedoch weitere Studien erforderlich, um festzustellen, ob Parodontitis-assoziierte Bakterien einen direkten Einfluss auf DM haben54 (Abb. 3).
Parodontitis und Atherosklerose
Die Atherosklerose ist eine kardiovaskuläre Erkrankung, die durch krankhafte Einlagerung von Fetten ins Endothel der arteriellen Blutgefäße charakterisiert ist und im Verlauf zu Verdickungen, Verhärtungen, Gefäßlumenverengungen und Abnahme der Gefäßelastizität führt. Folge können thromboembolische Ereignisse wie zum Beispiel Herzinfarkt und Schlaganfall sein. Epidemiologische Studien stellten fest, dass Parodontitis mit atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen – unabhängig von Störfaktoren wie Rauchen und Adipositas – assoziiert ist2,29,41,51. Klinische Interventionsstudien deuteten darauf hin, dass die Behandlung von Parodontitis die systemische Entzündung reduziert und sich günstig auf subklinische Marker der Atherosklerose einschließlich einer verbesserten Endothelfunktion auswirkt29,77,78,91,102. Die beiden Erkrankungen teilen gemeinsame ätiopathogenetische Faktoren wie Rauchen und Ernährung51. Es besteht eine Assoziation zwischen spezifischen parodontalen Bakterien wie Porphyromonas gingivalis, Aggregatibacter actinomycetemcomitans und Tannerella forsythia und den klinischen Folgen kardiovaskulärer Erkrankungen sowie der Gefäßwandstärke21,45,56,76,87,92,96,105. Die gingivalen Ulzerationen in parodontalen Taschen ermöglichen den Austritt und die systemische Ausbreitung von Parodontitis-assoziierten Bakterien und deren Stoffwechselprodukten in die Blutzirkulation. Diese Bakteriämie kann bei Patienten mit Parodontitis einen atherogenen Reiz darstellen29,31,92. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass lokal freigesetzte proinflammatorische Zytokine wie TNF-α, IL-1β und IL-6 in den Blutstrom gelangen und eine Akute-Phase- Reaktion in der Leber auslösen. Diese ist durch erhöhte Spiegel von C-reaktivem Protein (CRP), Fibrinogen und Serumamyloid A gekennzeichnet, die wiederum die Atherosklerose fördern31,92,103.
Bakterien, darunter Porphyromonas gingivalis, wurden in atherosklerotischen Läsionen nachgewiesen, wo sie möglicherweise zusätzlich als proatherogene Stimuli wirken können7,13,40,57,88,111. Zusätzlich scheinen diese in der Lage zu sein, sich an Leukozyten – Makrophagen und/oder dendritische Zellen – und Erythrozyten anzulagern und diese zu benutzen, um von der Mundhöhle ins Gefäßsystem zu gelangen4,7,92,95,107. Es wurde berichtet, dass Porphyromonas gingivalis sich in tiefere Gefäßgewebe ausbreiten kann. Dort scheint es die Proliferation glatter Muskelzellen in der Intima zu induzieren, die Produktion von Matrixmetalloproteinasen (MMP) durch Lymphozyten oder myeloische Zellen zu stimulieren und in späteren Stadien die atherosklerotische Plaqueruptur zu erleichtern109. Die bakteriell induzierte Thrombozytenaggregation kann zum thrombotischen Gefäßverschluss mit beitragen38. In Gegenwart von Bakterien wird die Aufnahme von Low-Density-Lipoproteinen (LDL) durch Makrophagen verstärkt, die die Schaumzellbildung und dadurch die Atherogenese beschleunigen32,64 (Abb. 3).
Parodontitis und rheumatoide Arthritis
Bei der rheumatoiden Arthritis (RA) handelt es sich um eine komplexe chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung mit variablem, meist in Schüben voranschreitendem Verlauf, die durch Infiltration von Immunzellen (Makrophagen und T-Zellen) in die Synovialmembran der Gelenke charakterisiert ist14,67. Epidemiologische Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen Parodontitis und RA, selbst nach Korrektur für häufige Risikofaktoren wie das Rauchen, hin19,47,63,93.
Für die RA ist die Bildung von Autoantikörpern gegen Eiweißstoffe, die zyklische citrullinierte Peptide (CCP) genannt werden, charakteristisch. Zur Bildung autoreaktiver Antikörper tragen biochemische Prozesse wie Citrullinierung bei20,42. Initiiert werden diese durch ein spezifisches Enzym, die Peptidylarginindeiminase (PAD)35,106. Da die Citrullinierung die dreidimensionale Struktur und Ladungsverhältnisse der betroffenen Peptide beziehungsweise Proteine verändert, kann eine dysregulierte Citrullinierung die normale Signalgebung der Wirtszelle und die Immun- oder andere homöostatische Funktionen stören. Die Citrullinierung von Proteinen ist in mehreren physiologischen Prozessen involviert und spielt eine wichtige Rolle in der Ätiopathogenese der RA38. Die Autoantikörper gegen citrullinierte Proteine (ACPA) dienen oftmals als diagnostische Marker für RA, da diese im Serum bereits lange vor der klinischen Manifestation nachgewiesen werden und deren Serumspiegel stark mit dem Schweregrad der Erkrankung korrelieren6,99.
Die genauen Abläufe im Rahmen der Ätiopathogenese der RA sind bislang nicht abschließend geklärt. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigte, dass Patienten mit RA – insbesondere solche mit ACPA-positiver RA – häufiger Parodontitis aufweisen als Kontrollpatienten mit Osteoarthritis. Darüber hinaus war bei diesen Patienten der Nachweis von Porphyromonas gingivalis in subgingivalen Biofilmproben unabhängig vom Raucherstatus mit erhöhten ACPA-Werten assoziiert75. Die Fähigkeit von Porphyromonas gingivalis, PAD zu exprimieren und Proteine zu citrullinieren, ist einzigartig unter den Parodontitis-assoziierten Bakterien und möglicherweise unter allen Prokaryonten58,68. Diese Eigenschaft bewirkt eine Immuntoleranz und eine latente Antikörperreaktion gegen citrullinierte Proteine89. In einer entzündlichen Umgebung wie bei einer Parodontitis, in verletzten oder entzündeten Gelenken kann die Porphyromonas-gingivalis-PAD (PPAD) sowohl bakterielle Proteine als auch humane Peptide wie Fibrinogen und α-Enolasen, zwei wichtige Autoantigene der RA, citrullinieren108. Bei anfälligen Individuen kann es zur Aufhebung der natürlichen Immuntoleranz, zur Präsentation der verschiedenen citrullinierten Peptide, T-Zellaktivierung, B-Zellstimulation und ACPA-Produktion gegen die eigenen citrullinierten Proteine kommen80. ACPA binden citrullinierte Proteine und bilden Immunkomplexe, die lokale synoviale Entzündungen verursachen können85. Aufgrund seines PPAD könnte es sich bei Porphyromonas gingivalis um einen mechanistischen Link zwischen Parodontitis und RA handeln38 (Abb. 3).
Fazit
Während die nichtspezifische Ansammlung von Zahnplaque die Entstehung einer Biofilm-assoziierten Gingivitis fördert, ist die Parodontitis mit einer ausgeprägten Dysbiose des parodontalen Mikrobioms assoziiert. Die Verschiebung von einer symbiotischen zu einer dysbiotischen Mikroflora scheint aufgrund entzündungsbedingter Veränderungen im gingivalen Sulkusbereich zu erfolgen. Verlauf, Schweregrad und Progression einer komplexen Entzündungserkrankung wie der Parodontitis werden wesentlich von der immunentzündlichen Reaktion des Wirts auf den mikrobiellen Biofilm bestimmt und von multiplen ätiologischen Faktoren – darunter systemischen Erkrankungen wie DM – beeinflusst. Wiederum können Parodontitis-assoziierte Bakterien und Entzündungsmediatoren, beispielsweise infolge unkontrollierter parodontaler Entzündungs- und Immunreaktionen, nicht nur lokal Kollateralschäden und Gewebedestruktion verursachen, sondern auch in die Blutbahn gelangen, andere Organbereiche des Körpers erreichen und fern der Mundhöhle pathologische Prozesse auslösen beziehungsweise beeinflussen. So scheint ein direkter, teilweise wechselseitiger Zusammenhang zwischen Parodontitis und weit verbreiteten Systemerkrankungen wie DM, Atherosklerose und RA gesichert.
Die Erforschung der zugrundeliegenden Pathomechanismen hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, erfordert jedoch noch weitere Arbeiten, um die Relevanz der häufig in vitro gewonnenen Erkenntnisse auch in vivo bestätigen zu können. Der Paradigmenwechsel in Bezug auf die Ätiologie und Pathogenese der Parodontitis von einer Infektions- zu einer Entzündungserkrankung verändern die Behandlungsstrategien vom Versuch, den mikrobiellen Biofilm zu kontrollieren, hin zur Kontrolle der lokalen und systemischen Entzündung. Es werden Wirtsmodulationstherapien als Alternative zu direkten antimikrobiellen Ansätzen entwickelt, die den immunsubversiven und proinflammatorischen Strategien dysbiotischer mikrobieller Gemeinschaften am Parodontium entgegenwirken und so zur Behandlung von Parodontitis und assoziierten systemischen Entzündungen beitragen sollen. Dennoch ist eine gute Mundhygiene Voraussetzung für die Kontrolle der Gesamtbakterienlast und der Vermeidung beziehungsweise Beherrschung systemischer Auswirkungen eines dysbiotischen Biofilms. Für den Langzeiterfolg der Therapie ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Patient, Zahnarzt und behandelnden Ärzten entscheidend. Die umfassende, interdisziplinäre und gut koordinierte Betreuung der Patienten kann zu einer adäquaten parodontalen und systemischen Gesundheit beitragen.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Henrik Dommisch, PD Dr. Annette Moter, Dr. Denica Kuzmanova, alle Berlin
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