Adipositas hat sich in den vergangenen Jahren weltweit zu einer substanziellen Herausforderung für die Bevölkerungsgesundheit und damit für die medizinische Versorgung insgesamt entwickelt. In Deutschland gelten fast 25 Prozent der Erwachsenen als adipös, das heißt stark übergewichtig. Neue Zahlen zur Häufigkeit und den Entwicklungen in den Alterskohorten und Regionen hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) jetzt vorgelegt.
Neuere Datenauswertungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung für den Zeitraum 2009 bis 2018 zeigen vor allem in den höheren Altersgruppen ab 80 Jahren einen starken Anstieg in der Diagnosehäufigkeit von Adipositas. Bei Hochaltrigen im Alter von 85 bis 89 Jahre zeigen die ausgewerteten Daten eine Steigerung um 80 Prozent. Bei den Frauen stieg die Prävalenz von 8,3 auf 14,8 Prozent, bei den Männern verdoppelte sie sich sogar von 6,4 auf 12,9 Prozent.
Situation bei Kindern und Jugendlichen stagniert
Bei Kindern und Jugendlichen, die seit vielen Jahren besonders im Fokus von gesundheitlicher Aufklärung und präventiven Maßnahmen stehen, scheint sich die Diagnosehäufigkeit von Adipositas allmählich zu verlangsamen. 2018 wurde bei 4,6 Prozent der Mädchen und 4,7 Prozent der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren Adipositas diagnostiziert. Im Vergleich zu 2009 entspricht dies nur einem Anstieg von 8 Prozent bei Mädchen (2009: 4,3 Prozent) und 15 Prozent bei Jungen (2009: 4,1 Prozent). In einigen Altersbereichen bei Kindern und Jugendlichen zeigte sich seit 2014 eine Stabilisierung beziehungsweise sogar ein leichter Rückgang der Prävalenz, der bei Mädchen noch etwas deutlicher ausfällt als bei Jungen.
Höhere Prävalenz in den östlichen Bundesländern
Auffällig ist auch die räumliche Variation bei der Adipositas-Prävalenz. Diese ist in den östlichen Bundesländern grundsätzlich höher. Mecklenburg-Vorpommern wies 2018 für beide Geschlechter die höchsten Prävalenzwerte auf (Frauen 18,3 Prozent, Männer 14,4 Prozent), gefolgt von Sachsen-Anhalt (Frauen 16,6 Prozent, Männer 12,2 Prozent) und Brandenburg (Frauen 15,5 Prozent, Männer 11,8 Prozent). Gleichzeitig wurde in Mecklenburg-Vorpommern mit +44 Prozent bei den Frauen der zweithöchste und mit +66 Prozent bei den Männern der höchste Prävalenzanstieg gegenüber 2009 beobachtet.
Häufig komplexe Begleit- und Folgeerkrankungen
Das sind die zentralen Ergebnisse einer aktuellen Versorgungsatlas-Studie des Zi zu den Trends in der Diagnoseprävalenz der Adipositas in der vertragsärztlichen Versorgung von 2009 bis 2018. „Als eine der großen Bevölkerungskrankheiten, nicht nur in der westlichen Welt, geht die Adipositas häufig mit komplexen Begleit- und Folgeerkrankungen einher. Diese ziehen nicht nur einen hohen physischen und psychischen Leidensdruck der Betroffenen nach sich, sondern verursachen auch enorme medizinische Versorgungskosten. Zuletzt wurde dies durch das durch Adipositas deutlich erhöhte Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf wieder eindrücklich belegt. Insofern stellt der Anstieg der Erkrankungszahlen, vor allem in der höheren Altersgruppe, besondere Anforderungen an eine zielgerichtete medizinische Versorgung. Es ist daher gut, dass der Gemeinsame Bundesausschuss nun in die Detailarbeit zum strukturierten Behandlungsprogramm (DMP) Adipositas einsteigt. In zwei Jahren werden die Patientinnen und Patienten dann vom koordinierten und leitliniengerechten Vorgehen in diesem Programm profitieren können“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.
Auch Risiken für die Mundgesundheit
Adipositas ist eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfettanteils. Menschen mit Adipositas haben unter anderem ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Muskel- und Gelenkerkrankungen sowie eine Reihe von Krebserkrankungen. Bezüglich des Knochen- und Gelenksystems besteht durch Adipositas insbesondere für die unteren Extremitäten und die Wirbelsäule ein erhöhtes Arthrose-Risiko durch Über- und Fehlbelastung. Bereits im Kindes- und Jugendalter sind Übergewicht und Adipositas mit einem erhöhten kardiovaskulären Risikoprofil verbunden sowie mit einem höheren Risiko für Diabetes Typ 2 und Herzkreislauferkrankungen im Erwachsenenalter assoziiert. Diese Erkrankungen sind häufig auch mit oralen Erkrankungen, vor allem der Parodontitis, assoziiert. Fehl- und Mangelernährung und ein erhöhter Zuckerkonsum wirken sich negativ auf die Mundgesundheit aus. Die Reduktion von Zucker und die Ernährungsberatung spielen daher für die Zahnmedizin eine immer größere Rolle.
Auswirkungen der Pandemie noch nicht einbezogen
Die aktuelle Analyse erfolgte mit Daten aus der Zeit vor der COVID-19-Pandemie. Inwieweit es pandemiebedingt zu einem weiteren Anstieg der Adipositas-Prävalenz kommt, wofür sich bereits jetzt in der Versorgung erste Hinweise verdichten, kann erst in zukünftigen Analysen untersucht werden.
Daten und Veröffentlichung
Datengrundlage der Auswertung waren die bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten gemäß § 295 SGB V für die Jahre 2009 bis 2018. Versicherte wurden als prävalent erfasst, wenn sie auf Jahresebene in mindestens einem Quartal (M1Q) eine mit dem Zusatzkennzeichen „gesichert“ codierte ICD-10-Codierung E66 für Adipositas erhalten hatten. Die Prävalenz diagnostizierter Adipositas wurde pro Berichtsjahr (2009 bis 2018) als Anteil der Patienten mit Adipositas (M1Q) an der Gesamtpopulation der gesetzlich Krankenversicherten ermittelt (im Jahr 2018 N = 72.318.540).
Steffen A, Holstiege J, Akmatov MK, Bätzing J. Trends in der Diagnoseprävalenz der Adipositas in der vertragsärztlichen Versorgung von 2009 bis 2018. Versorgungsatlas-Bericht Nr. 21/10. Berlin 2021. (https://doi.org/10.20364/VA-21.10)