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Zahnmedizinische Versorgung

Ein Beitrag von Prof. Dr. Michael Hülsmann und Dr. Steffi Drebenstedt, beide Göttingen


Prof. Dr. Michael Hülsmann

Die endodontische Behandlung älterer und alter Patienten unterscheidet sich nicht prinzipiell, aber in einigen Einzelaspekten von der Behandlung jüngerer Patientengruppen. Einschränkungen der Allgemeingesundheit, Multimedikation und u. U. reduzierte Belastbarkeit müssen ebenso berücksichtigt werden wie möglicherweise limitierte Mundöffnung und kalzifizierte Wurzelkanäle. In bestimmten Fällen sind Kompromissbehandlungen unumgänglich. In vielen Fällen rechtfertigt die gute Prognose aber auch in dieser Patientengruppe den Versuch einer Zahnerhaltung durch eine Wurzelkanalbehandlung.

Mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung bei gleichzeitig zu erkennender Tendenz zur längeren Erhaltung der eigenen Zähne nimmt auch der Anteil älterer und alter Patienten am Praxisklientel zu. Die Resultate mehrerer epidemiologischer Studien zeigen deutlich, dass das Problem der endodontischen Behandlung bei alten und älteren Patienten in der täglichen Praxis eine große Rolle spielt7. Der Trend zur längeren Erhaltung der eigenen Dentition, aber auch der Karieszuwachs im Alter und letztlich die Summe der Noxen, die ein Zahn in immer mehr Jahren erlitten hat, resultieren in einer Zunahme endo­dontischer Behandlungen bei älteren Patienten. In einer amerikanischen Studie wiesen 38 % der untersuchten älteren Patienten mindestens einen Zahn mit einer Wurzelkanalfüllung auf, 4,8 % der Zähne waren bereits wurzelkanalgefüllt, 5,1 % aller Zähne zeigten im Röntgenbild eine Parodontitis apicalis3. In einer finnischen Untersuchung von 293 Personen im Alter von 75–85 Jahren wiesen 58 % der Untersuchten mindestens eine Wurzelkanalfüllung auf, 21 % der Zähne waren endodontisch behandelt18. In der Schweiz verfügten 78 % von 143 untersuchten 66-jährigen Personen über mindestens einen wurzelkanalbehandelten Zahn, 20 % aller Zähne waren endodontisch versorgt13 (Abb. 1). Während die Relation von Parodontitis apicalis und marginaler Parodontitis bei 30–40-Jährigen noch bei 40 % zu 14 % liegt, vergrößert sich bei den über 60-Jährigen der Abstand auf 62 % der Patienten mit Parodontitis apicalis zu 26 % mit marginaler Parodontitis8. Insgesamt ist die Datenlage zum endodontischen Behandlungsbedarf bei älteren Patienten aber wenig zufriedenstellend.

Grundlagen: Endodontie und Allgemeingesundheit

Ältere Menschen leiden nicht selten an chronischen Erkrankungen wie z. B. Parkinson, Alzheimer oder koronaren Herzerkrankungen. Auch chronische Schmerzen, Rheumatismus, Kurzatmigkeit, Verminderung der Organfunktionen, Änderung des Immunsystems, Depressionen und Gewichtsverlust sind häufig anzutreffen. Etwa 12 % aller Patienten gelten als gesundheitlich kompromittiert und weisen folglich eine schwerwiegende Grunderkrankung auf5. Insbesondere die Zahl der multimorbiden Patienten mit einer umfangreichen Medikation nimmt weiter zu15. Die Multimorbidität zeichnet sich durch das gleichzeitige Vorliegen mehrerer Erkrankungen mit steigendem Schweregrad aus22. Diese Patienten müssen vielfach zahlreiche Medikamente einnehmen, eine Interaktion mit endodontisch relevanten Pharmaka kann nicht prinzipiell ausgeschlossen werden und muss in jedem Fall präoperativ überprüft werden. Die am häufigsten anzutreffenden Grunderkrankungen bei Patienten über 65 Jahre sind die arterielle Hypertension (45 %) sowie Knochen- und Gelenkerkrankungen (34 %) (Arthrose, Arthritis, Osteoporose, etc.). Andere Herzerkrankungen machen etwa 20 % aus und Diabetes ca. 10 %, hauptsächlich Typ II–Diabetes (mehr als 2/3)4,20. In letzter Zeit hat auch die häufige Medikation älterer Menschen mit Bisphosphonaten wegen des hiermit verbundenen Risikos von Knochennekrosen Besorgnis erregt.

Für die (endo-)chirurgische Behandlung sind vor allem Medikamente von klinischer Relevanz, die einen Effekt auf die Blutgerinnung haben. Diese Medikamente kommen entweder prophylaktisch (Vermeidung von Thrombosen und Embolien) oder therapeutisch (Herzrhythmusstörungen, Thrombosen, APC-Resistenz, Klappenersatz, fortgeschrittene Arteriosklerose oder hämodynamische Störungen) zum Einsatz. Die Behandlung dieser Patienten sollte immer nur nach Rücksprache mit dem behandelnden Internisten durchgeführt werden10,17.

Da die exakte Kenntnis dieser multiplen Grunderkrankungen und der Pharmakodynamik der verwendeten Medikamente die Kompetenzen eines Zahnarztes u. U. deutlich überschreitet, empfiehlt es sich, vor Beginn der Wurzelkanalbehandlung einen Termin für eine ausführliche Anamnese und klinische Untersuchung einzuplanen. Der Patient wird gebeten, alle Medikamente mitzubringen. Bei Unsicherheiten sollte Rücksprache mit dem Hausarzt oder Internisten gehalten werden. Dieser erste Untersuchungs- und Besprechungstermin vermittelt auch einen ersten Eindruck von den Anforderungen und Erwartungen der Patienten sowie ihrer Belastungsfähigkeit und Compliance, aber auch von ihrer Mundhygiene und ihren finanziellen Möglichkeiten. Mit dem Patienten sollte der geplante Behandlungsablauf ohne Beschönigungen diskutiert werden. Es sollte evaluiert werden, welche Bedeutung der Patient dem Erhalt seines Zahnes zumisst: wird ersichtlich, dass der Patient trotz gewissenhafter Aufklärung über die Möglichkeiten und Probleme einer Wurzelkanalbehandlung eine Extraktion bevorzugen würde, weil sie oder er die Mühen einer endodontischen Behandlung scheut oder Angst hiervor hat, sollte dieser Wunsch respektiert werden.

Während bei jugendlichen Patienten das Implantat im Einzelfall eine akzeptable Alternative darstellen kann, stellt sich dies beim älteren Patienten eher gegenteilig dar: ein Nachlassen der Beweglichkeit, z. B. der Rückgang der Handmuskelkraft um bis zu 55 %10, nicht nur bei Patienten mit Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, und die damit verbundene nachlassende Pflegemöglichkeit der Zähne erhöhen das Risiko der Periimplantitis und des Implantatverlustes. Bei älteren Patienten aus Pflegeeinrichtungen muss berücksichtigt werden, dass das Pflegepersonal in der Regel nur über eingeschränkte Kenntnisse in der Zahn- und Implantatpflege verfügt oder diesem Problem wenig Bedeutung beimisst.

Mit dem Patienten sollte der geplante Behandlungsablauf ohne Beschönigungen diskutiert werden und alle möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten und Besonderheiten angesprochen werden: die klinischen Erfahrungen zeigen, dass der nicht unerhebliche Zeitaufwand einer endodontischen Behandlung abschreckend auf ältere Patienten wirken kann. Lange Mundöffnung, schnelle Ermüdung, Rückenbeschwerden und Angst vor langer unbequemer Lagerung spielen hier eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung pro oder kontra Wurzelkanalbehandlung. Auf die Möglichkeit kurzer Behandlungstermine sollte ebenso hingewiesen werden wie auf die Möglichkeit von Behandlungspausen. Viele ältere Patienten empfinden andererseits einen (auch länger dauernden) Zahnarztbesuch durchaus als willkommene Unterbrechung ihrer Alltagsroutine, möglicherweise auch ihrer Einsamkeit im häuslichen Ambiente.

Zu Interaktionen zwischen endodontischen Erkrankungen und der Allgemeingesundheit liegen nur wenige aussagekräftige Studien vor11,12. Endodontische Probleme können in Einzelfällen die Allgemeingesundheit negativ beeinflussen: neben einer kurzzeitigen Bakteriämie während und direkt nach endodontischen Eingriffen sind in erster Linie abszedierende apikale Parodontitiden zu nennen. Umgekehrt können systemische Erkrankungen die Erfolgsquote von Wurzelkanalbehandlungen unter Umständen reduzieren (Diabetes, Einschränkungen der Funktion des Immunsystems). In all diesen Fällen liegt aber keine Kontraindikation zur WKB vor.

Herzschrittmacher

Eine Reihe in der zahnärztlichen Praxis verwendeter Geräte können u.U. Interferenzen mit Herzschrittmachern aufweisen. Die Anwendung moderner Endometriegeräte gilt als unproblematisch. Vor dem Gebrauch von Ultraschallgeräten, Schallvibrationsgeräten, Elektrochirurgie-Geräten oder Lasern sollten die Herstellerempfehlungen geprüft und Rücksprache mit dem Internisten oder Kardiologen gehalten werden16.

Transplantatpatienten

Patienten mit Organtransplantaten müssen sich zumeist einer lebenslangen Immunsuppression unterziehen. Daher sollten vor einer Transplantation alle dentalen Risiken nach Möglichkeit ausgeschaltet werden, endodontische Kompromissbehandlungen sind kontraindiziert17. Alle mit einem Bakteriämierisiko verbundenen Eingriffe sind unter Antibiotikaschutz und in Absprache mit den zuständigen Fachärzten vorzunehmen.

Bisphosphonate

Bei Patienten mit einer i.v.-Applikation von Bisphosphonaten muss mit einem erhöhten Risiko bisphosphonat-induzierter Knochennekrosen nach invasiven Eingriffen gerechnet werden, das umso höher ist, je länger die Bisphosphonat-Medikation andauert. Aufgrund der sehr langen Halbwertszeit von Bisphosphonaten ist eine kurzfristige Unterbrechung der Medikation nicht hilfreich. Bei peroraler Einnahme ist das Risiko peri- und postoperativer Probleme zwar deutlich geringer, darf aber keinesfalls ignoriert werden. Die Wurzelkanalbehandlung stellt insgesamt bei dieser Patientengruppe gegenüber chirurgischen Eingriffen die schonendere Alternative dar1 (Abb. 2a-b).

Altersbedingte Veränderungen der Pulpa und der Zahnhartsubstanzen

Wie der gesamte menschliche Körper, so unterliegen auch die Zahnhartgewebe und das Pulpa-Dentin-System altersbedingten Veränderungen. Diese können prinzipiell sowohl als Ergebnis langer funktioneller Belastung, des sog. „wear and tear“, auftreten, als auch als geriatrisches Phänomen, d.h. als normaler, auf intrinsischen Faktoren beruhender Alterungsprozess. Die wesentlichen degenerativen Prozesse umfassen die Fibrose und die Atrophie, den Rückgang der Zellularität und Vaskularität, die Dekalzifikation und Zelldegeneration9.

Eine der Hauptveränderungen betrifft den Rückgang der Zellzahl und Zelldichte in der Pulpa, sowie der proliferativen und dentinbildenden Aktivität der Odontoblasten. Die Zellzahl beträgt im Alter von 70 Jahren nur noch 50 % der eines 20-Jährigen. Eine weitere Studie zeigte, dass die Zahl der Odontoblasten bei 50–59-Jährigen um 15,6 % geringer war als bei 10–30-Jährigen, die Dichte der Odontoblasten verringerte sich um 40 %, die Fibroblastendichte im Kronenbereich um 27 %, in der Wurzel sogar um 40 %14. Im Zeitraum zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr geht die Gesamtzelldichte in der Pulpa auf die Hälfte zurück6. Veränderungen der Odontoblastenfortsätze und die Abnahme der odontoblastischen Kapillaren im Kontext der reduzierten Gefäßversorgung der Pulpa schränken die Tätigkeit der Odontoblasten zunehmend ein. Dennoch können auch die alternde und die alte Pulpa weiterhin Sekundärdentin bilden, die Prädentinschicht wird jedoch kontinuierlich dünner. Der Dickenzuwachs der Dentinummantelung der Pulpa führt zu einer progressiven Abnahme des Pulpavolumens.

Aber auch die Fibroblasten, die am häufigsten in der Pulpa anzutreffenden Zellen, und das Bindegewebe der Pulpa unterliegen Veränderungen, die sich z. B. in einer veränderten Kollagenzusammensetzung niederschlagen. Es kommt zur Fibrosierung und zunehmenden Kalzifikation des pulpalen Bindegewebes. Die Reduktion des Levels der Metallomatrixproteinasen MMP 2, 8 und 9 führt zu einem Rückgang des Kollagenturnovers und einer Fibrosierung der Kollagenfasern, die im Wurzelkanal ausgeprägter ist als in der Kronenpulpa9. Erhebliche Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Pulpen finden sich auch hinsichtlich der Genexpression: während in der jungen Pulpa mehr Wachstumsfaktoren exprimiert werden, die die Zell­proliferation steuern, verschiebt sich dies zunehmend in Richtung der Expression von Genen, die die Apoptose regulieren19. Die Gefäßversorgung der Pulpa, die für die Odontoblastenaktivität von essentieller Bedeutung ist, geht ebenfalls mit dem Alter zurück: neben einer Verringerung der Zahl der durch das Foramen durchtretenden Blutgefäße verkleinert sich auch das Gefäßlumen und die Gefäßwandungen zeigen Zeichen der Kalzifikation.

Mit zunehmendem Alter geht parallel zur Blutversorgung auch die nervale Versorgung der Pulpa zurück, die bis zum vollständigen Verlust des Raschkow’schen Nervenplexus reichen kann. Dieser Verlust vieler Nervenfasern und die nicht mehr so ausgeprägte Aufzweigung der terminalen Nervenfasern mit einem Rückgang der Zahl der peripheren Neurone äußern sich klinisch in einer deutlich höheren Reizschwelle der alten Pulpa. Die verminderte Ausschüttung von Neuropeptiden, vor allem der beiden Entzündungsmediatoren CGRP (calcitonin gene-related peptide) und Substanz P schwächt das Potenzial der Pulpa, auf einen Insult adäquat zu reagieren, sowohl qualitativ als auch quantitativ9.

Auch das Immunsystem der Pulpa verändert sich mit dem Alter: es findet ein Rückgang des IgG-Levels ebenso wie des gesamten immunologischen Abwehrsystems statt. Es kommt aber nicht zum vollständigen Verlust der Abwehrmöglichkeiten und -fähigkeiten9.

Im Laufe ihrer Gebrauchsperiode unterliegen auch die Zahnhartsubstanzen einigen Veränderungen, die vorwiegend regressiven Charakters sind. Die Ausdehnung der Pulpakammer verringert sich bei Prämolaren und Molaren mit zunehmendem Alter2. Die Höhe der Pulpakammer nimmt um etwa 80 % ab; die Pulpabreite dagegen nur um ca. 20 %, da an Pulpakammerdach und -boden eine stärkere Dentinablagerung stattfindet als an den Wänden der Pulpakammer21 (Abb. 3).

Freiliegendes Dentin kann vor allem im Zahnhalsbereich in Zahnhalshypersensibilitäten, chronischen Pulpitiden und Kalzifikationen des Pulpakavums resultieren. Nicht selten ist das Pulpakavum von Dentikeln unterschiedlichster Größe und Struktur blockiert (Abb. 4). Eine zunehmende Dentinsklerosierung, der Rückgang der Dentinpermeabilität und die Verengung der Dentintubuli sind ebenso typische Alterungserscheinungen eines Zahnes wie die Änderung der Zahnfarbe (Gelbfärbung aufgrund von Pigmenteinlagerungen).


Tab. 1 Altersbedingte Veränderung des Pulpa-Dentin-Systems (nach Hülsmann & Bürklein 2012).

Die regressiven Veränderungen der Pulpa und die Dickenzunahme der Hartgewebe führen zu einem Rückgang in der Abwehrfähigkeit der Pulpa. Die reduzierte nervale Versorgung bringt einen Verlust an essentiellen Warnhinweisen auf eine Bedrohung der Pulpavitalität mit sich. Die wichtigsten Veränderungen des Pulpa-Dentin-Komplexes sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Fortsetzung in Teil 2

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Reference: Zeitschrift für Senioren-Zahnmedizin, Ausgabe 1/13 Alterszahnmedizin

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