Gemeinsam mit engagierten Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern haben Forschende der TU Berlin im Rahmen des Citizen-Science-Projekts „Mein Ding – Ich bin, was ich (nicht) habe“ Übungen für einen dauerhaft ressourcenleichten Lebensstil entwickelt und getestet. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen präsentieren sie nun den „Konsum-Kompass" – einen interaktiven Ratgeber, der ab sofort verfügbar ist.
Der Konsum-Kompass bietet umfassende Informationen und praxisnahe Übungen, die Menschen dabei unterstützen, das Ausmisten bewusst und nachhaltig zu gestalten. Ziel ist es, langfristig einen ressourcenleichten Lebensstil zu etablieren und zu pflegen. Der Ratgeber ermutigt Interessierte dazu, ihren Konsum zu reflektieren und aktive Schritte hin zu einem umweltfreundlicheren Alltag zu unternehmen.
Langfristige Besitzreduktion
Deutsche Haushalte sind vollgestopft mit Dingen, die oft nur aufbewahrt, aber kaum genutzt werden. Viele Menschen empfinden diese Anhäufung als psychisch belastend, Ratgeber für Minimalismus liegen deshalb im Trend. Doch kann gezieltes Ausmisten tatsächlich langfristig zu weniger materiellem Besitz, mehr Wohlbefinden und einer nachhaltigen Entwicklung beitragen? Dieser Frage wird im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Citizen-Science-Projekt „Mein Ding – Ich bin, was ich (nicht) habe“ nachgegangen.
Mitgeholfen haben Bürgerwissenschaftlerinnen wie Christine B., die sich für das Projekt mit ihrem eigenen Konsum und Besitz auseinandergesetzt hat: „Bei einer Übung mussten wir Dinge zählen, die wir besitzen. Ich bin auf 40 Hosen gekommen. Das hat mir die Augen geöffnet und mir war klar, jetzt muss ich was ändern!“
Im Projekts zeigte sich, dass die Teilnehmenden im Durchschnitt etwa 1.500 Gegenstände an Kleidung, Lese- und Schreibwaren, Elektronik und Küchenutensilien besaßen. Je nach Kategorie wurden 30 bis 60 Prozent dieser Dinge nicht aktiv genutzt. Langfristige Untersuchungen zum Konsumverhalten konnten zeigen, dass reflektiertes Ausmisten zu einer signifikanten Reduktion des zukünftigen Kaufverhaltens führen kann. In manchen Fällen füllt sich nach dem Ausmisten der frei gewordene Platz jedoch wieder mit Neuanschaffungen.
Eine Verbindung zwischen Minimalismus beziehungsweise Ausmisten als Lifestyle-Trend und der gesellschaftspolitischen Suffizienz-Bewegung, also der Begrenzung von Energie- und Ressourcenverbrauch durch Anpassung der Lebensweise, gibt es bisher nur begrenzt. Die Forschenden der TU Berlin sehen großes Potenzial, diese beiden Bewegungen stärker zu verbinden, um langfristig eine Konsumreduktion zu bewirken.
Wertvolles Wissen aus der Bevölkerung
Dementsprechend entwickelten sie im Projekt mit Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern Methoden zum Dokumentieren, Hinterfragen und Reduzieren von Besitztümern. Anschließend erprobten die beteiligten Menschen die Methoden an sich selbst, erforschten in Übungen ihre persönliche Beziehung zu ihren Besitztümern, misteten konkret und strukturiert Dinge aus und gaben sie weiter. Christine B. spendete viele ihrer ungenutzten und ungeliebten Dinge an Organisationen, brachte Lebensmittel zur Tafel und schenkte einige Kleider ihrer Friseurin. Die vielen positiven Rückmeldungen bestärkten sie weiter in ihrem Entschluss, ressourcenleichter zu leben. Mittlerweile legt sie deutlich mehr Wert auf immaterielle Dinge wie Erfahrungen als auf materielle Dinge wie ein neues Kleidungsstück. Dass ihr Kaufverhalten zu einer besseren Klimabilanz beitragen kann, ist ihr auch wichtig. Denn auch aus Umweltsicht ist es problematisch, mehr Dinge zu kaufen als wirklich gebraucht werden, da für die Produktion, den Transport und die Lagerung von materiellen Gütern Ressourcen verbraucht werden.
Wissen weitergeben, Bekannte motivieren
Mit Freunden und Bekannten sprach Christine B. ebenfalls über reflektierten Konsum – eine weitere Übung im Projekt. „Ich habe wirklich interessante Gespräche geführt und konnte erreichen, dass weitere Dinge ein zweites freudiges Dasein haben können. Meine Schwester, die sonst immer ihre Essensreste wegschmeißt, hat einen Kompost angelegt und eine Freundin hat ihre Pflanzen auf einer Pflanzenbörse verschenkt.“ Für Maximilian Wloch, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt, war die Einbindung von engagierten Bürgerinnen und Bürgern ein großer Vorteil. „Mit ihnen konnten wir direkt die Forschungsfragen erstellen, erproben und verbessern. Dabei konnten wir feststellen, dass die Übungen den Teilnehmenden dabei halfen, während des Ausmistens die Beziehung zu den eigenen Konsumgütern besser zu verstehen und das eigene Konsumverhalten zu reflektieren.“
Konsum-Kompass für reflektiertes Ausmisten
Um die Erkenntnisse aus dem Projekt einer breiten Masse zur Verfügung zu stellen, entwickelte das Team aus den erprobten Übungen den Konsum-Kompass. Der interaktive Ratgeber unterstützt Menschen dabei, sich intensiv und kritisch mit dem eigenen Besitztum und Konsumverhalten auseinanderzusetzen und langfristig weniger zu konsumieren. Er informiert im ersten Teil zu Nachhaltigkeit und privatem Konsum, vermittelt Wissen zu Gründen und Folgen von Überkonsum in der heutigen Gesellschaft und erklärt, warum weniger Besitz zu mehr Wohlbefinden führen kann. Daneben beleuchtet er auch die Schattenseiten von Minimalismus-Trends, bei denen der Rebound-Effekt eine starke Rolle spielen kann. Im zweiten Teil des Ratgebers geht es um die praktische Umsetzung im Alltag.
Loslassen in vier Phasen
Die Auseinandersetzung mit und das Loswerden von Dingen können mitunter überfordernd sein. Daher finden sich zu jedem Schritt praktische Anregungen und Tipps, wie das eigene Konsumverhalten besser verstanden und verändert werden kann. Dabei durchlaufen die Nutzenden vier Phasen:
- Introspektion: Den eigenen Besitz praktisch erkunden und reflektieren
- Reduktion: Achtsam Dinge loswerden und ausmisten
- Weitergabe: Den ausgemisteten Dingen einen neuen Zweck geben
- Dranbleiben: Die Kunst, dem vorherigen Konsummuster zu widerstehen
Reflektierte Kaufentscheidungen
„An einem so alltagsnahen Thema zu forschen und vielfältige Einblicke in die Lebensrealitäten der Bürgerinnen und Bürger zu erhalten, war wirklich spannend. Ich hoffe, dieser Ratgeber kann Konsumentinnen und Konsumenten dabei unterstützen, jedes zukünftige Ausmisten als Gelegenheit zu nutzen, ihre Konsumgewohnheiten erneut zu hinterfragen“, so Dr. Samira Iran, stellvertretende Projektleiterin vom Fachgebiet Arbeitslehre, Ökonomie und Nachhaltiger Konsum der TU Berlin. Christine B. gefällt, wie sich im Projekt Wissenschaft und Alltagswissen ergänzen: „Ich habe gemerkt, ich kann etwas anstoßen, meine Ideen werden wertgeschätzt und angenommen. Ähnlich wie Dinge weiterverwertet werden können, kann auch unser Bürgerinnenwissen in die Wissenschaft einfließen und weiterverwertet werden.“ Sie gönnt sich nach zwei Jahren Konsumverzicht mittlerweile wieder ab und zu ausgewählte Dinge. Für diese Kaufentscheidungen lässt sie sich 14 Tage Zeit. Spontankäufe macht sie gar nicht mehr.
Barbara Halstenberg, Berlin