Anhand eines Patientenbeispiels mit einem traumatischen Schneidezahnverlust zeigt und diskutieren DDS, MSD, PhD Tamer Büyükyılmaz et al. in ihrem Beitrag für die Kieferorthopädie 4/2021 die Möglichkeiten und Grenzen einer die Oberkiefermitte überschreitenden Zahnbewegung.
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Einleitung
Der frühzeitige Verlust oberer Frontzähne, Schneidezahn-Dysmorphien oder deren Verlagerung sind eine große kieferorthopädische Diagnostik- und Therapieherausforderung1,2. Die differenzialdiagnostische Diskussion unterschiedlicher hochindividueller Therapiekonzepte ist genauso notwendig wie eine interdisziplinäre Abstimmung. Neben der implantologischen oder prothetischen Versorgung im Erwachsenenalter sind autologe Transplantationen und verschiedene, nicht immer alltägliche, Formen des kieferorthopädischen Lückenschlusses zu diskutieren1,2. Während im Unterkiefer bei Nichtanlage eines Schneidezahnes der frontale Lückenschluss eine klinisch akzeptable Lösung darstellt, gilt die Translation maxillärer Schneidezähne über die ossäre Kiefermitte als sehr seltene Therapieoption3. Ein erstes Tierexperiment wurde 1984 von der Studiengruppe um Follin und Thilander durchgeführt3. Nach Extraktion eines mittleren oberen Schneidezahnes bei Hunden erfolgte durch orthodontische Krafteinwirkung die Mittenüberwanderung des Gegenzahnes über die Kiefermitte hinweg. Abhängig vom Alter der Hunde wurden histologisch zwei unterschiedliche Therapieeffekte beobachtet:
- Vor Wachstumsabschluss: Signifikante Translation des Schneidezahnes unter ossärer Deformation, „Verbiegung“ der medianen Sutur, Versetzung der Weichgewebestrukturen und teilweise Einbau des Frenulums labiale in den Parodontalapparat.
- Nach Wachstumsabschluss: Translation des Schneidezahnes mit deutlich geringerem knöchernem Effekt.
Für die therapeutischen Überlegungen zur Mittenüberschreitung oberer Schneidezähne beim Menschen erscheint damit die Frage zur Ossifikation der Sutura palatina und die besondere Entwicklung des Os incisivum von wesentlicher Bedeutung. Die ursprüngliche Annahme, dass generell ab dem 15. Lebensjahr mit einer deutlichen Verknöcherung der palatinalen Suturen zu rechnen sei, kann heute bezweifelt werden4–7. Der kieferorthopädische Lückenschluss über die maxilläre Mitte hinweg ist weltweit bisher nur in sehr wenigen Einzelfallstudien beschrieben worden und es fehlen Patientenberichte – geschweige denn Studien – mit einem langen Nachbeobachtungszeitraum. Dieser Artikel diskutiert anhand eines Beispiels die Möglichkeiten und Grenzen eines frontalen Lückenschlusses über die obere Kiefermitte.
Klinisches Beispiel
Die Patientin stellte sich im Alter von 11 Jahren und 4 Monaten erstmals vor. Die klinische und radiologische Untersuchung ergab folgende Befunde (Abb. 1 und 2):
- Traumatischer Verlust der Zähne 11 und 12,
- Schmelzfraktur ohne Verlust der Sensibilität bei Zahn 21,
- Lückeneinengung in Regio 11/12 durch Mesialwanderung der Zähne 13 und 21,
- Kreuzbiss links,
- Angle-Klasse-II-Relationen beidseits,
- leichter Engstand im Unterkiefer,
- relativ ausgewogene skelettale und Weichgeweberelationen,
- Anlage aller dritten Molaren.
Zu den initialen therapeutischen Aufgaben gehörten die transversale Entwicklung des Oberkiefers und die Überstellung des Kreuzbisses. Für das weitere Vorgehen bestanden im Wesentlichen zwei Optionen:
- Distalisation der Zähne 23 und 22, Einstellen der oberen Mitte und Mesilalisierung der rechten oberen Seitenzähne. Nach Wachstumsabschluss prothetische/implantologische Versorgung in Regio 11.
- Kieferorthopädischer Lückenschluss über die Kiefermitte hinweg als außergewöhnliche Lösung.
Die Abbildung 3 zeigt eine therapeutische Skizze. Für den Lückenschluss sprachen die bereits eingetretenen Zahnbewegungen, der Erhalt oraler Strukturen ohne invasive Maßnahmen (Extraktionen oder Minischrauben) und der biologische Ersatz für die verloren gegangenen Zähne 11 und 12. Zu den Risiken zählten neben einer erhöhten Gefahr für Wurzelresorptionen auch die fehlenden Studien zu dieser Fragestellung3,8,9. Außerdem könnten die Zahnbewegungen durch die vermutlich noch nicht ossifizierte Sutur behindert werden3,4–7.
Die kieferorthopädische Behandlung wurde mit einer Straight-Wire-Apparatur im Ober- und Unterkiefer durchgeführt. Die Abbildungen 4 und 5 zeigen den Abschluss der aktiven kieferorthopädischen Behandlung im Oberkiefer. Mit Entfernung der Brackets und Bänder wurden zeitgleich subtraktive Korrekturen an den Zähnen 13 und 23 durchgeführt. Die Feineinstellung erfolgte unter besonderer Beachtung der vertikalen Relationen: Für eine Verbesserung des gingivalen Verlaufs beziehungsweise der dentalen Ästhetik erfolgte eine verstärkte Intrusion der Zähne 13, 22 und 23 (Abb. 6). Besondere Beachtung verdient in der Frontalaufnahme die nach rechts versetzte Lage des Frenulum labiale und der noch asymmetrische Verlauf des Gingivalsaumes (siehe Abb. 5).
Die aktive kieferorthopädische Behandlung wurde mit einer oralchirurgischen Anpassung des gingivalen Verlaufs im Bereich der oberen Frontzähne und mit adhäsiven Aufbauten an den Zähnen 13, 21, 22 und 23 abgeschlossen (Abb. 4). Zur Retention des Behandlungsergebnisses erfolgte im Oberkiefer die Anwendung herausnehmbarer Apparaturen und eines festsitzenden Retainers im Unterkiefer.
Die überwiegend körperliche Zahnbewegung der Zähne 13, 21, 22 und 23 konnte erfolgreich durchgeführt werden. Allerdings imponierte sowohl in der klinischen Inspektion als auch in der radiologischen Auswertung, dass die ossären Strukturen (Sutura mediana, Foramen incisivum) nicht ortsstabil blieben und in Richtung des ersten Quadranten versetzt wurden (Abb. 6 und 7).
Die Patientin wurde in regelmäßigen Abständen zur Kontrolle des Retentionsverlaufes einbestellt. Die Abbildung 7 zeigt die intraorale Situation nach Ablauf von zehn Jahren.
Eine umfassende Neuversorgung mit Veneers im Bereich der oberen Front erfolgte nach 14 Jahren (Abb. 6 und 7). Die Zahnkronenformen und die Zahnfarben wurden den natürlichen Relationen optimaler angepasst, um eine weitere Verbesserung der dentalen Ästhetik zu erreichen. Im gleichen Zeitraum wurde eine dreidimensionale Röntgenaufnahme angefertigt. In den verschiedenen Ansichten des DVT imponieren stabile dentale und knöcherne Relationen sowie die deutliche Abweichung der ossären Strukturen im Bereich der Oberkiefermitte (Abb. 8). Die extraoralen Aufnahmen nach Abschluss der kieferorthopädischen Behandlung zeigen eine gute dentale und faziale Ästhetik (Abb. 9).
Diskussion
Die Indikation zur kieferorthopädischen Translation oberer Schneidezähne über die Kiefermitte kann als selten angesehen werden und bezieht sich auf zwei mögliche Ausgangssituationen8–16:
- Zustand nach traumatischer Verletzung und Verlust von Schneidezähnen.
- Dysplasien der mittleren Schneidezähne (Makrodontie) und Anlage zusätzlicher Schneidezähne.
Die sehr wenigen Fallberichte aus der Literatur lassen keine systematische Analyse von Behandlungsverlauf und Nebenwirkungen zu. Die bisher veröffentlichten Kasuistiken beschreiben die Behandlung von jungen Patienten. Lediglich Garib et al.16 zeigten eine dentoalveoläre Kompensation mittels Translation eines mittleren Schneidezahns nach Verlust von Zahn 21 bei einer 19-jährigen Patientin. Bei allen Patientenbeispielen konnte nach Abschluss der Behandlung sowohl klinisch als auch radiologisch nachgewiesen werden, dass die ossären Strukturen der Zahnbewegung folgten. Welchen Einfluss eine mögliche vollständige Verknöcherung der Sutur auf diesen therapeutischen Effekt hat, muss offenbleiben, da keine Behandlung im Erwachsenenalter dokumentiert ist. Außerdem wiesen alle Autoren darauf hin, dass die Indikation zu dieser seltenen Behandlungsform sorgfältig mit anderen Optionen abgewogen wurde und dass zufriedenstellende Ergebnisse nur durch interdisziplinäre Abstimmungen möglich sind.
Schlussfolgerung
- Eine translatorische Bewegung von Zähnen über beziehungsweise durch die Oberkiefermitte ist nur eingeschränkt möglich – es kann mehr als ein „Verbiegen“ anatomischer Strukturen angesehen werden.
- Die kieferorthopädisch induzierten therapeutischen Effekte affektieren nicht nur die Zähne, sondern auch alle umliegenden Strukturen (z. B. Frenulum labi, Canalis inzisivus, etc.).
- Es ergeben sich nur geringe Hinweise auf Wurzelresorptionen oder destruktive Langzeiteffekte.
- Konservierende, prothetische, parodontal-chirurgische und sogar eventuell endodontische Maßnahmen sind unumgänglich.
Ein Beitrag von Tamer Büyükyılmaz, Adana, Türkei, Dr. Jens Johannes Bock, Fulda, Dr. Björn Ludwig Traben-Trarbach
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de