Für die Prognose eines avulsierten bleibenden Zahns ist das Verhalten am Unfallort entscheidend. In ihrem Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 9/19 beschreiben die Autoren Dr. Andrea Zürcher und Prof. Dr. Andreas Filippi die Replantation avulsierter Zähne von der Bergung bis zur Nachbehandlung. Schon die Art und Dauer der extraoralen Lagerung bis zur Replantation des Zahns beeinflussen das Überleben der parodontalen Zellen auf der Wurzeloberfläche sowie die Wahrscheinlichkeit einer Revaskularisation der Pulpa bei einem wurzelunreifen Zahn mit weit offenem Foramen apicale (> 2 mm). Um das Überleben der parodontalen Zellen über einen längeren Zeitraum (bis zu 24 Stunden) zu gewährleisten, sollte der avulsierte Zahn umgehend in das Organtransplantationsmedium einer Zahnrettungsbox gelegt werden.
Die Behandlung eines avulsierten bleibenden Zahns ist in der Praxis ein Notfall. Da am häufigsten Kinder und Jugendliche betroffen sind, ist die Replantation des Zahns die Therapie der Wahl. Zahlreiche Faktoren wie Rettungskette, Zustand des Zahns, Durchmesser des Foramen apicale, intraorale Begleitverletzungen und Alter des Patienten haben Einfluss auf das genaue Vorgehen. Mit Hilfe lokaler und systemischer medikamentöser Interventionen können im Sinne einer antiresorptiven regenerativen Therapie die parodontale Heilung und beim wurzelunreifen Zahn die Wahrscheinlichkeit einer Revaskularisation positiv beeinflusst werden. Bei Zähnen mit abgeschlossenem Wurzelwachstum verhindert eine zeitnahe Wurzelkanalbehandlung das Auftreten einer schnell fortschreitenden infektionsbedingten Wurzelresorption.
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Einleitung
Bei einer Avulsion hat der Zahn die Alveole und meist auch den Mund vollständig verlassen. Sowohl die Pulpa als auch das Parodont sind abgerissen und intraoral eventuell Begleitverletzungen des Knochens und des Weichgewebes oder Zahnfrakturen vorhanden5. Deshalb ist aus Sicht aller Beteiligten die Avulsion der wohl spektakulärste Zahnunfall. Avulsionen gehören zu den Dislokationsverletzungen, die von Frakturverletzungen bzw. kombinierten Fraktur- und Dislokationsverletzungen unterschieden werden26. Sie kommen deutlich seltener vor als Lockerungen oder laterale und extrusive Dislokationsverletzungen4.
Für die Prognose eines avulsierten Zahns spielt die extraorale Lagerung (Medium und Zeitdauer) eine wichtige Rolle. Aber auch die Replantation und die anschließende Stabilisierung mit einer Titan-Trauma-Schiene sowie die endodontische Therapie haben einen Einfluss auf die Heilung12,19. Im Milchgebiss wird die Replantation eines avulsierten Zahnes nicht empfohlen, wohingegen es im bleibenden Gebiss gerade bei Kindern und Jugendlichen im wachsenden Kiefer keine besseren Alternativen gibt.
Verhalten am Unfallort
Ein avulsierter Zahn sollte umgehend in eine Zahnrettungsbox (Dentosafe, Medice, oder miradent SOS Zahnbox, Hager & Werken) gelegt werden (Abb. 1). In dem darin enthaltenen Organtransplantationsmedium können die parodontalen Zellen auf der Wurzeloberfläche mindestens 24 Stunden bei Zimmertemperatur extraoral überleben24. Als kurzfristige Alternative zur Zahnrettungsbox lassen sich nur Milch oder Frischhaltfolie empfehlen, in denen die Zellen maximal 2 Stunden überleben1,7,29.
Bis zum 16. Lebensjahr passieren etwa 80 Prozent aller Zahnunfälle in einem Radius von 100 Metern um das Zuhause und die Schule20. Deshalb sollten Aufsichtspersonen (Eltern und Lehrer) über das optimale Verhalten am Unfallort informiert sein. Das Zahnunfallzentrum Basel hat immer wieder Informationsplakate für öffentliche Einrichtungen publiziert (Abb. 2), die zusammen mit einer Zahnrettungsbox überall dort verfügbar sein sollten, wo häufig Zahnunfälle passieren, also zum Beispiel in Grundschulen, Sporthallen und Schwimmbädern10.
Klinisches Vorgehen
Die Behandlung eines avulsierten bleibenden Zahns ist ein zahnärztlicher Notfall und muss in der Praxis umgehend durchgeführt werden. Als Erstes wird die Lagerung des Zahns überprüft: Liegt dieser nicht im Nährmedium einer Zahnrettungsbox, erfolgt eine Umlagerung.
Anamnese
Neben der allgemeinen Anamnese, die unter anderem Erkrankungen, Medikamenteneinnahmen und Allergien erfasst, ist es wichtig, auch traumarelevante Aspekte zum Unfallhergang zu erheben. Schwerwiegende Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich müssen ausgeschlossen werden. Wenn Symptome wie Amnesie, Übelkeit beziehungsweise Erbrechen vorhanden sind oder der Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma besteht, wird der Patient umgehend an eine Fachklinik überwiesen. Auch der Status der Tetanusimmunisierung ist abzuklären1,5,19,27.
Klinische und radiologische Diagnostik
Um einen Überblick über das Ausmaß der Verletzungen zu erhalten, erfolgt eine extra- und intraorale Befundaufnahme. Intraoral sollten die fünf möglicherweise verletzten Gewebe nach der sogenannten ZEPAG-Klassifikation unabhängig voneinander beurteilt werden: Zahnhartsubstanz, Endodont, Parodont, Alveolarknochen und Gingiva9,13,27.
Von allen unfallverletzten Zähnen und der leeren Alveole wird ein intraoraler Zahnfilm angefertigt (Abb. 3). Eine weiterführende Diagnostik mit einer Panoramaschichtaufnahme oder einer digitalen Volumentomographie ist nur in besonderen Fällen indiziert (zum Beispiel bei Verdacht auf eine Kieferfraktur)27. Zur Dokumentation und aus forensischen Gründen werden sämtliche verletzten Gewebe aus zwei Ebenen (bukkal und okklusal) fotografisch festgehalten19,27 (Abb. 4).
Vorbehandlung des avulsierten Zahns
Der avulsierte Zahn wird zunächst extraoral inspiziert und kontrolliert, ob das Foramen apicale noch weit offen (> 2 mm) oder das Wurzelwachstum abgeschlossen ist (Abb. 5). Es erfolgt eine Untersuchung des Zahns auf eventuell vorhandene Frakturen. Ist die Wurzeloberfläche sichtbar verschmutzt, wird sie zur Reinigung mit steriler isotoner Kochsalzlösung abgespült1,19. Dabei darf die Wurzeloberfläche nicht mechanisch verletzt werden. Im Sinne der antiresorptiven regenerativen Therapie (ART) wird der Zahn in der Flüssigkeit der Zahnrettungsbox gelagert. Das Organtransplantationsmedium schützt die lebenden und unterstützt die Regeneration der geschädigten Zellen. Außerdem werden Bakterien oder Toxine sowie Gewebszerfallsprodukte von der Wurzeloberfläche weggeschwemmt. Hierfür muss der Zahn mindestens 30 Minuten im Nährmedium liegen. Damit sich die Toxine von der Wurzeloberfläche lösen und keine Diffusionsbrücken entstehen, sollte die Flüssigkeit ab und zu geschwenkt werden. Zusätzlich wird der Inhalt einer NoResorb-Kapsel (Medcem) in die Flüssigkeit gegeben22,23. Die Wurzeloberfläche und der abgerissene Pulpastumpf werden so medikamentös vorbehandelt. Der antibiotika- und steroidhaltige Zusatz unterstützt die parodontale Heilung und die Wahrscheinlichkeit einer Revaskularisation von Zähnen mit einem noch weit offenen Foramen apicale (> 2 mm)8,22,23,25. Die Medikamente sollten mindestens 10 Minuten auf den Zahn einwirken. Wenn die Rettungskette nicht optimal war, kann ein Schmelz-Matrix-Protein (Emdogain, Straumann) auf die Wurzeloberfläche appliziert werden (Abb. 6). Dieses ist in der Lage, kleinflächige Zementdefekte zu reparieren15. Wird davon ausgegangen, dass durch die unphysiologische Zahnrettung alle Zellen auf der Wurzeloberfläche abgestorben sind (> 60 Minuten trocken oder in einem unphysiologischen Medium gelagert), ist der Einsatz von Emdogain nicht indiziert.
Therapie
Das klinische Vorgehen hängt vom Zustand des Parodonts und vom Durchmesser des Foramen apicale ab1. Nach suffizienter Lokalanästhesie wird das Koagulum mit einer Spülkanüle und steriler isotoner Kochsalzlösung aus der Alveole entfernt (Abb. 7). Liegt der Unfallzeitpunkt länger zurück, kann zusätzlich eine Kürettage notwendig sein. Es folgt eine Inspektion der Alveole. Diese muss leer sein, denn nur so kann der avulsierte Zahn möglichst gewebeschonend replantiert werden. Bei einer Fraktur der (bukkalen) Alveolenwand wird – gegebenenfalls mit Hilfe eines stumpfen Instruments – das noch am Periost fixierte Fragment reponiert. Nicht am Periost befestigte Stücke müssen entfernt werden1,27.
Die Reposition des avulsierten Zahns erfolgt mit den Fingern langsam und unter wenig Druck (Abb. 8). Wird dies zu forciert durchgeführt, entstehen zusätzliche Schäden an der Wurzeloberfläche. Als Orientierung dienen die Nachbarzähne. Gerade im Wechselgebiss kann die Bestimmung der richtigen Position eines Zahns schwierig sein. Hier lohnt es sich, eventuell vorhandene aktuelle Fotos auf den Smartphones der Eltern anzuschauen. Weichgewebsverletzungen um die Alveole werden vor der Replantation mit dünnem, monofilem Nahtmaterial versorgt. Ein suffizienter dentogingivaler Verschluss ist Voraussetzung für eine parodontale Einheilung.
Der replantierte Zahn wird mit einer Titan-Trauma-Schiene an je einem unverletzten Nachbarzahn rechts und links adhäsiv befestigt18,28 (Abb. 9). Zur Kontrolle erfolgt die Anfertigung eines Zahnfilms (Abb. 10). Dieser dient auch als Referenz für alle weiteren Kontrollen, wo es um die Früherkennung möglicher Wurzelresorptionen geht.
Medikation und postoperatives Verhalten
Bei allen schweren Dislokationsverletzungen (Avulsion, Intrusion und laterale Dislokation von deutlich mehr als 2 mm) erfolgt eine systemische Tetracyclingabe (Doxyclin, Spirig HealthCare) für maximal eine Woche. Die Dosierung richtet sich nach Alter und Körpergewicht des Patienten1. Unter 8 Jahren wird der Einsatz von Tetracyclin nicht empfohlen. Auch die Gabe eines Analgetikums hängt vom Alter und vom Körpergewicht sowie von möglichen Allergien ab.
Ist die Tetanusimmunität nicht gewährleistet oder unsicher, erfolgt eine Überweisung an den Hausarzt. Der Patient wird angewiesen, bereits ab dem ersten Tag mit einer weichen Zahnbürste eine möglichst gute Mundhygiene durchzuführen. In Abhängigkeit von möglichen Begleitverletzungen kann eine Mundspüllösung die Plaquekontrolle chemisch unterstützen. Grundsätzlich ist eine normale Ernährung möglich, der Patient soll aber nichts Weiches und Klebriges essen.
Nachkontrollen
Innerhalb von 48 Stunden sollte die erste Kontrolluntersuchung durchgeführt werden. Wurde am Unfalltag kein Zahnfilm angefertigt, wird dies jetzt nachgeholt. Neben den verletzten Geweben erfolgt auch eine Überprüfung der Mundhygiene und gegebenenfalls eine Reinstruktion. Nach etwa einer Woche werden eventuell vorhandene Nähte entfernt. Die Schiene wird meist zwei bis vier Wochen lang belassen2,16.
Bei der Wahl des Recallintervalls spielen das Ausmaß der Verletzungen, der klinische und radiologische Verlauf sowie das Alter des Patienten eine Rolle. Mögliche Spätfolgen müssen frühzeitig erkannt werden, so dass regelmäßige klinische und radiologische Kontrollen erforderlich sind. Bewährt haben sich Kontrollen nach 1, 3, 6 (Abb. 11) und 12 Monaten1.
Wurzelkanalbehandlung ja oder nein?
Der Ablauf der Weiterbehandlung hängt vom Durchmesser des Foramen apicale und von der Qualität der Rettungskette ab: Wenn das Foramen apicale kleiner als 2 mm ist und/oder der Zahn unphysiologisch gelagert wurde, werden die Trepanation des Zahns und die Pulpaexstirpation zügig durchgeführt1,5. Bereits in dieser Sitzung kann die definitive Wurzelkanalfüllung erfolgen. Wegen Weichgewebsschwellungen oder lokalen Beschwerden wird dies jedoch häufig auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Der Zahn erhält dann eine kortikoidhaltige Einlagepaste (Odontopaste, Australian Dental Manufacturing), welche mehrere Wochen belassen werden kann. Das Ziel ist nicht die Desinfektion des Wurzelkanals, denn dieser ist am zweiten Tag noch nicht kontaminiert, sondern die Unterstützung der parodontalen Heilung21. Als Folge der unfallbedingten Zementdefekte entsteht eine offene Verbindung zwischen Pulpa und Parodont, so dass die Kortikosteroide in das heilende Parodont gelangen. Zu diesem Zeitpunkt wäre eine Calciumhydroxideinlage nicht indiziert, denn der hohe pH-Wert führt zu weiteren Schäden am Parodont26.
Prognose
Bei einer Avulsion kommt es immer zu einer Schädigung von Pulpa und Parodont. Wird eine Pulpanekrose nicht zeitnah erkannt und behandelt, kann eine infektionsbedingte Wurzelresorption resultieren, die im wachsenden Kiefer innerhalb von Wochen zum Zahnverlust führt1,5,11,14. Auch bei wurzelunreifen Zähnen entsteht nicht selten eine Pulpanekrose3, so dass eine Revaskularisation oder Wurzelkanalbehandlung notwendig ist.
Die Rettungskette, die der Zahn durchlaufen hat, bestimmt die Prognose des Parodonts1,27. Wird der Zahn innerhalb von wenigen Minuten in eine Zahnrettungsbox gelegt, besteht die Möglichkeit der parodontalen Heilung. Meist werden die Zähne jedoch unphysiologisch gerettet, und es entstehen großflächige Zementdefekte. Der betroffene Zahn wird in die Umbauvorgänge des Kiefers einbezogen, woraufhin es zu einer Ankylose kommt. Bei Kindern und Jugendlichen führt dies zusätzlich zu einem Stopp des lokalen Kieferwachstums2,6,9, und der avulsierte Zahn gerät im Vergleich zu den Nachbarzähnen in Infraposition. Nicht nur Hart- und Weichgewebe gehen verloren, sondern auch die Platzhalterfunktion des Zahnes14,17. Um späteren ästhetisch kompromittierenden Gingivarezessionen und einem vertikalen Knochenverlust im sichtbaren Bereich vorzubeugen, ist es notwendig, Zähne im wachsenden Kiefer ab einer Infraposition von 1 mm konsequent zu entfernen. Bei Kindern und Jugendlichen werden ein kieferorthopädischer Lückenschluss oder eine autologe Zahntransplantation interdisziplinär diskutiert10. Beide Optionen weisen eine sehr gute Prognose auf. Da die Problematik einer Infraposition bei Erwachsenen mit abgeschlossenem Kieferwachstum nicht besteht, können ankylosierte Zähne hier viele Jahre erhalten bleiben9.
Ein Beitrag von Dr. Andrea Zürcher und Prof. Dr. Andreas Filippi, beide Basel, Schweiz
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de