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Teil 1: Prävalenzen, Ursachen und Risikofaktoren für mangelnde Mundhygiene und -gesundheit

Prothese eines 89-jährigen Patienten ohne kognitives Defizit mit eigenständiger Mundhygiene.

In Teil 1 ihres Beitrags für die Quintessenz Zahnmedizin 1/20 gibt die Autorin PD Dr. Anna Greta Barbe einen Überblick über die aktuelle Mundhygiene- und Mundgesundheitssituation von Menschen mit Pflegebedarf und beleuchtet häufige Ursachen für Defizite sowie Risikofaktoren und Therapieoptionen. In Teil 2 beschreibt sie verschiedene Mundhygienekonzepte in Seniorenheimen und diskutiert deren konkrete Umsetzung im Alltag.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Mundgesundheit Pflegebedürftiger in Deutschland

Die Mundgesundheit von Senioren mit Pflegebedarf ist gut dokumentiert und schlechter als die von Senioren ohne Pflegebedarf. Bei Besuchen im Rahmen der aufsuchenden zahnmedizinischen Betreuung sieht man viele Hygienebefunde, die mit einer guten Mundgesundheit langfristig nicht vereinbar sind. Ins­besondere Parodontitis, Wurzelkaries, Mundtrockenheit, Candidabesiedlung sowie unhygienische und nicht passende Prothesen weisen eine hohe Prävalenz auf (Abb. 1 und 2a bis d).

Senioren sind mit zunehmender Pflegebedürftigkeit oft weniger belastbar: Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortung nehmen ab, und ein Drittel der Menschen mit Pflegebedarf kann sich nicht mehr eigenständig um die Mund- und Prothesenhygiene kümmern und benötigt Hilfe18. Multiple systemische Erkrankungen, Multimorbidität und häufige Polypharmazie verschlechtern und potenzieren die Situation zusätzlich. Darüber hinaus leiden Pflegeheimbewohner nicht selten an kognitiven Einschränkungen oder Demenz und werden in wachsendem Maße immobil, was sie selbst und das Pflegepersonal zunehmend daran hindert, adäquate Mundhygienemaßnahmen durchzuführen26,42. Allein die Tatsache, dass jemand hierfür externe Hilfe benötigt, stellt ein erhöhtes Risiko für eine reduzierte Mundgesundheit dar. Die geforderte Unterstützung bei der Mundpflege durch das Pflegepersonal soll die reduzierte Mundhygienefähigkeit der Patienten kompensieren, aber ob dies in Anbetracht der beschriebenen Risikofaktoren selbst bei perfekter Durch­führung zur Aufrechterhaltung einer guten Mund­gesundheit ausreichen kann, bleibt fraglich.

Ursachen für Defizite

Im Januar 2017 haben zur Einstufung von Pflegebedürftigkeit die Pflegegrade das bisherige System der Pflegestufen abgelöst. Sie regeln mit neuen Abstufungen, welche Leistungen pflegebedürftige Menschen von der Pflegeversicherung erhalten können. Mit steigendem Pflegegrad ändert sich häufig das soziale Umfeld der Patienten. So müssten eine plötzliche Veränderung der Wohn- bzw. familiären Situation und eine eingeschränkte Eigenverantwortlichkeit im Grunde dazu führen, dass die medizinische und zahnmedizinische Versorgung hin zu einer aufsuchenden Betreuung verlagert wird. Die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) kommt diesbezüglich jedoch zu gegenteiligen Ergebnissen: Während in der Gruppe der Senioren mit Pflegebedürftigkeit die beschwerdeorientierte Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienste deutlich höher als die kontrollorientierte Inanspruchnahme ist, stellt sich dies bei Senioren ohne Pflegebedürftigkeit genau andersherum dar18.

Für Seniorenheimbewohner wurde in systematischen Übersichtsarbeiten versucht, die Gründe beziehungsweise Lösungsansätze bei reduzierter Mundgesundheit möglichst genau zu differenzieren. Allerdings ist die Bestimmung von unabhängigen Risikofaktoren und damit Ansatzpunkten für Verbesserungen bei diesem hochkomplexen Problem mit vielen Variablen (heterogene Patientengruppe, kognitiver und körper­licher Abbau, schnelle Veränderungen bezüglich der notwendigen Hilfestellung, Multimorbidität, keine optimale Anbindung an die zahnärztliche Versorgung) nicht leicht. Verbesserungen sollte die Ein­führung der seit dem 1. Juli 2018 geltenden neuen BEMA-Positionen zu präventiven Leistungen für Pflege­bedürftige und Menschen mit Behinderung bringen, also für Versicherte, die einen Pflegegrad gemäß § 15 SGB XI oder Eingliederungshilfe gemäß § 53 SGB XII erhalten.

Vonseiten der Pflegekräfte werden organisatorische Missstände angegeben: zu wenig Zeit, häufige Personalwechsel, aber auch wenig Gesundheits­bewusstsein im Hinblick auf die eigene Mundhöhle. Oft wird eine mangelnde Ausbildung der Pflege­kräfte in Bezug auf die Mundhygieneprävention im Heim genannt, allerdings auch fehlende zahnärzt­liche Ansprechpartner sowie der Mangel an wirk­samen Strategien, dem Unwillen zur Mitarbeit bei den Seniorenheimbewohnern zu begegnen3,14,15,27.

Die Pflegebedürftigen selbst führen als Hauptgründe mangelndes Interesse, fehlende Motivation sowie den nicht gewollten Eingriff in den eigenen Intimbereich als Barrieren für die Durchführung von Mundhygienemaßnahmen durch Pflegekräfte an20. Angehörige stellen insbesondere bei höherer Pflege­bedürftigkeit einen Mangel an zahnärztlichen Untersuchungen und einer spezialisierten professionellen Mundpflege fest. Auch sie weisen auf zeitliche Beschränkungen und mangelnde Fachkenntnisse im Bereich der Mundgesundheit sowie auf die Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung der Mundpflege für Bewohner mit eingeschränkter Mobilität oder kognitiven Beeinträchtigungen hin.

Abb. 3 Schematische Darstellung eines möglicherweise eintretenden Kreislaufs bei geriatrischen Patienten mit Mundtrockenheit. Letztere ist hierbei als ein Teilsymptom zu werten, welches in der Zusammenschau mit anderen Komorbiditäten Mitverursacher für einen Mobilitätsverlust sein kann.
Abb. 3 Schematische Darstellung eines möglicherweise eintretenden Kreislaufs bei geriatrischen Patienten mit Mundtrockenheit. Letztere ist hierbei als ein Teilsymptom zu werten, welches in der Zusammenschau mit anderen Komorbiditäten Mitverursacher für einen Mobilitätsverlust sein kann.

Auswirkungen reduzierter Mundhygiene

Eine durch insuffiziente Hygiene bedingte reduzierte Mundgesundheit ist kein isolierter Befund, sondern kann neben vielen anderen Einflussfaktoren Auswirkungen auf Allgemeinbefinden und -gesundheit haben. Anhand des Beispiels der Mundtrockenheit zeigt Abbildung 3 mögliche Konsequenzen, die insbesondere in ihrer Gesamtschau die Lebensqualität und die Allgemeingesundheit beeinflussen können. Ein zunächst vielleicht unbedenklich erscheinendes isoliertes Mundgesundheitsproblem beschleunigt un­ter Umständen einen Kreislauf hin zur Zunahme des Sturzrisikos mit den bekannten Folgen6. In einem nur knapp kompensierten System können selbst vermeintlich harmlose Faktoren zur Dekompensation führen, wie es auch kürzlich im Hinblick auf den Zusammenhang von reduzierter Mundgesundheit und Mangelernährung als Risikofaktoren für den Eintritt in eine Abwärtsspirale aus Mobilitätsverlust, erhöhter Vulnerabilität und Pflegebedürftigkeit beschrieben wurde31.

Nicht nur in der klinischen Versorgung, sondern auch in der Forschung besteht die Schwierigkeit, allgemeingültige Leitlinien und Empfehlungen sowie Präventions- und Therapiekonzepte für die sehr he­terogene Patientengruppe der pflegebedürftigen Senio­ren zu entwickeln. Erschwerend kommt hinzu, dass in fast jedem charakterisierenden Teilbereich mit einem sich mehr oder weniger schnell vollziehenden Abbau zu rechnen ist, der direkt zu veränderten Umständen und einer neuen Ausgangssituation führt. Wenn es um die Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung der Mundhygiene geht, muss auf diese Veränderungen Rücksicht genommen werden. Allerdings gilt es, die Wendepunkte überhaupt erst zu erkennen, so dass ein alleiniges starres Konzept dieser großen Individualität nicht Rechnung tragen wird. Bausteine sollten entwickelt werden, die sich möglichst schnell risiko- und situationsabhängig ein­setzen, kombinieren und adaptieren lassen.

Mundtrockenheit bei Pflegebedürftigen

Die Mundtrockenheit darf bei der Implementierung präventiver Konzepte nicht außer Acht gelassen werden. Ihre stetig zunehmende Prävalenz ist bei Menschen mit Pflegebedarf hauptsächlich durch Multimorbidität und Polypharmazie bedingt34,35. Bei ambulant lebenden älteren Menschen liegt die Prävalenz der Xerostomie zwischen 17 und 40 Prozent23. Die häufig undokumentierte Einnahme von rezeptfreien Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln be­einflusst und potenziert zudem das Xerostomie­risiko29. Hyposalivation erhöht die Gefahr des Auftretens von (Wurzel-)Karies, Candidiasis, schlechtem Atem, brennendem Mund, Geschmacksstörungen sowie Schwierigkeiten beim Kauen, Sprechen und Schlucken und beschleunigt deren Verlauf noch zusätzlich4. Bei pflegebedürftigen Senioren sind diese Symptome Risikofaktoren für einen weiteren Abbau, der häufig zu einem Kreislauf aus Unterernährung, sozialer Isolation, Pflegebedürftigkeit und Gebrechlichkeit führt19, so dass die reduzierte Mundgesundheit als zusätzliche Komponente des geriatrischen Syndroms benannt werden kann38.

Es stehen verschiedene Therapiestrategien zur Verfügung, die sorgfältig an die individuelle Situa­tion jedes Patienten angepasst werden müssen. Dazu gehören grundlegende Behandlungsempfehlungen wie periodische vorbeugende Recalltermine, bedarfsabhängige Fluoridanwendung und Ernährungsberatung. Darüber hinaus sind symptomlindernde Wirkstoffe wie Mundgele oder -wässer sowie pharmazeutische Therapieansätze möglich40. Diese Optionen müssen regelmäßig neu bewertet werden und funktionieren oft nur in einem multidisziplinären Ansatz. Die Bereitstellung solcher Behandlungsoptionen für Patienten trägt aber zur Verbesserung von deren Mundgesundheit bei und fördert sowohl ihre Allgemeingesundheit als auch ihr Wohlbefinden5.

Mikrobiologische Aspekte

Seit Langem ist bekannt, dass in Pflegeheimen nur etwa die Hälfte der Prothesen ausreichend gereinigt werden33. Aufgrund der oben beschriebenen Risikofaktoren haben Senioren generell ein erhöhtes Ri­siko für eine intraorale Hefepilzbesiedlung. In den vergangenen Jahren sind hohe Keimzahlen und damit eine nachgewiesene orale Candidiasis bei 9 bis 65 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen gefunden worden7,11,16,21,30,32,39,41. Mangelhafte Mundpflege gilt als einer der Hauptrisikofaktoren30. Candida albicans und viele andere Candidaspezies sind Teil der physiologischen Flora10, und ein Nachweis ist nicht zwingend mit einer Krankheit assoziiert. Die orale Candidiasis entsteht auf dem Boden einer unkontrollierten Vermehrung der Hefen in der Mundhöhle und kann bis zu einer systemischen Candidiasis führen30. Studien haben gezeigt, dass eine oropharyngeale Candidabesiedlung eine Gefahr für das respiratorische System ist, denn das Auftreten von (Aspirations-)Pneumonien ist erhöht1,13,22,25,28. Letztere sind die häufigste Todesursache bei Pflegeheimbewohnern, was vor allem mit dem Fortschreiten neurologischer Erkrankungen zusammenhängt, die sich in fehlendem Hustenreiz und Schluckbeschwerden bemerkbar machen24.

Auch bei gesunden Prothesenträgern werden neben der üblichen Flora die respiratorischen Pathogene Enterobacter cloacae, Klebsiella pneumoniae und Staphylococcus aureus gefunden36,37. Die Flora auf der der Schleimhaut zugewandten Prothesenfläche und der Pharynxschleimhaut stimmen zu mehr als 50 Prozent überein, wobei eine Prothesenhygiene zu signifikanten Verbesserungen führt1,2. Gleichgültig welches Mundhygienekonzept daher für Seniorenheimbewohner implementiert werden soll: Die regelmäßige Prothesenreinigung muss Teil davon sein, da insbesondere bei Risikopatienten jede Prothese als Infektionsquelle (Abb. 4a und b) anzusehen ist. Diesbezüglich stehen im deutschsprachigen Raum diverse Empfehlungen zur Verfügung8,9,12.

Resümee

Es scheint, als ob es bezüglich der gut dokumen­tierten, aber noch nicht zufriedenstellend gelösten Mundhygieneproblematik bei Senioren mit Pflegebedürftigkeit wenig Konzepte gibt, die zu einer echten Verbesserung der Situation beitragen. Einigkeit herrscht über die Ursachen, und es ist offensichtlich, dass nur ein komplexes System, das neben den Patien­ten, ihren Angehörigen und den beteiligten Berufsgruppen auch Risikofaktoren, Finanzierung, Machbarkeit sowie Klärung von Zuständigkeiten und organisatorischen Abläufen berücksichtigt, langfristig zum Erfolg führen wird. Teil 2 des Beitrags befasst sich mit konkreten Mundhygienekonzepten und deren Erfolgswahrscheinlichkeiten im Alltag.

Ein Beitrag von Dr. Dr. Anna Greta Barbe und Prof. Dr. Michael J. Noack, beide Köln

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Der zweite Teil dieses Beitrags ist in der Quintessenz Zahnmedizin 2/20 erschienen und wird unser Fachbeitrag auf Quintessenz News am 7. Januar 2022.

Bibliografía: Quintessenz Zahnmedizin 1/20 Alterszahnmedizin

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