Honorarverteilungsmaßstäbe (HVM) sind das Instrument, mit dem Kassenzahnärztliche Vereinigungen die von den Krankenkassen überwiesene Gesamtvergütung an die zugelassenen Vertragszahnärzte verteilen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn die im Gesetz existierenden Regeln für den Verteilungsvorgang sind sehr knapp und kurz.
In Paragraf 85 Absatz 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) heißt es lapidar, dass die Kassenzahnärztliche Vereinigung die Gesamtvergütung an die Vertragszahnärzte verteilt, und dazu den Verteilungsmaßstab anwendet. Bei der Verteilung der Gesamtvergütung sind Art und Umfang der Leistung der Vertragszahnärzte zugrunde zu legen. Der Verteilungsmaßstab hat sicher zu stellen, dass die Gesamtvergütungen gleichmäßig auf das gesamte Jahr verteilt werden.
Verschiedene Modelle der Honorarverteilung
Aus diesen dünnen Grundsätzen hat die Rechtsprechung die Grundsätze der Honorarverteilungsgerechtigkeit sowie den Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung abgeleitet. Daran anknüpfend sind aufgrund der Gestaltungsfreiheit von KZVen ganz verschiedene Modelle der Honorarverteilung kreiert worden, zum Beispiel der floatende Punktwert, die Bildung von Honorartöpfen, Fallzahl- und Fallwertbegrenzung und ähnliches mehr.
Bei derartig abstrakten Rechtsgrundsätzen liegt es auf der Hand, dass immer wieder Streitigkeiten zwischen Vertragszahnärzten und der KZV auftauchen. Niedersachsen zum Beispiel hat mit seinen HVM in den 2000er-Jahren immer wieder die Gerichte beschäftigt, die Auseinandersetzungen erregten auch bundesweit Aufsehen. In den vergangenen Jahren ist es unter der neuen KZV-Führung hier allerdings auch ruhiger geworden.
Fallwertgrenze statt „Kopfbudget“
Nun gilt im Bereich der KZV Niedersachsen (KZVN) seit dem 1. Januar 2019 ein neuer Honorarverteilungsmaßstab (HVM). Im Rundschreiben der KZV vom Dezember 2018 wird mitgeteilt, dass der neue HVM erwartungsgemäß für die Mehrzahl der Praxen (ca. 95 Prozent) kaum Veränderungen mit sich bringt, demgegenüber aber Praxen mit kleiner Fallzahl und höheren Durchschnittswerten Schwierigkeiten bekommen. Der Grund besteht darin, dass der HVM für alle Praxen eine Fallwertgrenze einführt und Budgets „nach Köpfen“ abschafft. Es wird einen vorläufigen Durchschnittswert pro Fall geben, der dann nach der Systematik des HVM nach Beendigung des Verteilungsjahres je nach vorhandenen Mitteln noch einmal angepasst wird. Der Durchschnittsfallwert für Kons/Chirurgie inklusive KB soll zunächst bei ca. 140 Euro liegen.
Ermittelt wird der Durchschnittswert dadurch, dass die vorhandene Gesamtvergütung durch die Anzahl sämtlicher angeforderter Fälle geteilt wird. Dieser „Basiswert“ wird für PAR-Behandlungen mit dem fünffachen Wert gerechnet, Oralchirurgen sowie MKG erhalten unter bestimmten Voraussetzungen den 1,6-fachen Wert. Zahnärzte, die im Schwerpunkt ebenfalls auf Überweisung chirurgisch behandeln, werden nur mit dem 1,0-fachen Wert gerechnet.
Probleme für Anfänger, kleine und chirurgisch orientierte Praxen
Es liegt auf der Hand, dass kleine Praxen mit geringerer Scheinzahl, Anfängerpraxen sowie Zahnärzte, die im Schwerpunkt chirurgisch behandeln, Probleme bekommen. Genauso betroffen sind Oralchirurgen/MKG, sofern in ihrer Praxis Allgemeinzahnärzte chirurgisch behandeln. Denn hier wird ein Mischwert gebildet, bei dem allerdings Zahnärzte (ohne fachzahnärztliche Qualifikation) mit dem einfachen Wert berücksichtigt werden. Zur Rechtfertigung einer mutmaßlichen Schlechterstellung von kleinen Praxen mit kleiner Scheinzahl und höheren Fallwerten wird im Rundschreiben der KZVN vom November 2018 darauf hingewiesen, dass diese bisher überwiegend ein Teil des Honorars ohnehin in der Wirtschaftlichkeitsprüfung abliefern mussten.
Forderung der Honorarverteilungsgerechtigkeit
Der vorliegende HVM birgt in der Tat für kleinere Praxen, Anfängerpraxen, chirurgisch tätige Zahnärzte und Praxen mit Mischkonstellationen erhebliche rechtliche Probleme in sich. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Honorarverteilungsmaßstäben von der Rechtsprechung Grenzen gesetzt wurden. Die Gestaltungsfreiheit wird danach limitiert durch höherrangiges Verfassungsrecht, insbesondere von der aus Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz abzuleitenden Forderung nach Honorarverteilungsgerechtigkeit. Eine weitere Gestaltungsgrenze beinhaltet die Formulierung in Paragraf 85 Absatz 4 Satz 3 SGB V, wonach Art und Umfang der Leistungen des Vertragszahnarztes der Honorarverteilung zugrunde zu legen sind, den sogenannten Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung. Paragraf 85 Absatz 4 Satz 4 SGB V enthält den Grundsatz, dass die Gesamtvergütung gleichmäßig auf das ganze Jahr verteilt werden muss. Ferner ist der im SGB V formulierte Grundsatz zu beachten, wonach die zahnärztlichen Leistungen angemessen zu vergüten sind. Verstöße gegen diese Prinzipien haben die Rechtswidrigkeit der maßgeblichen Verteilungsregelung zur Folge.
Wer entscheidet über Ausnahmen?
Für Praxen mit atypischem Zuschnitt beziehungsweise besonderem Versorgungsbedarf ist im neuen HVM nur eine Ausnahmeregelung vorgesehen. Zur Berücksichtigung dieses Versorgungsbedarfes beziehungsweise der Praxisausrichtung wird keine objektiv nachprüfbare Regelung getroffen, sondern nur eine die Gesamtsituation der Praxis verbessernde Regelung in das Ermessen des Vorstandes der KZVN gestellt. Überlebenswichtige Honorarfragen für solche Praxen werden somit Gegenstand einer rechtlich nicht gebundenen Ermessensentscheidung.
Mögliche Probleme der leistungsproportionalen Vergütung
Für alle Zahnarztpraxen im Bereich der KZVN stellt sich zunächst die Frage, ob der Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung durch einen solchen HVM ausreichend beachtet wird. Bei dem vorliegenden Konstrukt ist es denkbar, dass vorerst durchaus relevante Teile der Gesamtvergütung zurückbehalten werden. Praxen, die schon bisher einen geringeren Fallwert abgerechnet haben, bekommen auch nicht mehr; Praxen, die jenseits der endgültigen Fallwertgrenze abrechnen, bekommen den den Durchschnittsbetrag übersteigenden Teil des Honorars nicht (auch entgegen anders lautender Kommentare in Niedersächsischen Zahnärztblatt – NZB, März 2018) abgestaffelt. Die sich daraus ergebende Folge könnte sein, dass zunächst einmal im laufenden Honorarverteilungsjahr nicht alle Mittel verteilt werden. Ob sich die für den anschließenden Zeitraum vorgesehene Verteilung noch mit dem Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung in Einklang bringen lässt, wird abzuwarten sein.
Ausnahmeantrag statt Wirtschaftlichkeitsprüfung
Für kleinere Praxen mit geringer Scheinzahl und höherem Fallwert (als der Durchschnittsbetrag) ergibt sich voraussichtlich ein ernsthafteres Problem. Sie bekommen einen Teil ihrer Honoraranforderung a priori nicht und müssen ihr Heil in der Stellung eines Ausnahmeantrages bei dem Vorstand der KZVN suchen. Ihnen wird von vornherein die Möglichkeit genommen, ihre höheren Fallwerte in einer Wirtschaftlichkeitsprüfung zu verteidigen.
Höhere Fallwerte nicht von vornherein unwirtschaftlich
Der vorliegende HVM wird von dem Gedanken beherrscht, dass diese höheren Fallwerte von vornherein suspekt sind und daher nicht ausbezahlt werden. Aber natürlich gibt es viele kleinere Praxen, die die Berechtigung höherer Fallwerte ohne weiteres vornehmen können, weil ihr Versorgungsbedarf historisch entstanden und gerechtfertigt ist. Es muss deutlich betont werden, dass keineswegs jeder höhere Fallwert von vornherein unwirtschaftlich ist.
Nach den bisherigen Regelungen wurden solche Fallwerte zunächst anerkannt, die Praxis musste ihn dann gegebenenfalls in der Wirtschaftlichkeitsprüfung verteidigen. Nach der jetzigen Regelung werden diese höheren Fallwerte nicht anerkannt und die Praxis muss sich ihr Recht über einen Ausnahmeantrag erkämpfen.
Juristisch nachprüfbare Regelungen gefordert
Gegenüber einer solchen Regelung ist einzuwenden, dass im HVM selber, und nicht erst im Rahmen der Ausnahmeregelung, auch die Art der Leistung zu berücksichtigen ist. Es müssen objektive, juristisch nachprüfbare Regelungen und nicht nur ein Ermessen des Vorstandes der KZVN fixiert sein. Die Kappung eines höheren Fallwerts berücksichtigt aber in solchen Fällen die Art der Leistung nicht ausreichend.
Frage der Autorisierung des Vorstands
Zu beachten ist auch die zeitliche Komponente eines solchen Ausnahmeantrags. Er kann erst innerhalb der Frist eines Monates nach Vorlage des Jahresendbescheides gestellt werden. Das könnte für kleinere Praxen wirtschaftlich ruinös sein. Außerdem bestehen erhebliche Zweifel an der Regelung, wonach der Vorstand der KZVN autorisiert ist, über Ausnahmen zu entscheiden. Nach Paragraf 10 Absatz 2 e der Satzung der KZVN ist nämlich die Festsetzung des HVM eine ausschließlich der Vertreterversammlung vorbehaltene Angelegenheit. Danach ist nach diesseitiger Auffassung der Vertreterversammlung verwehrt, innerhalb des HVM die Regelung der Honorarverteilung teilweise an den Vorstand zu delegieren. Paragraf 5 Absatz 2 HVM und die darauf beruhenden Zahlungsrichtlinien des Vorstandes sind nach diesseitiger Ansicht mit Paragraf 10 Absatz 2 e der Satzung der KZV nicht vereinbar.
Ähnliche Probleme bei Anfängerpraxen und Chirurgieschwerpunkt
Bei Anfängerpraxen ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch in ihrer Startphase werden nur die Durchschnittswerte berücksichtigt. Obwohl am Anfang wenig Patienten behandelt werden, bleibt es bei den Durchschnittswerten. Ein „Durchsanieren“ wird von vornherein wirtschaftlich unsinnig.
Zahnärzte, die ein ähnliches Leistungsverhalten wie MKG (oder Oralchirurgen) aufgebaut haben, erhalten ebenfalls nur den Durchschnittswert. Eine Multiplikation mit dem 1,6-fachen Faktor findet nach dem HVM nicht statt. Hier ergeben sich nach diesseitiger Auffassung erhebliche verfassungsrechtliche Probleme. Es könnte der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit verletzt sein. Der Zahnarzt hat mit seinem Examen und der vertragszahnärztlichen Zulassung die Berechtigung erworben, chirurgische Leistungen genauso zu erbringen, wie ein Fachzahnarzt beziehungsweise MKG. Der höhere Faktor knüpft somit nur an der Qualifikation, nicht aber an der Leistungserbringung an. Nach diesseitiger Auffassung wäre dies kein sachlicher Grund für eine ungleiche Verteilung des Honorars. Artikel 12 Grundgesetz schützt auch die Berufsausübungsfreiheit. Das bedeutet, dass die Berufsausübung eines chirurgisch behandelnden Zahnarztes nur dann schlechter als diejenige eines Oralchirurgen bewertet werden darf, wenn die Regelung sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig ist. Das ist aber sehr fraglich.
Eine vergleichbare Betrachtungsweise ergibt sich für Praxen mit Mischkonstellationen. Ist eine Praxis chirurgisch ausgerichtet, wirken aber an der chirurgischen Behandlung neben Oralchirurgen (beziehungsweise MKG) Zahnärzte mit, kommt es zu einem – niedrigeren – Mischfaktor. Die obige rechtliche Problematik stellt sich hier genauso.
Frage des Rechtsschutzes
Insgesamt besteht bei den geschilderten Fällen das Problem, dass jedenfalls nach den Buchstaben des HVM Rechtsschutz viel zu spät, nämlich erst nach Vorlage des Jahresbescheides, vorgesehen ist. Eine frühere Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Honorarverteilung für die eigene Praxis zu überprüfen, bietet sich aber wohl schon nach der ersten Abschlagszahlung an. Soweit dazu ein rechtsmittelfähiger Bescheid erlassen wird, dessen Rechtsgrundlage der vorliegende HVM ist, kann dieser inzidenter mit den Rechtsmitteln des Widerspruchs, der Klage und des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung überprüft werden. Diese Möglichkeiten sollten Praxen nutzen, die nach Prüfung des ersten Abschlags feststellen, dass ihr Betrieb durch den HVM gefährdet ist.
Rechtsmittel rechtzeitig einlegen
Entsprechende Rechtsmittel erst nach Vorlage des Jahresbescheides könnten wirtschaftlich zu spät sein. Spätestens aber mit Vorlage des Jahresbescheides müssen Zahnarztpraxen gegen den entsprechenden Bescheid nicht nur Widerspruch einlegen, sondern innerhalb der Widerspruchsfrist ebenfalls einen Ausnahmeantrag stellen. In jedem Fall dürfte es wirtschaftlich und juristisch geboten sein, Einzelheiten mit einem rechtskundigen Berater durchzusprechen.
Frank Ihde, Rechtsanwalt und Notar, Hannover
Frank Ihde, Rechtsanwalt und NotarRechtsanwalt und Notar Frank Ihde, Hannover (Jahrgang 1954), studierte Rechtswissenschaften in Berlin und Göttingen. Seit fast 25 Jahren ist er praktizierender Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Arzt- und Medizinrechtes. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt hat er jahrelange Erfahrung als Geschäftsführer des Berufsverbandes der Augenoptiker im Umgang mit Krankenkassen und auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechtes gesammelt. Seit 1996 hat er sich auf dem Gebiet des Zahnarztrechtes durch viele Publikationen und Seminare einen Namen gemacht. Er ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein sowie seit 2004 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht e.V. Die Notarbestellung erfolgte im Jahr 2002. Zum Mandantenstamm der Kanzlei Ihde&Coll zählen neben den Zahnärzten und Humanmedizinern auch verschiedene Kliniken. (Foto: Ihde)