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In knapp vier Wochen ist Bundestagswahl – Dr. Uwe Axel Richter über die gesundheitspolitischen Vorstellungen der Parteien

(c) Thomas Stockhausen/Shutterstock.com

Auch wenn für viele Bürger Wahlkampfplakate eine optische Verschmutzung des öffentlichen Raumes sind, muss man wegen des nach wie vor schlafmützigen Wahlkampfs feststellen: Ein Glück, dass es die Wahlplakate gibt! Ansonsten würde man angesichts der sehr spärlichen thematischen Auseinandersetzung der Parteien glatt die Bundestagswahl verpassen.

Und so blicken – hoch an den Straßenlaternen befestigt – stets gleichförmig lächelnde Kandidatinnen und Kandidaten auf das Wahlvolk und spenden neben einem Lächeln mehr oder minder sinnhafte Sprüche zur Meinungsbildung für das umworbene Wahlvolk. Mein derzeitiger Favorit: „Stadt, Land, Petra“.
Mich erinnert das alles eher an das alte Gedicht von Heinrich Heine: „Ich weiß nicht was soll es bedeuten, warum ich so traurig bin …“ Und damit hinein in den in der letzten Kolumne angekündigten gesundheitspolitischen Rundgang durch die Wahlprogramme der sechs Parteien, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder den nächsten Bundestag bevölkern werden.

Luftige 924 Seiten Wahlprogramme – Gesundheit eher sparsam abgehandelt

Für diejenigen Wähler, die sich für Wahlprogramme wirklich interessieren, gibt es viel zu lesen: Insgesamt füllen die derzeit im Bundestag vertretenen Parteien mit ihren Wahlprogrammen mehr oder minder luftige 924 Seiten. Allerdings wird das Gesundheitswesen im Umfang eher sparsam abgehandelt. Vor allem die Corona-Pandemie hat ihre Spuren in allen Programmen hinterlassen. Und plötzlich wird der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) nicht mehr verschämt versteckt, sondern in eine zentrale Rolle gerückt. Eine Partei geht gar so weit, den ÖGD mit bis zu 1 Prozent aller(!) Gesundheitsausgaben zu finanzieren.

Unterschiede oft nur in der Wortwahl

Auch die Digitalisierung steht bei allen Parteien – wie in den vergangenen Jahren auch – hoch im Kurs. In der Bewertung des Nutzens wie auch der Gefahren unterscheiden sich die Parteien im Prinzip nur in der Wortwahl. Dass Versorgung neu gedacht werden muss – Stichwort (kommunale) integrierte Versorgungs- beziehungsweise Gesundheitszentren –, findet sich ebenfalls bei fast allen Parteien.

Wirklicher Dissens, wen wundert es, besteht jedoch in der Finanzierungsfrage: Das duale System versus Bürgerversicherung. Auch nichts wirklich neues, aber angesichts der derzeitigen Wahlprognosen ist eine fundamentale Änderung der Finanzierungssystematik im Bereich des Möglichen. Dass „Die Linke“ fordert, Hygieneprodukte für die Menstruation kostenlos zur Verfügung zu stellen, ist da nur noch eine kleine Arabeske am Rande.

Die Wahlprogramme der Parteien im Deutschen Bundestag


Die Union will das duale System erhalten

Doch bleiben wir erst einmal bei den Wahlprogrammen der Parteien und starten mit der CDU/CSU. Diese braucht 139 Seiten für ihr „Programm für Stabilität und Erneuerung – Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ und will mit einem Modernisierungsjahrzehnt Deutschland auch in der Zukunft eines der verlässlichsten und stabilsten Sozialsysteme der Welt erhalten. Für die umfassende Versorgung der Bürgerinnen und Bürger habe sich die Selbstverwaltung, die freie Arzt- und Therapiewahl und das Zusammenspiel von gesetzlichen und privaten Krankenkassen bewährt. Eine Einheitsversicherung wird abgelehnt.
Und sonst? „Wir werden die Bürokratie reduzieren, damit Ärzte und Pflegepersonal mehr Zeit für Patientinnen und Patienten haben […].“ Und die jahrelange Stagnation der Digitalisierung im Gesundheitswesen habe man mit der elektronischen Patientenakte auch überwunden. Die Patienten der Zukunft werden ihre gesamte Krankengeschichte an einem Ort speichern und digitale Versorgungsketten die Informationslücken zwischen Praxis und Krankenhaus beseitigen.

Neben der Modernisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Aufrüstung des Robert-Koch-Instituts zum deutschen Public-Health-Institut soll Deutschland auch wieder zur Apotheke der Welt gemacht werden. In diesem Zusammenhang fordert die CDU/CSU eine Souveränitätsoffensive bei der Medikamentenproduktion. Last but not least sieht man in der Künstlichen Intelligenz eine Schlüsseltechnologie und will mittels eines Wertesystems die Chancen der KI für die Gesundheitsversorgung nutzen und die Risiken minimieren.

Zwei Seiten bei der SPD – und am Ende die Bürgerversicherung

Nur 66 Seiten braucht die SPD für ihr Zukunftsprogramm „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“, davon lediglich zwei Seiten für die „Zukunftsmission IV. Update für die Gesundheit“. Aber die haben es in sich, denn die Programmschreiber konstatieren: „Der Gesundheitssektor braucht wieder mehr Aufmerksamkeit und Reformen. Wir brauchen ein klares Leitbild für die nächsten Jahrzehnte“. Die Gesundheitswirtschaft sei kein reiner Markt, eine aktive Rolle des Staates könne Leben retten. In der Digitalisierung will man neben Datenschutz Rahmenbedingungen schaffen, damit die großen Plattformen nicht auch die Gesundheitswirtschaft dominieren.

„Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung kann man am besten durch eine Neuordnung der Rollenverteilung zwischen ambulantem und stationärem Sektor, durch eine Überwindung der Sektoren […] gelingen. Wir brauchen darum eine stärkere Öffnung von Krankenhäusern für ambulante, teambasierte und interdisziplinäre Formen der Versorgung.“ Kommunen sollen bei Einrichtung und Betrieb integrierter medizinischer Versorgungszentren unterstützt und deren Grundkosten wie auch der Krankenhäuser angemessen finanziert werden – denn: „Bei der Stärkung des Gemeinwohls spielen öffentliche Krankenhäuser eine zentrale Rolle.“ Für eine stabile und solidarische Finanzierung soll neben Steuerzuschüssen die Bürgerversicherung eingeführt werden.

Grüne: Gesundheit als Querschnittsaufgabe

„Deutschland – Alles ist drin.“ So betiteln Bündnis 90/Die Grünen ihr 272-seitiges Bundestagswahlprogramm 2021 und garnieren es mit dem Slogan „Bereit, weil Ihr es seid“. Doch die Grünen haben nicht nur die junge Generation und Hipster im Visier, sondern denken auch an die älteren Generationen und drucken ihr Programm derart groß, dass auf eine Lesebrille glatt verzichtet werden kann. Dann relativieren sich auch 272 Seiten.

Die Grünen stellen ihre teils sehr konkreten Vorstellungen unter das Leitprinzip Vorsorge. „Prävention, Gesundheitsförderung und gesundheitliche Versorgung wollen wir grundsätzlich als Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen verfolgen“. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie wollen auch die Grünen die Gesundheitsämter stärken, die Krankenhaus- und Notfallversorgung reformieren, die Digitalisierung vorantreiben und die Produktion von Medikamenten und Medizinprodukten in europäischer Kooperation nationalisiert werden. Zur Stärkung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge soll ein „Bundesinstitut für Gesundheit“ geschaffen werden. Die Mittel für den öffentlichen Gesundheitsdienst sollen auf 1 Prozent der Gesundheitsausgaben angehoben werden.

Zahnmedizinische Regelversorgung anpassen

„Um die Versorgung in Stadt und Land sicherzustellen, wollen wir, dass ambulante und stationäre Angebote in Zukunft übergreifend geplant werden und regionale Versorgungsverbünde mit enger Anbindung an die Kommunen gefördert werden. Perspektivisch soll es eine gemeinsame Abrechnungssystematik für ambulante und stationäre Leistungen geben. Außerdem heben wir die die strikte Trennung der ambulanten Gebührenordnungen EBM und GOÄ auf.“ Und weiter: „Auch die zahnmedizinische Regelversorgung in der GKV muss regelmäßig an den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst werden“.

Des Weiteren sollen regionale Gesundheitszentren unterstützt sowie der Direktzugang zu Therapeutinnen und Therapeuten bei nachgewiesener Qualifikation ermöglicht werden. Die Krankenhäuser sollen in einer Kombination aus Fallzahl und gesellschaftlichem Auftrag („öffentliches Versorgungsinteresse“) finanziert werden, der Trend zu Privatisierung umgekehrt und Konzentration auf ertragreiche Angebote beendet werden. Um beim Thema Finanzierung zu bleiben: Die Grünen wollen die solidarisch, also auch mit Beiträgen von Beamten, Unternehmern und Selbständigen finanzierte Bürgerversicherung für Gesundheit und Pflege.

FDP will es „moderner, digitaler, freier“

Und jetzt wird es auch bunt. Das Wahlprogramm der Freien Demokraten fällt auf durch Neonfarben und ein Glaubensbekenntnis auf Seite 1 „Wir glauben, dass Deutschland jetzt einen Neustart braucht. Wir glauben, dass es moderner, digitaler und freier werden muss […].“ Was bedeutet das für das Gesundheitswesen? Bei der Sicherstellung der Krankenhausfinanzierung darf es keine Ungleichbehandlung nach Trägerschaft der Kliniken geben. Eine Planungshoheit der Krankenkassen wird ebenfalls entschieden abgelehnt. Auch die FDP will das RKI stärken und dessen Status einer politikabhängigen Behörde ändern und in eine unabhängige Institution nach dem Vorbild der Bundesbank umwandeln. Die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln und Impfstoffen soll gewährleistet werden, indem die Herstellung nach Deutschland zurückverlagert wird, Kostennachteile sollen durch Zuschüsse ausgeglichen werden.

Stichwort Bürokratiebelastung: Hier will die FDP unkonventionelle Wege gehen und fordert die „Bepreisung“ der Bürokratie- und Berichtspflichten. Bezahlen soll zukünftig derjenige, der diese angefordert hat. So ließen sich auch allzu kleinteilige Gesetze und Verordnungen verhindern. Um die Patientenversorgung zu verbessern, sollen künftig die Gesundheitsversorgung umfassend, regional und patientenzentriert gedacht werden. Auch zukünftig gelte für die Freien Demokraten ambulant vor stationär, dennoch soll die Sektorenbarierre konsequent abgebaut werden, um die Verzahnung und Vernetzung aller Versorgungsbereiche weiterzuentwickeln – Stichwort integrierte Gesundheitszentren.

Den freien Beruf sieht die FDP nach wie vor als Basis der Gesundheitsversorgung. Ebenso wie das solidarische und duale Versicherungssystem. Hier soll der Wechsel zwischen den Versicherungsarten künftig erleichtert werden. Und da die FDP weiterhin ein pauschales Verbot für den Versandhandel rezeptpflichtiger Arzneimittel ablehnt und lediglich faire Rahmenbedingungen für die in- und ausländischen Versandapotheken fordert, wird es die FDP mit ihrer traditionellen Apothekerklientel weiter schwer haben.

Die Linke: „Solidarische Gesundheitsvollversicherung“

„Zeit zu handeln. Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“ – lautet das Wahlprogramm der Partei Die Linke. Die Partei fordert nicht weniger als den Systemwechsel in Gesundheit und Pflege. 100.000 Pflegekräfte mehr in den Krankenhäusern, 100.000 mehr in der Pflege und 500 Euro mehr Grundgehalt. Für die Krankenhäuser sollen die Fallpauschalen abgeschafft werden, dafür will man ein Verbot von Gewinnentnahmen. In die solidarische Gesundheitsvollversicherung sollen alle einzahlen und Beiträge auf alle Einkommen erhoben werden, bei gleichzeitiger Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze. Das gleiche Solidaritätsprinzip soll auch für die Pflegeversicherung gelten.

Der öffentliche Gesundheitsdienst soll gestärkt werden, der Fokus auf der „sozialen Komponente von Gesundheit […] und einer tragenden Rolle bei Fragen der Prävention“ liegen. „Regionale Versorgungszentren sollen mittelfristig zum Rückgrat der wohnortnahen Versorgung werden“. „Für die Linke ist Arzneimittelforschung eine öffentliche Aufgabe“. Letzteres liest man ähnlich auch bei den Grünen.

AfD will Fehlentwicklungen reformieren

„Deutschland. Aber normal“ ist das 210 Seiten starke Wahlprogramm 2021 der Alternative für Deutschland überschrieben. Was immer normal in diesen Zeiten zu bedeuten hat. Die AfD „baut auf dem bestehenden deutschen Gesundheitssystem auf“ und will Fehlentwicklungen reformieren. Für die Krankenhäuser fordert die AfD Individualbudgets, die vor allem am tatsächlichen Bedarf in der Bevölkerung vor Ort orientiert werden sollen. Die private Trägerschaft von Krankenhäusern soll auf 60 Prozent begrenzt werden.

Die ambulante Versorgung sieht man durch Budgetierung, Kopfpauschalen und willkürliche Honorarkürzungen gefährdet. Stattdessen favorisiert die AfD eine „leistungsorientierte Bezahlung der Mediziner“, um die bedarfsorientierte Betreuung des einzelnen Patienten zu gewährleisten. Unverhältnismäßige Leistungsausweitung soll durch den Ausbau eines zu reformierenden Medizinischen Dienstes sowie ein mehrstufiges Bonussystem für Beitragszahler verhindert werden.

Unter dem Punkt Sicherstellung der medizinischen Versorgung auf dem Land findet sich ebenfalls der Ausbau von „Arztpraxen/Polikliniken/MVZ mit angestellten Ärzten auch unter der Trägerschaft der Kommunen, aber unter ärztlicher Leitung“. Und – man mochte es schon gar nicht mehr glauben, dass dieses einmal Erwähnung findet – „eine konsequente Wahrnehmung des Sicherstellungsauftrags für eine flächendeckende Versorgungsdichte durch die Kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen“. Die Sicherung der Arzneimittelversorgung wird wie bei den anderen Parteien ebenfalls gefordert. Hingegen wird die Schaffung einer zentralen Datenbank zur Speicherung sämtlicher vertraulicher Patientendaten abgelehnt. Und der Beruf des Heilpraktikers soll erhalten bleiben.

Andere Themen überlagern Debatte über Grundsatzfragen

Bei vielen der das Gesundheitswesen betreffenden Themen liegen die Parteien gar nicht so weit auseinander, bei der Grundsatzfrage der Finanzierung allerdings schon. CDU/CSU, FDP und AFD haben sich für den Erhalt des dualen Systems positioniert, wohingegen SPD, Grüne und Linke die Bürgerversicherung durchsetzen wollen. In Anbetracht des bisherigen Wischiwaschi-Wahlkampfs ist zu befürchten, dass diese für das Gesundheitswesen essenzielle Frage nicht thematisiert werden wird. Das mediale Crescendo rund um Afghanistan, Klimawandel und vierter Welle der Coronapandemie steht dem entgegen.

Ein letztes noch zu den mehr oder minder griffigen Slogans der Parteien. Dem „Bereit, weil Ihr es seid“ der Grünen oder dem „Nie gab es mehr zu tun“ der FDP setzt die CDU/CSU ein „Programm für Stabilität und Erneuerung – Gemeinsam für ein modernes Deutschland“ entgegen. Mehr als herzhaft gähnen ist da nicht drin. Unter diesem Aspekt ist der Slogan der CDU-Spitzenkandidatin für den Wahlkreis 1 – Petra Nikolaisen – schon fast wieder genial: „Stadt, Land, Petra“.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

Titelbild: Wahlplakate zur Bundestagswahl 2021 in Hürth/Nordrhein-Westfalen.
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