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„Lessons learned“ aus kommunikativer und wissenschaftlicher Sicht – Prof. Dr. Dietmar Oesterreich sieht die Politik in der Pflicht

(c) FGC/Shutterstock.com

Respekt! Die 5. Stellungnahme des Expertenrates der Bundesregierung zu Covid-19 vom 30. Januar 2022 hat es in sich1. Sicherlich auch für die Mitglieder des Gremiums selbst ein schmerzhafter Prozess. Zwar bezieht sich der Expertenrat auf die Bausteine einer effektiven Risiko- und Gesundheitskommunikation, spricht aber dabei alle auch an dieser Stelle kritisierten Entwicklungen an, die seit zwei Jahren einer dringenden Korrektur bedürfen.

Als Bausteine dabei werden 1. die Generierung des besten verfügbaren Wissens, 2. die Übersetzung der relevanten Daten, Statistiken und Kennzahlen in nutzerzentrierte, zielgruppenspezifische, verständliche, entscheidungs- und handlungsrelevante Informationsformate, 3. die Verbreitung der kommunikativen Inhalte über die multiplen Kanäle einer modernen Informationsgesellschaft und 4. die Evaluation der erzielten Effekte und gegebenenfalls die notwendige Anpassung der Strategie benannt. Abschließend wird gefordert, eine nachhaltige Kommunikationsstruktur zu schaffen.

Hier sei angemerkt, dass der Expertenrat offensichtlich vorhandene Strukturen, angesiedelt im Bundesministerium für Gesundheit namens der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), offensichtlich übersehen hat. Warum die BZgA im Rahmen der Pandemie nicht genutzt wurde, bleibt wohl ein Geheimnis der Hausherren des BMG. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als Einrichtung des BMG und des Gemeinsamen Bundesausschusses wird nicht in die politischen Entscheidungen einbezogen – und das bei einem Minister, der der evidenzbasierten Medizin besonders zugetan ist.

Politik muss sich stellen und handeln – tut sie es?

Nun wäre es im Sinne von „lessons learned“ an der Zeit, dass die Verantwortlichen der Politik sich dieser deutlichen Positionierung ihres Expertenrats stellen und handeln. Bisher gibt es allerdings keinerlei Reaktionen darauf. Vielleicht legt der Expertenrat zu sehr den Finger in die Wunde und man möchte zunächst auf politischer Ebene mit der Umsetzung einer bevölkerungsweiten Impfpflicht – oder wohl eher dem Abstimmen eines Lockerungskonzepts – seine Handlungskompetenz unter Beweis stellen. (Damit besteht erneut die Gefahr, dass sich die Politik angesichts leicht sinkender Inzidenzen jetzt wieder in Lockerungsszenarien überbietet und die Aufarbeitung und Vorbereitung auf mögliche nächste Wellen, wie vom Expertenrat gefordert, unterbleibt.)

Nach wie vor handelt die Bundesregierung vornehmlich unter Nutzung internationaler Daten und Forschungsergebnisse. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach zieht bei seiner Prognose zur Anzahl möglicher Todesfolgen bei Einstellung sämtlicher Corona-Maßnahmen Ergebnisse aus Israel heran2. Die Virologin Prof. Ulrike Protzer aus München weist dabei darauf hin, dass unterschiedliche Bevölkerungsstrukturen, unterschiedliche Verhaltensweisen und unterschiedlicher Immunschutz für einen Vergleich Schwierigkeiten bereiten. Offensichtlich sind valide Erkenntnisse für Deutschland hierüber Fehlanzeige.

Politik lässt zu viele wichtige Themen unbesetzt oder unklar

Die deutsche Wissenschaft gerät gleichzeitig unter den Vorwurf des „Szientismus“, da sie die notwendige Distanz zwischen der Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnislage und der daraus folgenden politischen Bewertung und Entscheidung leider ungenügend beachtet3. Andere Medien berichten über eine „lieblose Kampagne“ im Zusammenhang mit dem Slogan „Impfen hilft“ und fordern, auf die Menschen endlich zielgruppenspezifisch und mit Anreizen (Nudging) zuzugehen4,5. Die öffentliche Diskussion über die Umsetzung einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht macht deutlich, wie wichtig praktikable Regelungen für einen Vollzug jeglicher Impfpflicht sind6. Kein Wunder, dass man dabei von einer „Vertrauenskrise“ und seitens der Wissenschaft von einem „Versagen der Wissenschaft“ spricht7,8. Auch erhebliche Datenlücken und hohe Dunkelziffern bei den täglich durch die Medien berichteten Daten sind längst kein Geheimnis mehr. Kann es dabei ein Trost sein, dass angesichts dieser Tatsachen die politischen Entscheidungen doch gar nicht so schlecht waren und wir gut durch die Pandemie gekommen sind9?

Nicht zuletzt mit der 5. Stellungnahme des Expertenrats wissen wir, was falsch läuft. Wir wissen, wo die Schwachstellen sind. Was fehlt, sind die notwendigen politischen Entscheidungen, um „lessons learned“ einen Sinn zu geben. Zwei Jahre waren eine ausreichende Zeit.

Unsicherheiten bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht

Aus Aktualitätsgründen möchte ich abschließend nochmals auf die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingehen. Wie bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht den Eilantrag zum Aussetzen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht abgelehnt. In der Begründung wurde auf die hohe Schutzbedürftigkeit vulnerabler Menschen verwiesen. Bei der Beratung des Bundesverfassungsgerichts wurde unter anderem die Expertise des RKI einbezogen. Die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit im eigentlichen Verfahren steht jedoch noch aus. Zentral wird dabei die Frage sein, ob die Impfpflicht für die bekannten Berufsgruppen geeignet ist, die vulnerablen Gruppen zu schützen. Unzweifelhaft ist, dass die Impfung vor schweren Erkrankungsverläufen einen hohen Schutz bietet. Gleichzeitig ist das Risiko, allerdings unter den Bedingungen der Deltavariante, dass trotz Impfung PCR-Positive das Virus übertragen, deutlich vermindert.

Übertragung durch Geimpfte bei Omikron noch unklar

Wie hoch dieses Risiko jedoch unter der Omikronvariante ist, ist auch nach Aussagen des RKI derzeit unklar10. Das RKI geht davon aus, dass Menschen nach Kontakt mit Sars-CoV-2 trotz Impfung PCR-positiv werden und dabei auch Viren ausscheiden und infektiös sind –unabhängig davon, ob sie dabei Symptome entwickeln oder nicht. Auch verweist das RKI darauf, dass der Impfschutz über die Zeit nachlässt. Also ist es unter den Bedingungen der Omikronvariante noch nicht klar, ob auch Geimpfte in einem erheblichen Umfang das Virus übertragen können.

Der Virologe Prof. Hendrik Streeck verwies jüngst in einem Interview darauf, das doppelt Geimpfte das Virus genauso übertragen wie Ungeimpfte11. Nach seinen Aussagen seien Testungen vor Kontakt mit vulnerablen Gruppen sinnvoller.

Dass diese Gruppen besonders geschützt werden müssen, ist breiter gesellschaftlicher Konsens. Welche Wege dafür als geeignet eingeschlagen werden, bedarf angesichts der hohen Inzidenzen in der Omikronwelle und der unklaren Daten zu den Übertragungsrisiken bei Ungeimpften oder Geimpften (zweifach/dreifach/geimpft und genesen) nicht nur für die Hauptsache-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern vor allem im Interesse der Zielgruppe einer schnellstmöglichen Klärung.

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Reuterstadt Stavenhagen

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich
Foto: BZÄK/Lopata
Prof. Dr. Dietmar Oesterreich (Jahrgang 1956) studierte Zahnmedizin in Rostock und war von 1981 bis 1990 in der Poliklinik für Stomatologie des Kreiskrankenhauses Malchin tätig. Nach der Wiedervereinigung ließ er sich am 1. Februar 1991 in eigener Praxis in Stavenhagen nieder, in der er bis heute als Zahnarzt tätig ist. Schon seit dem 29. April 1990 bis zum Oktober 2021 war er Präsident der neu gegründeten Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, seit November 2000 bis Juni 2021 auch Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer.

Oesterreich befasste und befasst sich intensiv mit soziologischen und gesundheitspolitischen Fragestellungen und Themen der Prävention und Gesundheitskommunikation, unter anderem im Vorstand der Initiative proDente, aber auch wissenschaftlich. Im September 2011 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Greifswald ernannt. Kontakt zum Autor per E-Mail an dr.dietmar.oesterreich@t-online.de.

Literatur
[1] 5. Stellungnahme des Expertenrates der Bundesregierung zu Covid-19
[2] Rechnen für Fortgeschrittene, Berndt C., Süddeutsche Zeitung, 10. Februar 2022
[3] Corona: Szientismus oder Freiheit, Cicero, 10. Februar 2022
[4] Lieblose Kampagne, Frisch J., Ärzte Zeitung, 3. Februar 2022
[5] RKI zur Corona-Impfkampagne: Deutschland muss auf die Menschen zugehen, Frisch J., Ärzte Zeitung, 3. Februar 2022
[6] Statt Impflicht lieber Lehren aus dem Nudging ziehen, Krisam M., Ärzte Zeitung,
[7] Mal wieder herrscht Vertrauenskrise, Krischke B., Cicero, 28. Januar 2022
[8] „Wir können von einem Versagen der Wissenschaft sprechen“, Interview mit Jürgen Windeler, Cicero, 27. Januar 2022
[9] Skandalöse Datenlücke: Im Corona-Blindflug, Pennekamp J., FAZ, 10 Februar 2022
[10] Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen? RKI Stand 7. Februar 2022
[11] „Streeck stellt alle G-Regeln infrage: ‚Darf keinen Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften mehr geben‘“, Kettenbach M., Merkur de., 12 Februar 2022

 

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