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Wenn Gesundheitsideologie übernimmt und sich Politik immer weiter von der Realität entfernt – Dr. Uwe Axel Richter über den Gesetzeswahn des Bundesgesundheitsministers

(c) Yarygin/Shutterstock.com

Die Lauterbach‘sche Gesetzesproduktionsmaschine im Bundesgesundheitsministerium läuft bereits seit vielen Monaten unter Hochdruck. Und dennoch wird angesichts der Vielzahl der sogenannten Reformprojekte die Zeit für Gesetzgebungsverfahren langsam knapp.

Wobei „knapp“ im politischen Berlin ein sehr relativer Begriff auf dem Zeitstrahl sein muss. Wer Karl Lauterbachs Rede anlässlich der Eröffnung des Deutschen Ärztetages in Essen nicht gehört hat, sollte dieses auf jeden Fall nachholen (im Youtube-Video ab Minute 45.10), um einen Eindruck davon zu bekommen, dass selbst die von einem (Fach)-Politiker verbalisierte „Realität“ – in Abhängigkeit vom Grad der jeweiligen Ideologisierung – eine immer kleiner werdende Schnittmenge mit dem tatsächlichen Leben hat.

Lauterbach sieht sich berufen – aber handelt nicht

Ein typisches Beispiel sind die Lieferschwierigkeiten bei substanziellen „Basisarzneimitteln“, vulgo Generika. Das von ihm vorgeschlagen Maßnahmenpaket ist umfänglich. Und hat einen gewichtigen Nachteil: Bis die Maßnahmen greifen, werden Jahre vergehen. Ganz abgesehen vom zusätzlichen bürokratischen Aufwand, der weder aufwands- noch kostenneutral zu haben sein wird. Doch die medikamentöse Unterversorgung spielt sich im Jetzt ab. Auf den simplen Gedanken, die Erstattungspreise für die Mangel-Arzneimittel wenigstens auf das Niveau der umliegenden und eben nicht unter Lieferschwierigkeiten leidenden europäischen Länder zu erhöhen, bis die geplanten Maßnahmen greifen, darf man im Gesundheitsministerium wohl nicht kommen.

Auch wenn Lauterbach es als „roten Faden“ seiner Politik bezeichnete, „gegen die überdrehte Ökonomisierung vorgehen zu wollen“, äußerte er sich mit keinem Wort zur „neuen“ Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Und auch nicht zu den immer schwierigeren ökonomischen Bedingungen, denen sich die niedergelassenen „Leistungserbringenden“ ausgesetzt sehen. Sinkende Einnahmen bei steigenden Kosten und unlimitierten Leistungsinanspruchnahmen – wenn das keine „überdrehte Ökonomisierung“ ist!

Cannabis und die Wurstigkeit

Sage jedoch keiner, dass sich der Gesundheitsminister nicht um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens kümmern würde. Bei denen hat Karl Lauterbach sogar im Vergleich zu den von ihm beklagten „zehn Jahren verpasster Chancen“ – wohlgemerkt in SPD-Regierungsmitverantwortung – ein schnelles Händchen. Just bevor in Berlin die Ampelkoalition angesichts der rund um die Habeck’schen Wärmepumpen aufgedeckten Verfilzungen im Bundeswirtschaftsministerium massiv zu überhitzen drohte, nahte die Rettung für die Koalitionäre in Gestalt von Karl Lauterbachs neuestem Referentenentwurf.

Kennen Sie noch nicht? Nennt sich CannG und verspricht, dass fürderhin all die Sorgen des täglichen Lebens nicht mehr so schwer drücken. Ob mit Keksen konsumiert oder geraucht – vom süßen Duft der Hanfpflanzen umgeben, soll der von den Ampelkoalitionären bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte und seither sehnlichst erwartete Referentenentwurf zu einem Cannabisgesetz aus dem Bundesgesundheitsministerium alsbald für die nötige Entspannung und Gelassenheit sorgen. Und zwar ungestraft!

Die neue Form der Kleingärtnerei: Cannabisanbauvereine

Man kann sich zwar fragen, warum ausgerechnet der Bundesgesundheitsminister für den Referentenentwurf zur Legalisierung des Hanfgenusses verantwortlich zeichnet. Doch auch auf dem für einen Gesundheitsminister höchst glitschigen Drogen-Parkett dreht Karl Lauterbach mitsamt Bundesgesundheitsministerium seine metafiktionalen Pirouetten. Metafiktional? Die Auflösung finden sie am Ende dieser Kolumne.
An dieser Stelle seien nur die Eckpunkte des Referentenentwurfs für die Legalisierung des Hanfgebrauchs genannt. Kernstück des „Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften“, kurz Cannabisgesetz oder CannG, sind die Vorgaben für die Cannabisanbauvereine, in denen die Abgabe des von Cannabis an erwachsene Mitglieder künftig erfolgen darf. Näheres findet sich hier zum Nachlesen.

Cannabis und Bürokratie ist kein Widerspruch mehr

Wem bei dem Wort „Vereine“ eine weitere bürokratische Meisterleistung dräut, darf sich bestätigt fühlen. Denn mit dem beabsichtigten Trockenlegen des Schwarzmarkts geht halt auch die staatliche Kontrolle einher. Denn nur Anbauvereinsmitglieder sollen, sofern erwachsen, monatlich bis zu 50 Gramm Cannabis mit kontrolliertem THC- (Tetrahydrocannabniol) und CBD- (Cannabidiol) Gehalt erwerben können. Aber auch an Selbstversorger ist gedacht. Bis zu drei weibliche Hanfpflanzen sollen künftig die Fensterbank zieren dürfen und dem Besitzer straffreien Genuss ermöglichen.

250 Meter Mindestabstand zu Kitas

Und natürlich kommt der Jugendschutz nicht zu kurz: Sichtschutz für die Gewächshäuser und ein Mindestabstand zu Schulen, Spiel- und Sportplätzen und Kitas. Und auch beim Kiffen in der Nähe besagter Einrichtungen muss auf einen Mindestabstand von 250 Metern geachtet werden. Mit der Legalisierung geht natürlich die Bereinigung von so manchem Eintrag in den polizeilichen Registern einher, sicher auch zur Freude einiger Politiker. Dumm nur, dass die Anhebung der Grenzwerte im Straßenverkehr nicht vorgesehen wurde. Warum wohl nicht?

Lauterbachs Hintertürchen

Warten wir also ab, wann Lauterbach von seinen grünen Koalitionären „umgestimmt“ wird. Jedenfalls ist für unterhaltsame „hanfgrüne“ politische Diskussionen in den nächsten Monaten gesorgt. Da es sich jedoch bei dem CannG bis dato nur um einen Referentenentwurf handelt, wird für die anstehende, an Hyperaktivität grenzenden gesetzgeberischen Aktivitäten von Karl Lauterbach im Gesundheitswesen noch keine legale psychische Entlastung mittels THC und CBD zur Verfügung stehen. Schade eigentlich. Denn die im Bundesgesundheitsministerium in Bearbeitung befindlichen Gesetzesvorhaben haben es in sich und werden für alle Beteiligten alles andere als vergnügungssteuerpflichtig sein. Genauer: alle an der Versorgung beteiligten Leistungserbringer.

Ist die Zahnmedizin wirklich außen vor?

Die Zahnmedizin wird sich definitiv nicht ausnehmen können, auch wenn der Betroffenheitsgrad der Zahnärzteschaft von allen Heilberufen bis dato am geringsten scheint. Derzeit ist nur die für den Herbst vorgesehene Evaluation der neuen PAR-Behandlung sicher vorgesehen. Wobei das Wörtchen „nur“ angesichts der Dimension etwas arg verniedlichend klingt. Denn wir reden immerhin über zugesagte 1,2 Milliarden Euro für die neue Versorgungsform der Volkskrankheit, die mit dem GKV-FinStG „über die Wupper gegangen sind“. Nur so nebenbei: An deren Mündung in den Rhein liegt Leverkusen und damit der Wahlkreis unseres dort zum fünften Male direkt gewählten Gesundheitsministers. „Ich ess‘ kein Salz“-Lauterbach wohnt allerdings in Köln.

Nur noch knapp zwei Wochen

Wie es allerdings um die vom Bundesgesundheitsminister bis Ende Mai zu liefernden Vorschläge für eine umfassende Finanzreform als Folgegesetz des GKV-FinStG steht, ist bis dato noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Angesichts Lauterbachs nachgewiesener „großer Wertschätzung für das ambulante System“ und trotz dessen unbestrittener Leistungsfähigkeit – Stichwort: value for money – sollte man die finanzielle Zukunft der Praxen im GKV-System nicht rosig malen. Für deutliche Bremsspuren im Betriebsergebnis sorgen bereits Inflation und die erheblichen Betriebskostensteigerungen, die seitens des Ministeriums eben nicht kompensiert werden sollten. Stattdessen kam sogar die Budgetierung. Dass der Minister nicht nur in der GKV, sondern auch der PKV bei der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ, wie auch der neuen GOÄ der Ärzte) voll auf der Bremse steht, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Wobei der von der Politik in die Speichen gesteckte Knüppel die bessere Metapher wäre.

Krankenhausreform wird das ambulante System treffen

Jedoch wird für die Öffentlichkeit die kommende Krankenhausreform der größte Aufreger sein, allein schon deshalb, weil neben dem Bund vor allem die Länder und auch die Kommunen betroffen sind. Und da gilt bei Landes- und Kommunalpolitikern nun mal, dass das „eigene“ Krankenhaus als Hemd eben deutlich näher als die Hose ist. Will heißen: Der Unmut der Bürger für Politiker sehr unmittelbar zu erleben ist. Abgesehen von den üblichen Fingerhakeleien Bund gegen Länder mit Rechtsgutachten und jetzt der vom Bund bei Prof. Oberender, Bayreuth, in Auftrag gegebenen „Folgenabschätzung der Krankenhausreform auf die Versorgung der Bevölkerung mit Krankenhausleistungen für die Bevölkerung“ birgt der Vorschlag des BMG auf Basis der Vorschläge der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ Systemsprengstoff. Und der liegt in den Krankenhäusern der geplanten Stufe 1i. Also denen, die „man“ für die Krankenhausversorgung definitiv nicht zu brauchen meint.

Level-1i-Kliniken als Systemsprenger?

Wichtig ist hier, die Dimension nicht aus den Augen zu verlieren. Die Regierungskommission nennt für Level-1-Kliniken die Zahl von 648 Häusern, von denen rund 300 auf Stufe 1i abgestuft werden sollen. Das sind „Pi mal Daumen“ 20 Kliniken pro Bundesland, die somit nicht vom Markt verschwinden werden. Vorausgesetzt, Lauterbach kann sich bei dem „Reformspiel“ durchsetzen, dann sind das 300 Kliniken, in denen ambulante und stationäre Grundversorgung unter Einbindung von Gesundheitsfachberufen stattfinden soll. Nach Sektoren getrennt? Und das Ganze im Geiste der neue geschaffenen, weil „notwendigen“ Gesundheitskioske unter Einbindung der diversen Gesundheitsfachberufe. Was per se nicht schlecht sein muss, aber das bestehende ambulante System weiter aushöhlen wird.

Wo liegt der Unterschied zum MVZ?

Mit Verlaub lautet die entscheidende Frage: Worin unterscheidet sich eigentlich das Krankenhaus des Level 1i von einem MVZ? In nichts, außer dass der Betreiber die öffentliche Hand sein wird. Und kein Investor. Wirklich? Hebt man den Blick und schaut, wie viele Krankenhäuser nicht in öffentlicher, sondern in privater Hand sind, fragt man sich schon, wie die Politik ihre markigen Worte zu den Investoren-MVZ umsetzen will. Es sind rund ein Drittel aller Krankenhäuser …

Don Quijote und das Metafiktionale

Das nennt man dann wohl metafiktional. Als erster metafiktionaler Roman gilt der berühmteste spanische Roman „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“ von Miguel de Cervantes aus dem 17. Jahrhundert, übersetzt „Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha“. Ähnlichkeiten der Handelnden sind natürlich rein zufällig.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

Bibliografía: Quintessence News Politik Studium & Praxisstart Nachrichten

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