Mit der Schlagzeile „Die Zahnmedizin steckt in der Krise“ fassten die internationalen Autoren einer Serie zur globalen Mundgesundheitssituation in „The Lancet“ das Ergebnis ihrer Arbeit für die Medien zusammen: Zu wenig Prävention, zu viele (teure) Restaurationen, starke sozioökonomische Polarisierung mundbezogener Erkrankungen, beschränkter Zugang zu zahnärztlicher Versorgung, zu wenig Beachtung der Risiken für die Allgemeingesundheit, zu viel Zucker auch dank der Lobbytätigkeit der Lebensmittelindustrie.
Die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) zieht in ihrer Analyse der Veröffentlichungen ein differenziertes Fazit für die Situation in Deutschland und in der Welt: Wie in den skandinavischen Ländern gibt es in Deutschland eine hervorragende und beispielgebende Prävention. Gleichzeitig ermögliche das deutsche Gesundheitssystem im Bereich der Zahnmedizin einen niedrigschwelligen Zugang zur Therapie und zur Prophylaxe. „Das lohnt sich, denn wir sind mit an der Weltspitze bei der Mundgesundheit unserer Bevölkerung“, so die BZÄK.
Lücken erkannt und aktiv angegangen
Es gebe aber noch Lücken, die man aber genau kenne, aktiv angehe und immer wieder an die gesundheitspolitischen Stakeholder adressiere: in erster Linie an die Politik, aber auch an die Öffentlichkeit, „weil nicht alle Risikofaktoren allein von der Zahnmedizin beeinflusst werden können. Für die Zahnmedizin in Deutschland gilt, stetig dazuzulernen, um immer besser zu werden.“
Schwierige Datenlage erlaubt wenig Differenzierung
Kritik wird an der den Veröffentlichungen zugrundeliegenden Datenlage geübt: „Leider bauen die Autoren der Lancet-Oral-Health-Serie ihre Argumentation nur auf wenigen und nur eingeschränkt verwendbaren Datenlagen auf. Dies hat zur Folge, dass kaum Differenzierungen zwischen entwickelten Ländern und sogenannten Schwellenländern bezüglich der unterschiedlichen Gesundheitssysteme und ihren Herausforderungen vorgenommen werden. So sind die Anforderungen an Prävention und Versorgung im Hinblick auf das Ausgangsniveau deutlich differenzierter zu betrachten. Auch müssen im Rahmen von umfassenden Public-Health-Strategien die Potenziale sowohl von Verhaltensveränderungen als auch von Systemveränderungen (Verhältnisse) zur Verbesserung der Mundgesundheit berücksichtigt werden. Diese Aspekte wurden durch die Autoren nicht beachtet“, heißt es im zehn Punkte umfassenden Positionspapier der BZÄK.
In Deutschland zeigten die Daten der DMS V, dass mit der deutlichen Orientierung auf die Prävention ab 1990 heute zum Beispiel 81 Prozent der 12-Jährigen völlig kariesfrei sind, 30 Prozent weniger Karies bei Erwachsenen (als noch 1997) vorherrscht. Anzugehende Baustellen sind jedoch die Polarisierung des Erkrankungsrisikos (Sozialschichtabhängigkeit), die frühkindliche Karies (ECC) und die Prävention bei Pflegebedürftigen sowie bei Menschen mit Handicap – und die Aufklärung über Mundhygiene und Ernährungsgewohnheiten, speziell zum Zuckerkonsum.
Verbindliche Maßnahmen zur Zuckerreduktion
„Besonders kritisch beurteilen die Lancet-Wissenschaftler die Rolle der Zucker-, Lebensmittel- und Getränkeindustrie“, so BZÄK-Vizepräsident Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, „hier rennen sie bei uns offene Türen ein. Die BZÄK fordert schon seit längerem verbindliche Maßnahmen zur Zuckerreduktion sowie für eine ausgewogene Ernährung vor allem bei Kindern. Der gemeinsame Risikofaktorenansatz bedarf einer klaren politischen Unterstützung und Förderung“, so Oesterreich.
„Auch die Bedeutung der Zahnmedizin in Zusammenhang mit anderen chronischen degenerativen Erkrankungen in der Medizin betonen wir kontinuierlich. Leider ist bei der aktuellen Novelle der Approbationsordnung für Zahnärzte (ZApprO) gerade der Part, mehr Medizin in der zahnärztlichen Ausbildung durch gemeinsame Ausbildung mit der Medizin, gestrichen worden.“
Gruppenprophylaxe fördern
Die BZÄK unterstütze sowohl bevölkerungsweite als auch gruppenprophylaktische Maßnahmen zur Verbesserung der Mundgesundheit. Sie setzt sich vor dem Hintergrund der Präventionsgesetzgebung in Deutschland für die Erhaltung und Förderung der Gruppenprophylaxe ein, und auch für eine stärkere Vernetzung mit anderen gesundheitlichen Präventionsmaßnahmen.
Gleichzeitig werden von der BZÄK in den internationalen Gremien wie dem Weltzahnärzteverband FDI deutliche Akzente gesetzt, Mundgesundheit bei den globalen Problemlagen als wichtigen Teil wahrzunehmen und die Rolle und Bedeutung der Zahnmedizin im Kontext mit medizinischen Erkrankungen besser zu berücksichtigen.
Ökonomische Motive vor medizinischer Notwendigkeit
Die von den Studienautoren geübte Kritik an einer an ökonomischen Motiven und nicht an der medizinischen Notwendigkeit orientierten Fokussierung zahnmedizinischer Behandlungen in vielen Industriestaaten lenkt die BZÄK vor allem auf Fremdinvestoren. Unter Punkt 9 „Gesundheitssystem darf kein Spekulationsmarkt werden“ des Positionspapiers heißt es dazu: „Die Autoren der Lancet-Artikel sprechen sich dafür aus, Mundgesundheit und Prävention von oralen Erkrankungen im Kontext nichtübertragbarer Krankheiten zu einem wesentlichen Bestandteil nicht nur gesundheitspolitischer Entwicklungen, sondern aller Politikfelder zu machen. Diese Forderung wird von der Bundeszahnärztekammer ausdrücklich unterstützt. Nationale als auch globale Gesundheitsstrategien müssen den Munderkrankungen die notwendige Bedeutung zumessen. Wenn die Ausübung der Zahnheilkunde zum Spielball des Finanzkapitals gemacht wird, ist dies Ausdruck fehlenden Problembewusstseins.
Ausdrücklich teilt die BZÄK daher die Kritik der Autoren, dass gewinnorientierte Organisationen im Gesundheitssystem die Gefahr erhöhen, zu stark auf Intervention und Überversorgung zu Lasten von Prävention zu orientieren. Vor diesem Hintergrund kritisiert die Bundeszahnärztekammer auch die in Deutschland mögliche Übernahme ambulanter zahnmedizinischer Zahnarztpraxen durch Fremdkapital, insbesondere durch Private-Equity-Gesellschaften. Die BZÄK fordert, dass die im Berufsrecht festgelegte Ausrichtung des Zahnarztberufes auf die Heilbehandlung und Prävention oraler Erkrankungen im Interesse des Patienten auch für die die Zahnmedizin ausübenden juristischen Personen gelten und einer berufs- rechtlichen Aufsicht unterliegt. Auch das Council of European Dentists (CED) unterstützt diese Position. Die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen ist vordringliche Aufgabe der Bundesregierung.“
Das vollständige Positionspapier der Bundeszahnärztekammer zu den Veröffentlichungen in „The Lancet“ kann hier abgerufen werden.