Wir schreiben das Jahr 2025. Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens ist erheblich vorangeschritten, die rote Digitalisierungslaterne in Europa endlich abgegeben. Viele der mit der TI angekündigten Funktionalitäten sind dank der Realisierung des versprochenen Nutzens integraler Bestandteil der täglichen Arbeit geworden. Die Bundesregierung hat zeitgerecht ein Gesetz zum DSGVO-konformen Mining der Gesundheitsdaten realisieren können, denn fast 80 Prozent aller in der GKV-Versicherten nutzen mittlerweile die ePA. Selbst die Verhandlungen zur monetären Verteilung der dank Digitalisierung gehobenen Effizienzreserven stehen kurz vor dem Abschluss.
Booom! Sie schrecken aus Ihrem Tagtraum hoch, denn am Empfang wird es hektisch. Der Konnektor in der Praxis will mal wieder partout keine Systemverbindung aufnehmen. Ausschalten, einschalten, vielleicht funktioniert es ja gleich wieder. Hoffentlich, denn die Patientenschlange schwillt bereits wieder bedenklich an.
Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation
Wir schreiben das Jahr 2022 und am 9. März hat die Expertenkommission Forschung und Innovation ihr Jahresgutachten der Bundesregierung übergeben. Im Kapitel „Kernthemen“ widmen sich die Experten unter der Überschrift „Digitale Transformation im Gesundheitswesen“ auf den Seiten 96 bis 105 der Hebung der „großen Innovations- und Wertschöpfungspotentiale im Hinblick auf eine qualitativ bessere und effizientere Gesundheitsversorgung“. Und geben nachdrücklich der Hoffnung Ausdruck, dass die „zunehmende Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten in Verbindung mit neuen digitalen Analyseverfahren Möglichkeiten für eine stärker personalisierte Diagnostik eröffnet“.
Der nett zu lesenden Zusammenfassung von in der Vergangenheit liegenden Initiativen und vieler Gesetze, kombiniert mit dem Ausblick auf die in Ökonomie und Forschung zu findenden Vorteile weiterer Digitalisierungsaktivitäten, von denen einige auch im neuen Koalitionsvertrag erwähnt werden, hinterlassen jedoch bei jedem halbwegs Sach- und Fachkundigen einen sehr, sehr ambivalenten Eindruck.
Probleme durch den Föderalismus
Die Autoren führen zwar manch erfolgskritischen Punkt an – wie die vielschichtige und heterogene Akteurslandschaft im deutschen Gesundheitswesen, eine fehlende Gesamtstrategie(!), die spezifischen Problematik von Patientendaten und Datenschutz, Datensicherheit und Datennutzung oder die Vielzahl unterschiedlicher Datenschutzgesetze, die zudem noch „von den Landesdatenschutzbeauftragten im Hinblick auf die Weitergabe und Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschungszwecke unterschiedlich ausgelegt werden“. Da darf dann auch die Erwähnung der zu Verzögerungen führenden mangelnden digitalen Kompetenz der Leistungserbringer nicht fehlen. Immerhin: Ein Informationsmangel auf der Seite der Anwender wird ebenfalls ausgemacht.
Ausrede für das Versagen der Politik
Damit ist die Ausrede für das fortgesetzte Versagen der Politik auf dem Silbertablett geliefert. Denn alles ist wie gehabt: Nicht ausreichend informierte Akteure des Gesundheitssystems und einige wenige fehlende Gesetze machen im Wesentlichen das Problem der steten Verzögerungen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens aus. So weit, so simpel.
Der springende Punkt findet sich meines Erachtens jedoch in den unscheinbaren zwei Worten – der fehlenden (Gesamt)-Strategie. Symptomatisch ist dafür, man kann es nicht anders bezeichnen, der Verhau von nicht aufeinander abgestimmten Gesetzen. Und diese werden mehr statt weniger. Gleiches gilt für die mittlerweile nur noch als überbordend zu bezeichnend Bürokratie samt sich widersprechender Regelungswerke.
Ein Umstand, den auch die Expertenkommission Forschung und Innovation als erste Handlungsempfehlung benennt, hier im Wortlaut: „Um die digitale Transformation des Gesundheitswesens voranzutreiben, sollte die im Koalitionsvertrag angekündigte Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitssystem rasch entwickelt und umgesetzt werden. In der Strategie sollten konkrete Zuständigkeiten festgelegt, Meilensteine definiert und ein Zeitplan für die Umsetzung hinterlegt werden“. Echt jetzt?
Fünf Gesetze – und immer noch kein echter Nutzen
Nur zur Erinnerung die Gesetzeshistorie der ePA: 2003 sollte diese im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes – sagen wir mal – starten. Der nächste gesetzliche Aufschlag erfolgte dann 2015 mit dem E-Health-Gesetz, 2019 wurde mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz der Termin 1. Januar 2021 für die Krankenkassen vorgeschrieben, ihren Versicherten einen ePA zur Verfügung stellen zu müssen. Und 2020 ging dann das Patientendaten-Schutzgesetz an den Start, unter anderem mit der Regelung, dass Versicherte ihre ePA-Daten für Forschungszwecke freigeben können. Fünf Gesetze!
Der „Erfolg“ ist mit 312.000 von 73 Millionen GKV-Versicherten, wie die Expertenkommission in ihrem Gutachten vermeldet, für knapp 20 Jahre Arbeit an und mit der ePA „beachtlich“. 20 Jahre – aber bis heute keine sinnvolle Strukturierung der Daten. Und damit ist die ePA für Leistungserbringer immer noch vollkommen sinnbefreit. Der US-amerikanischer Ökonom Michael E. Porter definierte 1947 „Strategie“ übrigens so: „Die Essenz der Strategie ist zu entscheiden, was nicht zu tun ist.“
Der Minister steht über dem Gesetz?
Das ist im Übrigen das Gegenteil von der Handlungsweise unseres derzeitigen Bundesgesundheitsministers, der in der vergangenen Woche die Projekte E-Rezept und eAU wegen mangelnder Reife und – Achtung – „mangelndem Nutzen“ stoppte. Wir reden hier zwar von gesetzlichen Vorgaben, aber okay, vielleicht verwechselte Karl Lauterbach den KBV-Talk „Im PraxisCheck“ (ab 1.00) mit einer Talkshow à la Lanz. Die KBV und der „Rest“ der betroffenen Leistungserbringer zeigten sich begeistert: Endlich ein Minister, dem das Wort „Nutzen“ nicht nur über die Lippen kam, sondern der dieses auch zu verstehen schien.
Die Freude währte allerdings nur kurz, denn nur wenige Tage später verkündete der Geschäftsführer der gematik, Markus Leyck-Dieken, wie in der großen Politik üblich via Twitter das genaue Gegenteil: „Das #eRezept und die #eAU laufen planmäßig weiter. Kein Stopp durch Minister“. Was soll er auch anderes sagen? Er und seine Organisation sind an in Kraft getretene Gesetze wie auch an die Vorgaben des Bundesministeriums für Gesundheit gebunden. Ressortminister können die Vorgaben ändern, aber in Kraft getretene Gesetze? So musste dann der stellvertretende Leiter der für die TI zuständigen Abteilung im BMG den Leistungserbringern schriftlich noch einmal mitteilen, dass E-Rezept und eAU mitnichten gestoppt seien, die Testphasen und die Fristen laufen weiter. Nutzen hin oder her.
Immerhin hat der Minister auch eine Strategienbewertung angekündigt. Aber allzu große Hoffnung sollte man wohl nach den bisherigen Erfahrungen mit der TI als Anwender darauf nicht setzen. Was man nicht hat, kann nicht enttäuscht werden.
Dispensierrecht im Notdienst?
Immerhin blieb auf der „Habenseite“ der ministeriellen Ankündigungen im KBV-Talk noch Lauterbachs Vorschlag, im Rahmen der im Koalitionsvertrag angekündigten Notfallreform Ärzten das Abgeben von bestimmten Arzneimitteln im Notdienst zu erlauben. Eine Diskussion, an der sich die Zahnärzteschaft rechtzeitig beteiligen sollte.
Sollte es tatsächlich zum Dispensierrecht für die Ärzte im Notdienst kommen, wäre das ein Schlag ins Kontor für die Apotheker. Und ein perspektivisch hoher Preis für die Grippe- und nun auch Corona-Impferlaubnis der Apotheker. Aber das hier nur am Rande.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.