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Die Bundespolitik torpediert mit „pharmazeutischen Dienstleistungen“ die ambulante Versorgung – Dr. Uwe Axel Richter über einen neuen Keil in der Heilberuflerwelt

(c) Alessio Rinaldi/Shutterstock.com

„In der Politik passiert nichts zufällig. Wenn doch, war es so geplant.“ Fragt sich halt nur von wem … Es ist daher auch und besonders in der Professionspolitik wichtig, sich dieses – fälschlicherweise oft dem amerikanischen Präsident Franklin D. Roosevelt zugeschriebene – Zitat immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen, bevor man mehr oder minder öffentlichkeitswirksam die Frage stellt, ob Politiker eigentlich wissen, was sie tun.

Eine Tretmine explodiert

Erinnern Sie sich noch an das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken (VOASG)? Falls nein, ist es in Anbetracht der Gesetzesflut von Ex Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wenig verwunderlich. Vor gut anderthalb Wochen ging nun die darin versteckte Tretmine hoch, die nicht nur die Heilberuflergruppen Ärzte, Zahnärzte und Apotheker weiter spalten wird, sondern die ärztliche Berufs- und Standespolitik kollektiv als Verhandlungsversager bei den von ihnen vertretenen Fachgruppen erscheinen lässt. Der Name der Tretmine: Pharmazeutische Dienstleistungen.

Schiedsspruch mit Konsequenzen auch für die Zahnärzteschaft

Mit dem, was hier passiert (ist), hat die Zahnärzteschaft mehr zu tun als man anfänglich glauben mag. Denn mit den Konsequenzen aus dem Schiedsspruch, der nun zur „Einigung“ zwischen Apothekerlobby und den Kassen führte, wurde auch die Messlatte für zukünftige Honorarverhandlungen der ärztlichen und zahnärztlichen Professionspolitik ziemlich hochgelegt. Auch für Verhandlungen mit der Privaten Krankenversicherung. Es zeigt auch, dass Politik im Zweifel oder im Prinzip aktuelle Gesetzeslagen wie das Heilkundegesetz schnuppe sind.

Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen nimmt seinen Lauf

Zurück also an Ausgangspunkt, zu den Pharmazeutischen Dienstleistungen im VOASG, von mir als Tretmine bezeichnet. Mitte Dezember 2020 trat das VOASG in Teilen in Kraft. Was bis dato noch fehlte, war die Ausgestaltung und der Leistungsumfang jener „Dienstleistungen“, mit denen die Pharmazeuten bis dato ausschließlich ärztliche Leistungen nun ebenfalls anbieten dürfen. Und eben die Bepreisung, vulgo Honorar. Da Präsenzapotheker eingetragene Kaufleute sind, wirkt das Wort Honorar nicht so ganz passend. Aber das ist ein anderes Thema.

Da sich Apothekerverbände und Kassen nicht einigen konnten, ging die Sache vors Schiedsamt. Das Ergebnis dieses Schiedsspruchs hat es in sich und rechtfertigt das martialische Wort Tretmine. Denn angesichts der geschiedsten Vergütungen, die die Apotheker nun für die pharmazeutischen Dienstleistung erhalten werden, wird das zweierlei Maß in der Behandlung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen offensichtlich. Und zwar derart, dass die Ärzteschaft dies keinesfalls akzeptieren kann, ohne endgültig als „lame duck“ im Teich des Gesundheitswesens zu enden. Wenn überhaupt.

Bessere Lobbyarbeit der Pharmazeuten?

Deshalb erst einmal ein Blick auf das Substrat. Dass sich die Funktionärsapotheker, allen voran Gabriele Overwiening Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apotheker, kurz ABDA, über den Riesenerfolg vor dem Schiedsamt freuen, ist angesichts des Ergebnisses nicht verwunderlich. In der Pressemitteilung der ABDA lässt sie sich wie folgt zitieren: „„Das ist ein Meilenstein für die Patientenversorgung. Mit den neuen Leistungen können wir Versorgungsdefizite beheben und die Effizienz der individuellen Arzneimitteltherapie verbessern“. Und Thomas Dittrich, Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbands, setzt noch einen drauf: „Wir haben lange für die pharmazeutischen Dienstleistungen gekämpft und verhandelt. Jetzt gibt es ein gutes Leistungsportfolio, das die Apotheken auch im Interesse der Patienten umsetzen können, ohne dass es dazu einer ärztlichen Verordnung bedarf.“

Erstaunliches Leistungsspektrum für die Apotheker

Zusätzlich zu den bereits beschlossenen Grippe- und Covid-Impfungen haben Patientinnen und Patienten Anspruch auf zusätzliche Betreuungsangebote der Apotheke, wenn sie

  • fünf oder mehr verordnete Arzneimittel einnehmen
  • gegen eine Krebserkrankung neue Tabletten oder Kapseln erhalten (orale Antitumortherapie)
  • nach einer Organtransplantation neue Medikamente verordnet bekommen, um die körpereigene Abstoßungsreaktion zu hemmen (Immunsuppressiva)
  • einen ärztlich diagnostizierten Bluthochdruck haben und Blutdrucksenker einnehmen
  • gegen eine Atemwegserkrankung Medikamente zum Inhalieren erhalten.

Alles nur im Interesse des Patienten

Lassen wir die an allen Ecken fehlende Ausbildung der Pharmazeuten für eine umfängliche Bewertung des individuellen Krankheitsbilds einmal außen vor (bevor man mir Polemik vorwirft), muss man sich ernsthaft fragen, wie Apothekerinnen und Apotheker ohne Kenntnis der Diagnose, der Komorbiditäten und der Befunde – ja auch der Laborbefunde – hier eine suffiziente Beratung des Patienten in der Apotheke am Verkaufstresen verantwortungsvoll leisten wollen. Aus der desaströsen elektronischen Patientenakte können diese Informationen vorerst nicht gezogen werden, die ist gerade in der Neustrukturierung. Von den Bedenken der Datenschützer mal ganz abgesehen, wenn da noch eine Berufsgruppe umfangreichen Zugriff auf sensible Gesundheitsdaten bekommen soll.
Und was passiert eigentlich mit den betroffenen Patienten, wenn der Apotheker zu anderen Schlüssen kommt? Zynisch formuliert – oder vom Merkel‘schen Ende hergedacht: Das wars dann wohl mit dem auf Vertrauen basierenden Arzt-Patienten-Verhältnis.

Unverhältnismäßigkeit als Programm

Als ob das alles noch nicht schlimm genug wäre, kommt nun der zweite Hammer. Und in diesem Boot namens Vergütung darf nun auch die Zahnärzteschaft Platz nehmen. Nachfolgend die geschiedsten Vergütungssätze für die vorgenannten pharmazeutischen Dienstleistungen zitiert gemäß „Deutsche Apotheker Zeitung“: Für die pharmazeutische Betreuung bei oraler Tumortherapie oder nach Organtransplantation sind 90 + 17,55 Euro netto vorgesehen. Die erweiterte Medikationsanalyse schlägt mit 90 Euro netto zu Buche. Die korrekte Anwendung eines Inhalativums zu erklären, bringt der Apotheke 20 Euro netto. Und last but not least soll die „standardisierte Risikoerfassung bei Hypertonikern, denen der Arzt oder die Ärztin mindestens einen Blutdrucksenker verschrieben hat, 11,20 Euro netto bringen“. By the way: Die pharmazeutische Beratung wird bereits mit dem Apothekenaufschlag auf jedes abgegebene verschreibungspflichtige Medikament abgegolten.

Mehr Honorar als der Hausarzt

Für die zwei Spezialleistungen sowie die Medikationsanalyse seien laut ABDA-Leistungsbeschreibung besondere Fortbildungen nötig. Immerhin. Den Rest können die Pharmazeuten ihrem Apothekenpersonal überlassen. Nur zur Einordnung: Die erweiterte Medikationsberatung, für die Apotheker auf eine fast identische Software wie die Ärzte zurückgreifen, wird besser honoriert als die Betreuung eines Chronikers von seinem Hausarzt – in einem ganzen Quartal mit unlimitierten Arzt-Patient Kontakten. Oder im Eins-zu-eins-Vergleich: 90 Euro als pharmazeutische Dienstleistung, 4,39 Euro für die Hausärzte.

Divide et impera

Das angesichts solcher Zahlen die Wogen bei der niedergelassenen Ärzteschaft hochschlagen, liegt auf der Hand. Denn Sparknute für die einen, aber Füllhorn für die anderen, kommt gar nicht gut an. Eine äußerst schwierige Situation für die Krankenkassen sollte man meinen. Im Ärztenachrichtendienst änd.de beklagte die Vorsitzende des AOK-Bundesverbands, Dr. Carola Reimann, zwar, dass die Vergütungen in keinem Verhältnis zu den Vergütungen der Niedergelassenen stünden und viel zu hoch angesetzt seien. Um im Nachsatz anzufügen, dass man für pharmazeutische Dienstleistungen offen sei, sofern diese regional, dezentral und freiwillig vereinbart würden. Dass Frau Reimann sich auf die Position zurückzog, die GKV finanziere die ambulante Versorgung sehr gut und auskömmlich, passt ins maximal verzerrte Bild der Wirklichkeit.

Politik treibt bewusst Keile zwischen die Heilberufler

Insgesamt ergibt sich ein desaströses Bild der bundesdeutschen Gesundheitspolitik. Einerseits schert sich die Politik (mal wieder) weder um existierende Gesetze, zum Beispiel das Heilkundegesetz, noch um die Folgen neu verfasster Gesetze. Dass Jens Spahn den Vor-Ort-Apotheken angesichts der durch das E-Rezept drohenden Marktanteilsverluste an die Rx-Versender mit den pharmazeutischen Dienstleistungen ein Zuckerl zur Ruhigstellung zukommen lassen wollte, ist im politischen Prozess nachvollziehbar. Gesetze müssen nun mal von den Parlamentariern beschlossen werden, egal wo sie sitzen (um das Wort Hinterbänkler zu vermeiden). Aber Jens Spahn wäre nicht Jens Spahn, wenn er nicht auch den Keil gesehen hätte, mit denen er die Heilberufler weiter auseinandertreiben könnte. Wie formulierte es die Apothekerlobby so schön: Versorgungsdefizite beheben. Schon klar, welche Berufsgruppe gemeint ist.

Schiedsamt setzt Preismarke

Von Karl Lauterbach war zu dieser Sachlage nichts zu hören. Und das nicht nur, weil er weiterhin wie ein Pitbull ausschließlich in Corona verbissen zu sein scheint. Angesichts seiner Position, die er zu der fast fertigen neuen GOÄ der Ärzte im Mai dieses Jahres eingenommen hat, durchaus nachvollziehbar. Kommen wir deshalb zu des Pudels Kern: Das Schiedsamt hat hier eine Preismarke gesetzt! Punkt. Diese ist nicht nur im Kontext aktueller Kostensteigerungen zu sehen, sondern vor allem bei den seit Jahrzehnten unveränderten Gebührenordnungen. Und genau an dieser Stelle muss man Jens Spahn schon fast dankbar sein, den Beweis geliefert zu haben, dass sich Appeasement gegenüber der Politik nicht auszahlt.

Entschlossenheit und Tatkraft

Torwart-Titan Oliver Kahn, jetzt Vorstandsvorsitzender des FC Bayern, sagte dazu einst: „Eier, wir brauchen Eier!“. In unseren woken Zeiten ist diese Formulierung natürlich viel zu testosterongeladen. Aber es ändert an dem entscheidenden Punkt nichts: Es braucht Entschlossenheit und Tatkraft, wenn es darum geht, sich zu einem Wagnis aufzuraffen. Sagt jedenfalls der Duden. Wenn die professionspolitischen ärztlichen wie auch zahnärztlichen Organisationen diesen Steilpass nicht für alle weiteren Verhandlungen aufnehmen und statt nur zu bellen auch mal mit Konsequenz Zähne zeigen, wird das Geld eben an „andere“ gehen. Und zwar inklusive Bedeutungsverlust bei den von ihnen vertretenen Ärzte und Zahnärzte.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

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