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Ätiologie und Diagnostik fazialer/oraler Rezessionen


Prof. Dr. med. dent. Peter Eickholz

Faziale/orale Rezessionen bezeichnen Attachmentverluste und Knochenabbau rein fazial und/oder oral bei intaktem oder reduziertem approximalen Gewebe. Sie können zu einer Beeinträchtigung der Ästhetik, zu Dentin­hypersensibilität, Plaqueakkumulation, zur Entwicklung von Karies und/oder von nichtkariösen, zervikalen Defekten (non-carious cervical lesion; NCCL), zu endodontischen Komplikatio­nen, zu gingiva­ler Entzündung und zu parodontalen Attachmentverlusten führen. In einem Übersichtsbeitrag in der Parodontologie 3/2018 stellen die Autoren Prof. Dr. med. dent. Peter Eickholz und PD Dr. med. dent. Bettina Dannewitz die verschiedenen Formen oraler Rezessionen sowie aktuelle Diagnose-, Einteilungs- und Behandlungsempfehlungen vor [Parodontologie 2018;29(2):115–126].


PD Dr. med. dent. Bettina Dannewitz

Während zirkuläre (faziale, orale und approximale) Rezessionen in den allermeisten Fällen infolge einer Gewebezerstörung durch Parodontitis auftreten, können in der Pathogenese der fazialen/oralen Rezessionen auslösende (Trauma­ta) und prädisponierende pathogenetische Faktoren unterschieden werden. Bei Erhebung eines kompletten Parodontalstatus werden die Rezessionstiefen unmittelbar als Distanz zwischen Schmelz-Zement-Grenze und Gingivarand oder mittelbar als Differenz aus Attachmentlevel und Sondierungs­tiefe erfasst und dokumentiert. Zur Erfassung weiterer Charakteristika der Rezessionen und Befunde der mukogingivalen Weichgewebe werden zusätzliche Parameter erhoben (Rezessionsbreite, Breite der keratinisierten/befestigten Gingiva). In der Literatur werden verschiedene Klassifikationen zu gingivalen Rezessionen beschrieben, welche die Lagebeziehung zur mukogingivalen Grenze, die knöcherne und weichgewebliche Situation in den benachbarten Interdentalbereichen sowie die Zahnstellung oder Defekte der Zahnhartsubstanz im Bereich der Schmelz-Zement-Grenze berück­sichtigen. Kiefermodelle eignen sich sehr gut zur Dokumentation von Rezessionsbefunden. Vor allem bei fazialen Rezessionen sind klinische Fotos wesentliche dokumentarische Unterlagen. Diese Unterlagen sind auch bedeutsam und hilfreich, um dem Patienten für die Verlaufskontrolle oder nach einer Therapie (chirurgische Rezessionsdeckung) die Stabilität beziehungsweise Verbesserung der muko­gingivalen Verhältnisse darstellen zu können.

Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Parodontologie“ vermittelt dem interessierten Zahnarzt in Praxis und Klinik die aktuellen Erkenntnisse, Entwicklungen und Tendenzen auf dem Gebiet der Parodontologie. Die hochwertige Ausstattung mit vielen, meist farbigen Abbildungen und der ausgeprägte Fortbildungscharakter sprechen für diese Fachzeitschrift. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.


Einleitung

Im Falle normaler parodontaler Verhältnisse liegt der Gingivarand etwa 1,5 bis 2,5 mm koronal der Schmelz- Zement-Grenze (SZG)1,2. Der Zahnhalteapparat bedeckt die Zahnwurzeln vollständig, die Interdentalpapillen füllen die Zahnzwischenräume komplett aus (Abb. 1). Als gingivale Rezession bezeichnet man die Exposition des Zahnhalses (Abb. 2)3,4. Das heißt aber, dass sich der Gingivarand bereits bis zu 2,5 mm nach apikal zurückgezogen hat, bevor eine Rezession diagnostiziert wird.

Rezessionen können sich infolge von Parodontitis entwickeln. Wenn es zu erheblichen Attachmentverlusten und Knochenabbau gekommen ist, zieht sich meistens auch die Gingiva zurück und die Zahnhälse liegen frei, es entstehen zumeist zirkuläre Rezessio­nen. Nach Parodontitistherapie und daraus resultierendem Abschwellen des Gewebes tritt dieser Effekt häufig noch deutlicher zutage (Abb. 2). Rezessio­nen entstehen aber nicht nur infolge von Parodontitis. In der Nomenklatur werden faziale/orale und approximale Rezessionen unterschieden5. Faziale/orale Rezessionen bezeichnen dabei At­tachmentverluste und Knochenabbau streng fazial und/oder oral bei intaktem approximalem Gewebe (Abb. 3). Gingivale Rezessionen können zu einer Be­ein­träch­tigung der Ästhetik, zu Dentin­hyper­sensi­bi­li­tät, Plaqueakkumulation, zur Entwicklung von Karies und/oder von nichtkariösen zervikalen Defekten (non-carious cervical lesion; NCCL), zu endodontischen Komplikationen, zu gingivaler Entzündung und zu parodontalen Attachmentverlusten führen6. 

Bei Betrachtung der Prävalenz dieser beiden Formen von Rezessionen zeigt sich, dass zirkuläre Rezessionen (faziale/orale und approximale Rezessionen) in einem Kollektiv ohne individuelle Plaquekontrolle und mit genereller Gingivitisprävalenz vorherr­schen7, während bei nordeuropäischen Aka­demikern mit umfassender zahnärztlicher Versorgung und effektiver individueller Mundhygiene die Häufigkeit von Rezessionen insgesamt geringer ist. In dieser Gruppe werden überwiegend faziale, gefolgt von oralen Rezessionen gefunden, während approximale Rezessionen selten sind8. Aus dieser Beobachtung lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass den fazialen/oralen und approximalen (zirku­lären) Rezessionen unterschiedliche ätiologische Mechanismen zugrunde liegen. Während zirkuläre (faziale, orale und approximale) Rezessionen in den allermeisten Fällen infolge einer Gewebezerstörung durch Parodontitis auftreten, spielen in der Patho­genese der fazialen/oralen Rezessionen Traumata eine wesentliche Rolle. Hier können prädisponierende und auslösende pathogenetische Faktoren unterschieden werden9. In einer repräsentativen Erfassung der französischen Bevölkerung in den Jahren 2002 bis 2003 (NPASES I) wurde bei 84,6 Prozent der 35- bis 65-Jährigen zumindest eine bukkale bzw. faziale Rezession gefunden. Dabei handelte es sich in der Mehrzahl um Rezessionen ohne approximalen Attachmentverlust oder Knochenabbau (Miller-Klassen I und II). Die Rezessionstiefe lag bei 76,9 Prozent der Teilnehmer zwischen 1–3 mm10. Rezessionen sind bei Erwachsenen also durchaus häufig, aber bei der Mehrheit nicht stark ausgeprägt. Als Faktoren, die mit Rezessionen assoziiert sind, wurden Alter, männliches Geschlecht, Plaque und Rauchen (Zahl der pro Tag gerauchten Zigaretten) identifiziert10. Der Zusammenhang von Lebensalter mit dem Auftre­ten von Rezessionen war bereits in früheren Studien festgestellt worden8. Andere Faktoren, die im Folgenden dargestellt werden, wie zum Beispiel knöcherne Dehiszenzen oder Phänotypen der Gingiva, konnten in dieser Studie nicht erfasst werden.


Tab. 1 Patho­genetische Faktoren für faziale/orale Rezessionen.

Prädisponierende pathogenetische Faktoren

Knöcherne Dehiszenzen

Zu den anatomischen Normvarianten des Parodonts gehören knöcherne Dehiszenzen, das heißt Stellen, an denen die Zahnwurzel bukkal oder oral nicht von Knochen bedeckt ist (Abb. 4). An diesen Stellen ist die Gingiva zumeist dünn und fragil und deshalb anfällig für Traumata sowie plaqueinduzierte Ent­zün­dungen10.

Phänotypen der Gingiva

Das Erscheinungsbild der Gingiva zeigt deutliche inter­individuelle Variationen. Es lassen sich verschiedene genetisch determinierte Phänotypen der Gingiva insbesondere hinsichtlich der Schleimhautdicke unterscheiden. Bei schlanken Zahnformen findet sich zumeist dünne, fragile Gingiva und bei eher quadrati­schen Zahnkronen dicke und breite Gingiva. Individuen mit eher dicker, derber Gingiva weisen im Durchschnitt höhere Sondierungstiefen auf11. Während dicke, derbe Gingiva mechanische Traumata besser toleriert und auf subgingivale Infektion eher mit Taschenbildung als mit Rezessionen reagiert, prädisponiert dünne Gingiva zur Rezessionsbildung. Es konnte auch gezeigt werden, dass im Falle kieferorthopädischer Proklination bei Vorliegen dünner Gingiva (< 0,5 mm) eher Rezessionen entstehen als bei Gingiva ab einer Dicke von 0,5 mm12.

Marginal einstrahlende Lippen- und Wangenbändchen

Die Durchführung einer effektiven und atrauma­tischen Plaquekontrolle kann durch marginal einstrahlende Lippen- und Wangenbändchen lokal behindert werden (Abb. 5). Wenn Lippe bzw. Wange durch die Zahnbürste abgedrängt werden, springen diese Schleimhautbänder ins Vestibulum und können die korrekte Bürstenbewegung (z. B. Bass-Technik) behin­dern. Dies kann zum einen dazu führen, dass an der betreffenden Stelle nicht effektiv geputzt wird, sich Plaque akkumuliert und eine subgingivale Infektion entsteht. Zum anderen kann eine primär horizontale Schrubbtechnik resultieren, bei der das Bändchen nicht stört, aber die Gingiva traumatisiert wird. Die subgingivale Infektion wie auch die traumatisierende Putztechnik können zur Entstehung fazialer/oraler Rezessionen führen.

Auslösende pathogenetische Faktoren

Traumata

Mechanische Faktoren sind der Hauptauslöser fa­zialer/ oraler Rezessionen. Hier wird oft eine traumatisierende Putztechnik mit zu hohem Anpressdruck und horizontaler Bewegungsrichtung in den Vordergrund gestellt. Denn es sind meist insbesondere Zähne betroffen, die sich an exponierter Stelle befinden wie die Eckzähne, bei denen die Zahnreihe ihre Richtung ändert (Abb. 6). Deshalb wird der Anpressdruck der Zahnbürste ungleichmäßig verteilt. Häufig zeigen die freigelegten Wurzeloberflächen horizontale Rillen (s. Abb. 6) oder sogar NCCL. Es ist schwierig, die Entstehung fazialer/oraler Rezessionen bzw. NCCLs zu untersuchen und so z. B. auf eine traumatisierende Putztechnik zurückzuführen6. Es konnte zwar in Beobachtungsstudien gezeigt werden, dass die Prävalenz fazialer/oraler Rezessionen bei Verwendung von Zahnbürsten mit harten Borsten erhöht war13. Eine systematische Übersichtsarbeit konnte aber keinen klaren Zusammenhang zwischen Zähneputzen (Dauer, Anpressdruck, Borstenhärte, Häufigkeit) und fazialen/oralen Rezessionen zeigen14,15. Ein drei Jahre andauernder Vergleich des Effekts von Hand- und elektrischen Zahnbürsten bei Patienten mit bereits bestehenden fazialen Rezes­sionen zeigte in beiden Gruppen einen Rückgang

der Rezessionen16.

Auch oraler Schmuck, der nach Piercing von Lippen, Lippenbändchen (Abb. 7) oder Zunge eingesetzt wird, kann die Gingiva traumatisieren. Eine systematische Übersicht berichtet, neben Verletzungen der Zahnhartsubstanz, von fazialen/oralen Rezessionen als häufigste Komplikation (19 – 68 Prozent) von oralem Schmuck17. Dabei kann es sein, dass

der orale Schmuck zum Zeitpunkt der Diagnostik der fazialen/oralen Rezessionen nicht mehr getragen wird.

Aber auch Manipulationen an der Gingiva können die Ursache von Rezessionen sein (Abb. 8 und 9).

Plaqueakkumulation

Lokalisierte Plaqueakkumulation mit daraus resultierender subgingivaler Infektion kann insbesondere bei Vorliegen dünner, fragiler Gingiva zur Entstehung fazialer Rezessionen führen. Wenn das subgingivale entzündliche Infiltrat bei dünner Gingiva den gesamten bukkooralen Durchmesser der Gingiva einnimmt, kann es zu Nekrosen des Gewebes kommen10.

Subgingivale Restaurationsränder

An Zähnen mit subgingivalen Restaurationsrändern (Abb. 10) sind insbesondere bei Vorliegen dünner Gingiva häufiger entzündliche Veränderungen beobachtet worden als an Zähnen mit supragingivaler Gestaltung der Restaurationsränder18,19. Restau­rationsränder sind Plaqueretentionsstellen. Diese Plaque­retention kann bei Vorliegen prädisponierender Faktoren wie dünner, fragiler Gingiva zur Aus­bildung fazialer/oraler Rezessionen führen.

Kieferorthopädische Zahnbewegungen

Insbesondere an Unterkieferschneidezähnen lässt sich im Zuge kieferorthopädischer Bewegungen häufig die Ausbildung fazialer Rezessionen beobachten (Abb. 11). Die Datenlage dazu ist allerdings widersprüchlich. Es ist plausibel, dass durch Proklination Knochendehiszenzen entstehen können, wenn Zähne aus dem Alveolarfortsatz heraus bewegt werden. Je stärker die Proklination von Unterkieferfrontzähnen, insbesondere bei Vorliegen dünner Gingiva, desto höher das Risiko für die Entstehung von Rezessionen12. Eine retrospektive Untersuchung berichtet nach Abschluss der Retentionsphase orthodontischer Therapie immerhin bei 41,7 Prozent der Zähne von Rezessionen, allerdings nur in 7 Prozent von einer Tiefe > 1 mm20.

Breite der keratinisierten Gingiva

Früher wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer schmalen keratinisierten beziehungsweise befestigten Gingiva und der Entstehung fazialer Rezessionen angenommen. Querschnittsstudien ergaben, dass an Stellen, die faziale Rezessionen aufwiesen, zumeist auch nur ein schmales Band befestigter Gingiva zu finden war. Mittels Querschnittsstudien lässt sich allerdings keine Kausalität belegen. Eine ebenso schlüssige Interpretation solcher Befunde ist, dass die geringe koronoapikale Ausdehnung der befestigten Gingiva Folge und nicht Ursache der Rezes­sion ist (s. Abb. 6 und 11). Longitudinale Studien bei Patienten mit Stellen mit schmaler befestigter Gingiva konnten kein erhöhtes Risiko für die Entstehung fazialer Rezessionen an diesen Stellen zeigen21.

Rauchen

Zigarettenkonsum scheint zumindest auf die Entwicklung fazialer/oraler Rezessionen keinen Einfluss zu haben10,22.

Pathogenesemodell

Die Entstehung von fazialen/oralen Rezessionen spielt sich in diesem Spannungsfeld aus prädisponierenden und auslösenden Faktoren ab. Eine traumatisierende Zahnputztechnik mit harten Borsten allein reicht möglicherweise nicht aus, um Rezessionen her­vorzurufen. Bei Vorliegen eines oder mehrerer prä­dis­ponierender Faktoren und zum Beispiel in Kombination mit weiteren auslösenden Faktoren wie ineffektive Plaque­kontrolle oder subgingivale Restaurations­ränder, besteht allerdings eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine traumatisierende Putztechnik zur Ausbil­dung von Rezessionen führt.

Diagnostik

Werden bei der zahnärztlichen Untersuchung faziale und/oder orale Rezessionen festgestellt, ist eine detail­lierte Befunderhebung und Dokumentation sinnvoll. Die so gewonnenen Daten dienen bei nachfolgenden Untersuchungen der Verlaufskontrolle. Darüber hinaus können sie Hinweise auf mögliche ätiologische Faktoren geben sowie im Bedarfsfall die Indikation für eine chirurgische Therapie belegen.

Spezielle Anamnese

Bei Vorliegen fazialer/oraler Rezessionen sind folgende Fragen zu klären:

  • Seit wann bestehen Rezessionen beziehungsweise werden diese beobachtet?
  • Gibt es im Zusammenhang mit den Rezessionen Beschwerden oder Beeinträchtigungen?
  • Welche Zahnbürste und welche Putztechnik wurden in der Vergangenheit beziehungsweise werden jetzt angewendet?
  • Wurde eine kieferorthopädische Behandlung durchgeführt oder ist eine solche geplant?

Häufig stellt sich im Anamnesegespräch heraus, dass Rezessionen von den Patienten als Zahnfleischrückgang infolge einer Parodontitis interpretiert werden und die Patienten vor allem den Zahnverlust fürchten.

Inspektion

Bei der Inspektion werden Lokalisation und Ausmaß der Rezessionen im Sinne einer Übersicht festgestellt. Die Gingiva wird zunächst allgemein und dann speziell im Rezessionsbereich auf ihre Ausdehnung, ihre Beschaffenheit (dünn, fragil oder dick, derb)

sowie auf Farb- und Formveränderungen und auf mögliche Verletzungen hin untersucht. Spezielle Befun­de, wie z. B. Stillman-Spalten (spaltförmige Läsionen der marginalen Gingiva; Abb. 12) oder McCall-Girlanden (fibröse Verdickungen der Gingiva im Rezessionsbereich) werden aufgenommen. Bereits bei Erhebung des Parodontalen Screening- Index (PSI) finden mukogingivale Probleme und Rezess­ionen ≥ 3,5 mm Berücksichtigung, indem der Sextant, in dem diese Befunde auftreten, mit einem Stern gekennzeichnet wird23,24.

Bei Erhebung eines kompletten Parodontalstatus werden die Rezessionstiefen unmittelbar als Distanz zwischen Schmelz-Zement-Grenze (SZG) und Gingivarand oder mittelbar als Differenz aus At­tachment­level und Sondierungstiefe erfasst und dokumentiert23. Zur Erfassung weiterer Charakteristika der Rezessionen und Befunde der mukogin­givalen Weich­gewebe werden zusätzliche Befunde erhoben25.

Mukogingivalbefund

Zur Klassifizierung bestehender Rezessionen und zur prognostischen Einschätzung bei vorhandenen prädisponierenden und/oder auslösenden Faktoren ist eine Befundung der mukogingivalen Region sinnvoll.

Der Verlauf der mukogingivalen Grenzlinie kann vielfach schon im Rahmen der Inspektion anhand der farblichen Unterschiede zwischen der zumeist blassrosa Gingiva und der dunkleren rötlichen Alveolar­mukosa ermittelt werden (s. Abb. 1). Es ex­istieren aber auch verschiedene Verfahren zur Darstellung der mukogingivalen Grenze:

Tensionstest

Durch Zug an Lippen und Wangen wird die Alveolarmukosa bis zur Grenzlinie von ihrer Unterlage abgehoben. Dabei treten auch die Bändchen hervor und es kann überprüft werden, ob sie marginal einstrahlen bzw. ob der Gingivarand dem Zug nachgibt (Abb. 13)25.

Roll- oder Verschiebetest

Bevorzugt im Bereich von Rezessionen findet der Roll- oder Verschiebetest Anwendung, um den Verlauf der mukogingivalen Grenze deutlich zu machen: Mit einer flach angelegten Parodontalsonde wird die Alveolarmukosa nach koronal verschoben, wo sie sich an der Grenzlinie oder – bei fehlender befestigter Gingiva – am Marginalsaum „aufrollt“ (Abb. 14)25.

Anfärben der Alveolarmukosa

Neben diesen funktionellen Testmethoden kann die mukogingivale Grenze auch durch Anfärben mit Schiller’scher oder Lugol’scher Jodlösung (Cave: Jod-Allergie!) dargestellt werden. Dabei kommt es zur Braunfärbung der glykogenreichen Alveolar­mukosa, während die glykogenfreie befestigte Gingiva ungefärbt bleibt (Abb. 15)25.

Rezessionsbefunde

Im Rezessionsbereich werden mithilfe einer Parodontalsonde Messungen durchgeführt (Abb. 16):

  • Die Rezessionstiefe entspricht der vertikalen Dimension von der Schmelz-Zement-Grenze zum Gingivarand (s. Abb. 16). Sie ergibt zusammen mit der Sondierungstiefe den Attachmentverlust.
  • Die Rezessionsbreite entspricht der horizontalen Dimension auf Höhe der Schmelz-Zement-Grenze (s. Abb. 17).
  • Die Messung der Distanz vom Gingivarand zur mukogingivalen Grenze ergibt die Breite der keratini­sierten Gingiva (s. Abb. 18). Wird von diesem Wert die Sondierungstiefe (s. Abb. 19) abgezogen, ergibt sich die Breite der befestigten Gingiva.

Vor allem im Hinblick auf den möglichen Erfolg einer chirurgischen Deckung freiliegender Zahnhälse hat Miller eine Klassifikation der Rezessionen vorgenom­men, welche die Lagebeziehung zur mukogingivalen Grenze, die knöcherne und weichgewebliche Situation in den benachbarten Interdentalbereichen sowie die Zahnstellung berücksichtigt (Abb. 20 bis 23)26:

  • Klasse I:
  • Die Rezession erreicht die mukogingivale Grenze nicht. Es besteht kein Verlust an interdentalem Alveolarknochen oder Weichgewebe in diesem Bereich. Eine vollständige Wurzeldeckung kann erwartet werden.

  • Klasse II:
  • Die Rezession erreicht oder überschreitet die muko­gingivale Grenze. Es besteht kein Verlust an interdentalem Alveolarknochen oder Weichgewebe in diesem Bereich. Eine vollständige Wurzeldeckung kann erwartet werden.

  • Klasse III:
  • Die Rezession erreicht oder überschreitet die mukogin­givale Grenze. Es liegen der Verlust von interdentalem Knochen und Weichgewebe oder eine Fehlposition des Zahns vor, die den Versuch einer 100%igen Wurzeldeckung verhindern. Eine teilweise Wurzeldeckung ist möglich.

  • Klasse IV:
  • Die Rezession erreicht oder überschreitet die mukogin­givale Grenze. Der Verlust von interdentalem Knochen und Weichgewebe und/oder die Fehlposition der Zähne sind so schwer­wiegend, dass eine Wurzeldeckung nicht er­wartet werden kann.

Die Miller-Klassifikation wurde hinsichtlich der Kri­te­rien Nützlichkeit (Praktikabilität), Vollständigkeit (Erfassung aller Fälle der zu klassifizierenden Er­krankung/ Veränderung), Trennschärfe (ein Fall darf immer nur unter eine Kategorie fallen) und Einfachheit kritisiert27,28. Die Miller-Klassen III und IV erfassen Rezessionen, welche die mukogingivale Grenz­linie erreichen oder überschreiten und interdentale Knochen- und Weichgewebeverluste umfassen. Rezessionen mit interdentalen Knochen- und Weichgewebeverlusten, welche die mukogingivale Grenzlinie nicht erreichen, oder palatinale Re­zessionen (keine mukogingivale Grenzlinie) werden nicht erfasst. Die Klassifikation ist also nicht voll­ständig/erschöpfend. Die Miller-Klassen III und IV gehen kontinuierlich ineinander über. Die Unterscheidung ist eher subjektiv. Die Reliabilität der Miller-Klassifikation wurde bisher nicht überprüft und die Aussagen bezüglich der bei den unter­schiedlichen Kategorien zu erwartenden Wurzel­deckungen sind Hypothesen, die noch nicht validiert wurden29.

Diese Überlegungen haben zur Entwicklung und Überprüfung (Reliabilität und Prognose) einer ak­tuellen Klassifikation geführt (nach Cairo et al.)29:

  • Rezession Typ 1 (RT1; s. Abb. 6, 11 und 16 bis 19):
  • Gingivale Rezession ohne approximalen Attachmentverlust. Die approximale SZG ist klinisch weder mesial noch distal feststellbar29.

  • Rezession Typ 2 (RT2):
  • Gingivale Rezession mit approximalem Attachmentverlust. Das Ausmaß des approximalen Attachment­verlusts (gemessen von der SZG zum Boden der approximalen Tasche) ist geringer bzw. gleich dem bukkalen Attachmentverlust29.

  • Rezession Typ 3 (RT3):
  • Gingivale Rezession mit approximalem At­tach­mentverlust. Das Ausmaß des approximalen Attachment­verlusts (gemessen von der SZG zum Boden der approximalen Tasche) ist größer als der bukkale Attachmentverlust29.

Wenn an beiden approximalen Stellen die SZG frei- liegt und somit Attachmentverlust vorliegt, wird die Stelle mit dem stärksten Attachmentverlust für die Klassifikation verwendet.

Die intra- und interindividuelle Reproduzier­barkeit dieser Klassifikation erwies sich als sehr gut (Intraclass-Korrelationskoeffizienten > 80 Prozent). Bei Überprüfung der prognostischen Relevanz der Klassifik­ation stellte sich heraus, dass von 76 RT1-

Rezessionen 74 Prozent komplett und von 33 RT2-Rezessionen 24 Prozent komplett gedeckt werden konnten. Kritisch anzumerken ist, dass die Kategorie RT3 bei der Validierung ausgeklammert wurde und die Definitionen orale Rezessionen genau so wenig erfassen wie die Miller-Klassifikation. Das Kriterium der Vollständigkeit wird demnach ebenfalls nicht erfüllt.

Die präzise Festlegung der Miller- wie der Cairo- Klassen setzt voraus, dass die SZG eindeutig feststellbar ist. Ohne eindeutig feststellbare SZG beziehungsweise einen Restaurationsrand kann der Attachmentlevel nicht gemessen beziehungsweise überhaupt das Vorhandensein einer Rezession festgestellt werden, wenn diese als Position des Gingivarands apikal der SZG definiert wird. Die SZG kann durch Karies und/oder NCCL unkenntlich gemacht werden. Darüber hinaus können NCCL der freiliegenden Wurzeloberfläche zur Stufenbildung führen, die möglicherweise die Rezessionsdeckung erschwert. Pini-Prato et al. haben Kategorien für diese Situationen definiert, um welche die Miller- bzw. Cairo-Klassifikation ergänzt werden können30:

  • A– SZG identifizierbar, keine Stufe
  • A+ SZG identifizierbar, Stufe (s. Abb. 16)
  • B– SZG nicht identifizierbar, keine Stufe
  • B+ SZG nicht identifizierbar, Stufe

RT2 A+ wäre demnach eine gingivale Rezession mit approximalem Attachmentverlust, der geringer bzw. gleich dem bukkalen Attachmentverlust ist, bei der die SZG identifizierbar ist und eine Stufe vorliegt. Die Identifizierbarkeit der SZG beeinflusst im Wesent­lichen die Variabilität der Messung der Rezessions­tiefe. Ob diese Schwierigkeit der Reproduzierbarkeit von Messungen Bedeutung für die Patientenzu­friedenheit hat, ist fraglich. Für eine ästhetische Rehabili­tation muss ggf. die SZG mit restaurativen Mitteln wiederhergestellt werden, bevor der Zahnhals chirurgisch gedeckt wird.


Abb. 24 Rezessions­status

Dokumentation

Insbesondere bei multiplen fazialen Rezessionen empfiehlt sich die Dokumentation der Befunde anhand eines speziellen Rezessionsstatus, wie er von Ratka-Krüger et al. vorgestellt wurde (Abb. 24)31. Neben den Messungen im Rezessionsbereich können dort weitere Befunde (Füllungen, keilförmige Defekte, marginal einstrahlende Bänder) aufgenommen werden. Mukogingivale Probleme, wie beispielsweise eine chronische Entzündung des Marginalsaums im Rezessionsbereich infolge einer Behinderung der Mundhygiene durch einstrahlende Bänder, werden gesondert vermerkt. Rechts neben dem Zahnschema mit den Standardbefunden bietet der Rezessions­status die Möglichkeit, Zusatzbefunde (z. B. Phänotyp der Gingiva, Stillman-Spalten, subgingivale Restaurationsränder) zu dokumentieren, parodontale Indexwerte einzutragen und die Diagnose sowie ggf. die Therapie festzulegen.

Faziale/orale Rezessionen erfordern für sich genommen zunächst keine Röntgendiagnostik. Sind jedoch chirurgische Maßnahmen zur Wurzel­deckung vorgesehen, sollten – insbesondere bei vorhandenen Restaurationen – aktuelle Röntgenbilder der entsprechenden Zähne zur Beurteilung der periapikalen Region sowie des interdentalen Knochenniveaus zur Verfügung stehen.


Abb. 25 Gipsmodell zur Dokumentation fazialer Rezessionen.

Kiefermodelle aus Gips eignen sich sehr gut zur Dokumentation von Rezessionsbefunden und werden darüber hinaus häufig auch zur Therapie­planung verwendet (Abb. 25). Vor allem bei fazialen Rezessionen sind klinische Fotos wesentliche dokumentarische Unterlagen. Diese Unterlagen sind auch bedeutsam und hilfreich, um im Falle einer Verlaufskontrolle oder nach einer Therapie (chirurgische Rezessionsdeckung) dem Patienten die Stabilität bzw. die Verbesserung der mukogingivalen Verhältnisse darstellen zu können.

Patientenzentrierte Parameter

Häufig werden faziale Rezessionen aus kosmetischen Gründen therapiert. Der Erfolg solcher Therapie wird häufig als Reduktion der Rezessionstiefe in Millimetern oder Anteil der Rezession, der gedeckt werden konnte, gemessen. Diese objektiven Parameter sind leicht zu messen, bilden aber nicht unbedingt die ästhetische Verbesserung ab. So kann es sein, dass ein Patient mit einer nur partiell gedeckten Rezession hochzufrieden ist, während eine komplette Rezessionsdeckung, wenn Morphologie oder Farbe der Gingiva stark von der Umgebung abweichen, die ästhetischen Erwartungen des Patienten ggf. nicht erfüllt. Patienten schätzen das ästhetische Ergebnis einer Therapie häufig anders, zumeist besser, ein als Zahnärzte32. Der Anteil der Deckung freiliegender Zahnhälse ist nicht der alleinige Faktor, der das ästhetische Ergebnis beeinflusst33. Patientenzentrierte subjektive Parameter können beispielsweise mithilfe der Visuellen Analogskala (VSA) erhoben werden, die sich zum Beispiel für die Bewertung von Schmerzen und Missempfindungen bewährt hat.

Literatur auf Anfrage unter news@quintessenz.de


Ein Beitrag von Prof. Dr. med. dent. Peter Eickholz und PD Dr. med. dent. Bettina Dannewitz, beide Frankfurt am Main

Reference: Parodontologie, Ausgabe 2/18 Parodontologie

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