Während durch die gute Prävention die Karies zurückgeht, nimmt die Inzidenz von Zahnverschleiß zu – besonders bei jungen Erwachsenen. Zur Identifikation der Betroffenen sind in der Vergangenheit verschiedene Befundschemata vorgeschlagen worden. Davon sah nur das Tooth Wear Evaluation System (TWES) eine mehrstufige Untersuchung aus Basisdiagnostik und erweiterter Diagnostik vor.
Hierzu wurde jüngst eine Aktualisierung veröffentlicht, das TWES 2.0. Dies soll zunächst mit einem Zahnverschleiß-Screening auffällige Patienten identifizieren. Anschließend wird bei diesen Patienten ein detaillierter Zahnverschleiß-Status erhoben. Dieser erfasst die Verschleißgrade jedes einzelnen Zahns, Anzeichen pathologischen Zahnverschleißes sowie Hinweise auf die Verschleißursache. Der Beitrag schildert das praktische Vorgehen bei digitaler Erfassung und Auswertung der Befunde mittels spezieller Software (CMDbrux) sowie die darauf basierte Behandlung anhand eines Patientenfalls.
Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ (CMF), Ausgabe 3/2020, der Quintessenz Verlags-GmbH. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Häufigkeit von Zahnverschleiß
Während die Inzidenz der Karies vielfach zurückgeht, stellt Zahnverschleiß ein zunehmendes Problem dar. So konnten Studien aus den Niederlanden zeigen, dass moderater Zahnverschleiß bei jungen Erwachsenen in 3 Prozent der untersuchten Fälle vorkam; bei 70-Jährigen traf dies für circa 15 Prozent zu1. Etwa zeitgleich stellte eine longitudinale Untersuchung bei Jugendlichen einen Anstieg der Häufigkeit von Zahnverschleiß mit Dentinfreilegung fest. Von 1,8 Prozent im 11. Lebensjahr auf 23,8 Prozent bei den 15-Jährigen2 bei erhöhtem Verschleißgrad. Unabhängig von diesen epidemiologischen Daten können Patienten aller Altersgruppen von erheblichem Zahnverschleiß betroffen sein. Nach einer vorliegenden Studie ist allerdings in bestimmten Situationen das Risiko zusätzlich erhöht3. Die Folgen können für die Patienten gravierend sein, vor allem, wenn bei generalisiertem Zahnverschleiß eine Vielzahl der Zähne im Bereich der Okklusal- und Glattflächen betroffen ist.
Daher kommt der frühzeitigen Identifikation von Patienten mit nicht altersgerechtem Zahnverschleiß eine erhebliche Bedeutung zu. Um Zahnverschleiß zu erfassen und bewerten, sind in der Vergangenheit verschieden Vorschläge entwickelt und veröffentlicht worden. Mehrere dieser Vorschläge orientieren sich am Volumen des Zahnverschleißes, darunter die Vorschläge einer skandinavischen Arbeitsgruppe4,5 sowie das in Amsterdam entwickelte Tooth Wear Evaluation System6–9. Die Basic Erosive Wear Examination (BEWE) folgt einem anderen Ansatz und erfasst den Flächenanteil durch nichtkariöse Läsionen an den Zahnoberflächen10.
Die BEWE ist nach Festlegung der Autoren allerdings nur als Screening konzipiert. Einen ersten Vorschlag für ein mehrstufiges Untersuchungskonzept enthielt das TWES8. Dieses enthielt auch einen ersten Ansatz für die Erfassung der Zahnverschleißursachen mit einer Aufteilung in chemische und mechanische extrinsische und intrinsische Ursachen im Sinne einer Vierfeldertafel. Um Überbehandlungen bei beschwerdefreiem erheblichem Zahnverschleiß zu vermeiden, führte schließlich das erste europäische Konsensus-Statement zur Therapie erheblichen Zahnverschleißes das Kriterium der Pathologie des Zahnverschleißes ein11. Somit existierten nun ein- und mehrstufige Systeme zur flächenhaften Erfassung, zur volumetrischen gewebebezogenen Erfassung und zur Bewertung der Pathologie des Zahnverschleißes nebeneinander und es fehlte eine praxistaugliche Übertragung der Befunde in Diagnosen.
Vor diesem Hintergrund veröffentlichte dieses Jahr eine internationale Arbeitsgruppe aus Amsterdam, Heemstede und Hamburg-Eppendorf eine Weiterentwicklung des Tooth Wear Evaluation Systems, das TWES 2.012. Dieses integriert alle drei Erfassungssysteme und zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
- Mehrstufiger Aufbau mit einem vereinfachten Zahnverschleiß-Screening und einem differenzierten Zahnverschleiß-Status
- Erfassung der okklusalen bzw. inzisalen Substanzverluste gemäß der bereits validierten volumetrischen Bewertung aus dem TWES
- Erfassung der oralen und vestibulären Substanzverluste mit flächenhafter Auswertung13
- Erfassung von Symptomen die für Pathologie des Zahnverschleißes sprechen
- Systematische Auswertung und Überführung in ein strukturiertes Diagnoseschema in Anlehnung an die neue Klassifikation parodontaler Erkrankungen14
In der Ausgabe 2/20 des CMF wurde diese Weiterentwicklung vorgestellt15. Gegenstand dieses Beitrags ist die Schilderung der Umsetzung in der Praxis anhand eines konkreten Behandlungsfalls.
Fallbericht
Situation und Vorgeschichte
Vorgestellt wird das Vorgehen am Beispiel eines männlichen Patienten, der zu Behandlungsbeginn 39 Jahre alt ist. Der Patient, ein selbstständiger IT-Fachmann, stellte sich im CMD-Centrum Hamburg-Eppendorf mit erheblichen Zahnschmerzen vor. Diese waren lange Zeit nur auf Reiz aufgetreten und verselbstständigten sich zusehends. Die Schmerzstärke betrug 4 bis 8 auf einer visuellen Analogskala (VAS 0–10), je nach Reiz. Besonders belastend für den Patienten war, dass auch das Zähneputzen schmerzte und dass die Intensität der Beschwerden zunahm.
Mehrfache Vorbehandlungen mit Restaurationen aus Kompositkunststoffen im direkten Verfahren zur Bedeckung der schmerzhaften freiliegenden Dentinareale brachten zeitweilige Linderung, aber die Kompositrestaurationen platzten wiederholt ab. Die Komposite wurden mittels sorgfältiger Vorgehensweise per mehrstufiger Adhäsivtechnik nach Vorbehandlung des Untergrunds im Etch-and-Rinse-Verfahren nach Herstellerangaben appliziert. Verarbeitungsfehler konnten damit als Ursache der unzureichenden Haltbarkeit der direkten Kompositrestaurationen ausgeschlossen werden.
Zudem war es infolge des Zahnverschleißes zum Verlust der Front-Eckzahnführung gekommen, einhergehend mit Zahnverschleiß im Bereich der Kauflächen der Seitenzähne sowie zervikalen Abfrakturen im Seitenzahn- und Frontzahnbereich. Der Zahnhartsubstanzverlust hat dabei zu einem Verlust an vertikaler Dimension geführt. Neben dem Zahnverschleiß traten in dem Zusammenhang weitere dysfunktionelle Befunde auf (aus Platzgründen sind diese Funktionsbefunde des Patienten hier nicht wiedergegeben).
Dem Patienten war daraufhin andernorts vorgeschlagen worden, sämtliche 30 Zähne für die Versorgung mit Vollkronen zu präparieren, mit Langzeitprovisorien zu versorgen und diese später durch metallkeramische Kronen zu ersetzen. Diese Behandlungsform war dem Patienten zu invasiv und er wollte zudem nicht mit metallkeramischen Restaurationen versorgt werden. Daher wurde er zur Diagnostik und Behandlung mittels möglichst minimalinvasiver keramischer Restaurationen in die spezialisierte Praxis des Erstautors überwiesen.
Diagnostik
Zahnstatus
Die Grundlage der Untersuchung bildete zunächst eine herkömmliche zahnärztliche Untersuchung. Der Zahnstatus zeigte, dass am Zahn 16 mesial eine Karies und okklusal/distal eine Amalgamfüllung bestanden. Hinzu kamen okklusale beziehungsweise inzisale Substanzverluste an zahlreichen Zähnen sowie zervikale Defekte; teils durch Füllungen aus Kompositen versorgt (Abb. 1 und 2).
Röntgenaufnahmen
Neben dem Panoramaröntgenbild zeigten die Bissflügelaufnahmen, dass die Seitenzähne okklusal in großen Teilen keine Schmelzbedeckung mehr aufwiesen (Abb. 3).
Zahnverschleiß-Screening
Nach der Befundung erfolgte zunächst ein systematisches Zahnverschleiß-Screening. Die Originalpublikation des TWES 2.012 sieht vor, dass bei mindestens zwei Sextanten mit moderatem Zahnverschleiß (TWES-Grad 2) oder mindestens einem Sextanten mit erheblichem oder extremem Zahnverschleiß (TWES-Grade 3 oder 4) ein detaillierter Zahnverschleiß-Status erhoben wird. Dieser Grenzwert war hier überschritten (Abb. 4).
Zahnverschleiß-Status
Aufgrund des Ergebnisses aus dem Zahnverschleiß-Screening erfolgte ein detaillierter Zahnverschleiß-Status als erweiterte Diagnostik. Hierbei wurden die Außenflächen aller 32 Zähne entsprechend der Kriterien des TWES 2.0 bewertet. Die Bewertungskriterien für die okklusalen, vestibulären und oralen Flächen sind im TWES 2.0 hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit optimiert und um die Bewertung von Zahnersatz erweitert (Abb. 5). Die Verschleißgrade sind dabei wie in Tabelle 1 unterteilt.
Letztlich wurde erfasst, inwieweit die einzelnen Zähne jeweils okklusal in Zahnkontakt stehen. Dies wichtig, weil bei erheblichem Zahnverschleiß der Zahnkontakt für den weiteren Behandlungsverlauf entscheidend sein kann: Wenn der Zahn im Kontakt zum Antagonisten steht, ist eine Erhöhung nur unter zusätzlicher Entfernung von Zahnhartsubstanz oder durch Erhöhung der Vertikaldimension möglich. Wenn eine zusätzliche Entfernung von Zahnhartsubstanz vermieden werden soll (was bei erheblichem Zahnverschleiß in der Regel der Fall ist), resultiert hieraus die klinische Notwendigkeit zur Erhöhung der Vertikaldimension. Die entsprechenden Befunde sind daher direkt im Zahnverschleiß-Status erfasst (Abb. 6).
Das TWES 2.0 erfasst zudem erstmals zusätzlich Symptome, die für das Vorliegen pathologischen Zahnverschleißes sprechen. Diese Forderung war von zahlreichen Autoren in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Therapieplanung bei erheblichem Zahnverschleiß aufgestellt worden11. Das TWES 2.0 nimmt diese und frühere Empfehlungen auf und enthält zehn Kriterien, die signalisieren, dass eine durch Zahnverschleiß geprägte Situation pathologisch ist. Hierzu zählen unter anderem vorliegende Beschwerden oder Schmerzen, funktionelle, ästhetische oder phonetische Beeinträchtigungen, nicht altersgerechter Zahnverschleiß und die fehlende Möglichkeit, dessen Progression aufzuhalten. Im Rahmen des Zahnverschleiß-Status wird daher geprüft, inwieweit die einzelnen Symptome vorhanden sind oder nicht (Aufstellung siehe Screenshot in Abb. 7). Im vorliegenden Behandlungsfall lagen gleich mehrere Symptome vor, die für einen pathologischen Zahnverschleiß sprachen. Dies deckte sich mit der subjektiven Einschätzung des Patienten.
Das TWES 2.0 erfasst zudem die Ursachen der Schädigung. Hierfür wird klinisch nach Merkmalen gesucht, die im Zusammenhang mit Zahnverschleiß infolge mechanischer oder chemischer Ursachen typischerweise vorkommen. Zur Vereinfachung beschränkt sich die Unterscheidung
auf mechanische und chemische Verschleißursachen (Übersicht im unteren Abschnitt von Abbildung 7). In der im vorliegenden Fall zur Dokumentation eingesetzten Erweiterung der zahnärztlichen Praxissoftware werden diese Merkmale so angeordnet, dass die klinische Untersuchung möglichst erleichtert wird (Abb. 7). Zur Auswertung werden die Befunde hingegen nach Ursachen sortiert angeordnet (Abb. 8).
Auswertung
Die Auswertung des Zahnverschleiß-Status erfolgt in mehreren Schritten:
- Ist der Zahnverschleiß generalisiert? Hierfür werden die jeweils höchsten Verschleißgrade pro Zahn ermittelt und zugeordnet, ob dieser Zahn durch minimalen, moderaten, erheblichen oder extremen Zahnverschleiß gekennzeichnet ist. Ist der Zahnverschleiß lokalisiert oder generalisiert? Dazu wird bestimmt, wie viele Sextanten von der Verschleißstärke jeweils betroffen sind. Bei mehr als drei betroffenen Sextanten ist der Zahnverschleiß generalisiert – im vorliegenden Behandlungsfall war dies der Fall; daher ist in CMDbrux der entsprechende Balken ausgefüllt (Abb. 8, linker Graph).
- Wie ist die Intensität des Zahnverschleißes? Wie viele der betroffenen Zähne zeigen welchen Zahnverschleißgrad (Abb. 8, zweiter Graph von links).
- Was sind die Verschleißursachen? Hier stellt sich die Frage, inwieweit mechanische oder chemische Einflüsse das Geschehen bestimmen. Die Auswertung erfolgt ausgehend von der Anzahl der „positiven“ Merkmale im Verhältnis zur Anzahl der maximal möglichen Merkmale im Sinne einer Prozentangabe (Abb. 8, dritter Graph von links).
- Ist der vorliegende Zahnverschleiß pathologisch? Dabei gilt Zahnverschleiß dann als pathologisch, wenn wenigstens moderater Zahnverschleiß vorliegt, der mit mindestens einem der zehn Merkmale für Pathologie einhergeht. Zur Bewertung des klinischen Bildes ist es dabei hilfreich zu wissen, wie viele Merkmale insgesamt für das Vorliegen pathologischen Zahnverschleißes sprechen (Abb. 8, vierter Graph von links).
Diagnose
Keine Therapie ohne Diagnose – diese ärztliche Maxime gilt auch für die Behandlung von Zahnverschleiß. Die Auswertung des Zahnverschleiß-Status muss daher in einer subsumierenden Diagnose münden, als Grundlage therapeutischer Entscheidungen. Das TWES 2.0 gibt hierfür erstmals eine klare Taxonomie vor, welche in ihrer Struktur an die neue internationale Klassifikation parodontaler Erkrankungen angelehnt ist. Die Taxonomie strukturiert die Bewertung der Situation nach den folgenden Merkmalen:
- Ist der Zahnverschleiß lokalisiert und generalisiert?
- Wie hoch ist die jeweilige Verschleißstufe, einerseits generalisiert und – falls die Verschleißwerte lokal darüber hinausgehen – zudem lokalisiert?
- Ist der Zahnverschleiß pathologisch?
- Welche Ursachen liegen zugrunde?
Im vorliegenden Fall ergibt die Auswertung als Diagnose: generalisierter erheblicher und lokalisierter moderater pathologischer Zahnverschleiß mit mechanischen und chemischen Ursachen. Der Befund wird anschließend zusammenfassend ausgegeben (Abb. 9).
Zur Einordnung der Befunde und Festlegung der Diagnose werten Zahnärzte bisher die Befunde klassisch „im Kopf“ aus und tragen sie in die Karteikarte ein. Die digitale Auswertung des Zahnverschleiß-Status macht es möglich, die Diagnose per Mausklick festzulegen. Im vorliegenden Fall ist dafür die Taxonomie des TWES 2.0 auf der linken Bildschirmseite abgebildet (CMDfact-Softwaremodul DiagnosePilot, Fa. dentaConcept, Hamburg). Auf der rechten Bildschirmseite sind zu den einzelnen Diagnosebegriffen die individuell erhobenen Befunde kontextsensitiv zugeordnet. Dabei erfolgt eine Gewichtung danach, ob der Befund als Leitsymptom oder lediglich als „passender“ Befund einzuordnen ist – oder ob der Befund sogar gegen eine entsprechende Diagnose spricht (Abb. 10).
In die Bewertung der Gesamtsituation muss dabei neben der Diagnostik des Zahnverschleißes die sonstige Situation eingehen. Im vorliegenden Behandlungsfall wurde der Zahnverschleiß-Status in Kombination mit dem Zahn- und Parodontalbefund sowie den Ergebnissen der klinischen Funktionsanalyse und der Manuellen Strukturanalyse ausgewertet. Bestimmend für die Entscheidung zur restaurativen Therapie unter Wiederherstellung der vertikalen Dimension waren die fortlaufenden erheblichen Schmerzen, die der Patient so nicht akzeptieren konnte. Außerdem war ohne die geplante Behandlung im weiteren Verlauf höchstwahrscheinlich mit weiteren Substanzschäden zu rechnen.
Therapie des Zahnverschleißes
Vorbehandlung
Generell sieht die bereits zitierte konsensuale Empfehlung zur Behandlung von erheblichem Zahnverschleiß11 vor, diesen nach Möglichkeit minimalinvasiv zu behandeln – zumal auch die zur Behandlung der Zahnverschleißfolgen verwendeten Restaurationen im weiteren Verlauf verschleißen können. Im vorliegenden Fall wurde genauso verfahren; die direkten Restaurationen hatten jedoch trotz mehrfacher Behandlungsversuche keinen Bestand. Daher erfolgte auf der Grundlage der durchgeführten Diagnostik und der vorliegenden Situationsmodelle die Planung der möglichst minimalinvasiven restaurativen Therapie (Abb. 11).
Im Sinne der wissenschaftlichen Stellungnahme zur zahnärztlichen Funktionstherapie seitens zahlreicher wissenschaftlicher zahnärztlicher Fachgesellschaften wurde dabei zunächst eine Simulation der Okklusion mit einer Relaxierungsschiene durchgeführt, die im weiteren Behandlungsverlauf in eine Positionierungsschiene überführt wurde. Diese Positionierungsschiene wies ein deutliches Höcker- und Fissurenrelief auf und stellte genau die Kieferposition und Vertikaldimension ein, welche später die Restaurationen gemäß einer zuvor durchgeführten dreidimensionalen Therapiesimulation aufweisen sollten. Die Positionierungsschiene signalisierte so dem Patienten neuromuskulär, wie sich die Situation nach der Restauration der Zähne anfühlen würde. Dieses Vorgehen war entscheidend, um den Patienten sensorisch an die spätere Situation nach restaurativer Behandlung zu gewöhnen und eine Abschätzung der biologischen Adaptationsfähigkeit zu erreichen, ohne vorab die Zähne für die Behandlung mit herkömmlichen langzeitprovisorischen Kronen zu präparieren.
Nach dieser längeren Phase der klinischen Erprobung zeigte sich, ob die erforderliche funktionelle Adaptation an die Situation eingetreten war. Hierfür erfolgten eine klinische Funktionsanalyse, eine manuelle Strukturanalyse, eine Registrierung der vom Patienten eingenommenen Kieferposition und deren Vermessung per Kondylenpositionsanalyse, eine kondyläre Bewegungsaufzeichnung zur Artikulatorprogrammierung und eine funktionelle Bewegungsanalyse. Dabei zeigte sich, dass die muskuläre Situation stabil und beschwerdefrei war, die Kiefergelenke bewegten sich mit getragener Positionierungsschiene ohne funktionelle Einschränkungen und die therapeutische Kieferposition wurde in Ruhe und aus der Bewegung heraus stabil eingenommen (Aus Platzgründen sind die erhobenen Befunde hier nicht dargestellt).
Restaurative Therapie
Die restaurative Therapie wurde minimalinvasiv geplant. Zunächst erfolgte dabei eine dreidimensionale Behandlungssimulation (Abb. 12). Dabei wurde im Rahmen der Behandlungssimulation auch die therapeutische Vertikaldimension anhand verschiedener Parameter ermittelt16.
- In statischer Okklusion wurde die Vertikaldimension zunächst so eingestellt, dass physiologische Zahnkonturen resultierten. Die Simulation zeigte, dass dabei im Seitenzahnbereich die zusätzlichen Volumina eine additive Rekonstruktion mit Lithiumdisilikat ermöglichten.
- Die dynamische Okklusion wurde so eingestellt, dass – bei fehlenden oberen ersten Prämolaren – in Protrusion die Unterkieferprämolaren von den Canini des Oberkiefers geführt wurden, im weiteren Verlauf gefolgt durch die Führung der Unterkieferinzisiven gegen die Oberkieferinzisiven.
Die Umsetzung erfolgte in einer einphasigen zweizeitigen Behandlungsabfolge:
- Restaurative nichtinvasive Versorgung der Seitenzähne zum Schutz der schmerzhaften Kauflächen und zur Wiederherstellung und Stabilisierung der Vertikaldimension (Abb. 13);
- Minimalinvasive Versorgung der Frontzähne mit monolithischen Vollkeramikrestaurationen aus Lithiumdisilikat – auch im Frontzahnbereich, um die niedrigere Biegebruchfestigkeit von Verblendkeramik im Frontzahnbereich zu vermeiden (Abb. 14).
Dem Patienten war bezüglich der Frontzähne besonders wichtig, dass die Form der neuen Frontzahnrestauration die ursprüngliche Form wiedergab, die Farbe nicht von der vorherigen Situation abwich und die Restaurationen möglichst haltbar sind, daher die monolithische Herstellung.
Seitdem befindet sich der Patient dauerhaft in Nachsorge, aufgrund der Ursachen für den Zahnverschleiß. Der Patient wurde instruiert, demineralisierende Nahrungsbestandteile zu vermeiden, insbesondere Softdrinks, nachdem intrinsische chemische Faktoren anamnestisch ausgeschlossen werden konnten. Darüber hinaus trägt der Patient zur Begrenzung mechanischer Einflussfaktoren in der Nacht eine Schutzschiene. Genauso sieht es die (deutsche) Leitlinie zur Behandlung mit vollkeramischen Restaurationen für die Nachbehandlung von Patienten mit Bruxismus vor. Der Patient trägt diese Kunststoffschiene seit Jahren konsequent in der Nacht; etwa einmal pro Jahr wird deren abradierte Kaufläche durch okklusale Wiederherstellung instandgesetzt (Abb. 15).
Diskussion
Der vorliegende Behandlungsfall zeigt, wie eine mehrstufige Zahnverschleiß-Diagnostik im Praxisalltag umgesetzt wird: mit initialem Zahnverschleiß-Screening und einer im Bedarfsfall erfolgenden erweiterten Diagnostik per Zahnverschleiß-Status. Das mehrstufige Vorgehen entspricht damit dem Konzept der präventionsorientierten Zahnheilkunde, wie dieses vor mittlerweile 15 Jahren von der Bundeszahnärztekammer, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde verabschiedet wurde.
Dabei zielt das Zahnverschleiß-Screening darauf ab, die entsprechend auffälligen Behandlungsfälle mit möglichst geringem Aufwand zu entdecken. Die Erfahrungen aus den Praxen beider Autoren haben gezeigt, dass dies in der täglichen Routine genauso umsetzbar ist wie die Erhebung des parodontalen Screening-Index.
Im Vergleich dazu ist die Erhebung des Zahnverschleiß-Status deutlich aufwändiger, da hierfür der Verschleiß aller Zahnflächen untersucht werden muss, im Sinne einer vollständigen Kartierung. Das vorliegende Bespiel zeigt, wie sich dies mit digitalen Befundsystemen umsetzen lässt. Die farbige Darstellung der Befundwerte macht diese übersichtlicher. Die kritischen Einzelwerte werden farblich hervorgehoben und so auf einen Blick ein erkennbares Risikoprofil generiert. Darüber hinaus zeigt die dargestellte Auswertung, dass entsprechende spezialisierte Erweiterungen der Praxisverwaltungssoftware dem Zahnarzt helfen können, die von ihm selbst erhobenen Werte entsprechend grafisch aufzubereiten – so als ob er selbst die Daten in Excel übertragen und dort die Ergebnisse abgebildet hätten. Jenseits der Einzelbefunde bildet dabei die grafische Darstellung der Auswertung die Intensität des Geschehens ab und erleichtert auch Patienten das Verständnis. Dies wiederum ist erforderlich für eine wirksame Aufklärung sowie als Grundlage der für die Eindämmung der Verschleißursachen notwendigen Compliance.
Einsatz von Intraoralscannern?
Perspektivisch wäre denkbar, die eigentlichen Verschleißwerte mithilfe von Intraoralscannern zu erheben. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Fehlertoleranzen der Intraoralscanner17,18 deutlich unterhalb der fraglichen jährlichen Verschleißraten liegen. Die vorliegenden Studien hinsichtlich des physiologischen Zahnverschleißes berichten von niedrigen zweistelligen Verlustraten in Mikrometer pro Jahr19,20. Daher stellt sich die Frage, ob die Messgenauigkeit der Intraoralscanner ausreicht, um beginnende Veränderungen in den jährlichen Verschleißraten zu erkennen.
Sobald aber minimaler oder moderater Zahnverschleiß eingetreten ist, kann der Zahnarzt dies mit Lupenbrille gut erkennen; bei erheblichem oder extremem Verschleiß gelingt dies mit bloßem Auge.
Die Zuverlässigkeit, Verschleißwerte ohne Einsatz technischer Hilfsmittel zu erfassen, ist bereits durch Studien aus Amsterdam belegt – und zwar sowohl für die Inspektion intraoral als auch für die Bewertung auf der Grundlage von Kiefermodellen und Fotos9.
Effekt der Zahnverschleiß-Diagnostik auf die Behandlung
Die durchgeführte Diagnostik zeigte im vorliegenden Fall, dass ein generalisierter moderater und lokalisierter erheblicher Zahnverschleiß vorlag. Die Lokalisation des erheblichen Zahnverschleißes korrelierte mit der Lokalisation der Zahnschmerzen des Patienten. Nach Abschluss der restaurativen Behandlung sind die Schmerzen umgehend verschwunden und über fünf Jahre nicht wiedergekehrt.
Die Befunde aus dem Zahnverschleiß-Status haben die Behandlung in verschiedener Weise beeinflusst:
- Zum einen hatte die differenzierte Erfassung der Verschleißbefunde dazu geführt, dass tatsächlich ein minimal- bzw. ein teilweise noninvasives Vorgehen im Rahmen der restaurativen Versorgung gewählt wurde. Im Vergleich zur andernorts aufgestellten ursprünglichen „klassischen“ Therapieplanung mit Präparationen von Vollkronen an allen Zähnen ist dadurch in erheblichem Maße Zahnhartsubstanz erhalten geblieben. Dies entspricht den Vorgaben der bereits zitierten Stellungnahme zur Behandlung von erheblichem Zahnverschleiß11.
- Die Umsetzung der Erkenntnisse hinsichtlich der Ursachen hat zu entsprechenden Vorgaben in der Erhaltungstherapie geführt, mit dem Ergebnis, dass keine neuen Zahnhartsubstanzverluste außerhalb der Restaurationen eingetreten sind. Das nächtliche Tragen einer Schutzschiene aus Kunststoff hat offensichtlich dazu beigetragen, auch die Restaurationen aus Vollkeramik zu erhalten. Lediglich an einem Zahn (26) ist schon früh die Keramik am disto-palatinalen Restaurationsrand frakturiert, ohne dass dabei Dentin freigelegt wurde. Nach Abrundung und Politur konnte diese Restauration so verbleiben und ist seither weiterhin in situ und in Funktion.
Auswertung im Vergleich mit anderen Befunden
Sofern erheblicher oder extremer Zahnverschleiß mit dysfunktionellen Veränderungen einhergeht, muss das Ziel restaurativer Behandlungen sein, die Eufunktion der Muskulatur sowie der Kiefergelenke wiederherzustellen. In die Behandlungsplanung müssen also der Zahnverschleiß-Status sowie die übrigen Funktionsbefunde eingehen.
In der hier eingesetzten Software zur Verwaltung der Befunde und Diagnosen (CMDfact DiagnosePilot, siehe Abb. 10) werden die Informationen aus den verschiedenen Untersuchungen an einer Stelle gebündelt. Dies ist vor allem in Fällen mit lokalisiertem erheblichem Zahnverschleiß relevant, wenn dieser mit Störungen in der Gelenkfunktion einhergeht, weil die Kombination der verschiedenen Diagnosen eine veränderte Behandlungsstrategie vorgibt (restaurative Wiederherstellung der Zähne mit Zahnverschleiß unter funktioneller Wiederherstellung der Gelenkfunktion in korrigierter Gelenkstellung).
Das vorgestellte Vorgehen zeigt, dass Digitalisierung in der Zahnheilkunde den Informationsstand des Zahnarztes verbessern kann. Die Entscheidung über sowohl die Befundung an sich als auch die Befundinterpretation in Form von Diagnosen und schließlich die daraus resultierende Behandlung bleibt beim Zahnarzt. Das weiterentwickelte TWES 2.012 bietet hierfür eine exzellente Grundlage.
Anhang
Abgrenzung von Zahnverschleiß gegenüber funktionstherapeutisch indizierten Bisshebungen
Verschiedene Kassenzahnärztlichen Vereinigungen in Deutschland beobachten eine steigende Anzahl eingereichter Behandlungspläne für umfangreiche Restaurationen mit „Bisshebungen“. In Deutschland ist für die Kostenerstattung im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung dabei die Indikation entscheidend. So gibt das deutsche Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Paragraf 28 Absatz 2 Satz 8 vor, dass funktionsdiagnostische und funktionstherapeutische Behandlungen nicht Bestandteil der (vertrags-)zahnärztlichen Behandlung sind. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) hat daher schon 2007 in einem Rundschreiben an die kassenzahnärztlichen Vereinigungen darauf hingewiesen, dass „Bisshebungen“ allein aus funktionstherapeutischer Indikation keine vertragszahnärztlichen Leistungen darstellen.
Anders ist die Situation, wenn Zähne durch Zahnverschleiß soweit geschädigt sind, dass sie in ihrer Vitalität oder in ihrem Zahnerhalt bedroht sind. In diesem Fall sieht nach der Bewertung der KZBV die Zahnersatzrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gemäß Nr. 16a und d die Behandlung mit Zahnersatz als Vertragsleistung vor – und schließt hierbei auch Zähne ein, die selbst nicht geschädigt sind, aber im Rahmen einer notwendigen Erhöhung der Vertikaldimension mitversorgt werden müssen. Für die Betroffenen vergrößert sich die Tragweite dieser Festlegung zusätzlich, falls eine Zusatzversicherung existiert, deren Erstattungsleistung an eine Teilleistung der Gesetzlichen Krankenversicherung gebunden ist.
Eine strukturierte Diagnostik, wie sie in diesem Beitrag dargestellt ist, ermöglicht daher vor wiederherstellenden Behandlungen unter Erhöhung der Vertikaldimension eine klare Abgrenzung der Behandlungsindikation. Auch hierfür eignet sich das weiterentwickelte Tooth Wear Evaluation System TWES 2.0 und ermöglicht die Einordnung in der Praxis auf wissenschaftlicher Grundlage. Diese wird mittels laufender Studien kontinuierlich verbreitert.
Ein Beitrag von PD Dr. M. Oliver Ahlers, Hamburg, und Prof. Dr. Peter Wetselaar, Amsterdam, Niederlande
PD Dr. Oliver Ahlers, Hamburg, studierte von1982 bis 1988 Zahnmedizin in Hamburg und schloss das Studium mit Staatsexamen und Approbation ab. Ab 1989 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Poliklinik für Zahnerhaltung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKA), später Oberarzt und stellvertretender Direktor der Poliklinik, 1992 erfolge die Promotion. Seine Arbeitsgebiete sind die Zahnärztliche Funktionsdiagnostik und -therapie sowie funktionelle und ästhetische Restaurationen.
Seit 1992 leitet Ahlers den Arbeitskreis CMD und chronische Schmerzen der Zahnärztekammer Hamburg, im selben Jahr übernahm er auch die Leitung der Dysfunktions-Sprechstunde der ZMK-Klinik (zusammen mit Dr. Jakstat). Seit 2001 ist er Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und –therapie (DGFDT).
Nach seiner Habilitation im Jahr 2004 gründete er 2005 das CMD-Centrum Hamburg-Eppendorf, dessen ärztliche Leitung er innehat und das 2010 als erste postgraduierte Ausbildungsstätte für „Spezialisten für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT)“ zertifiziert wurde. 2005 wurde er zum Spezialisten für Funktionsdiagnostik und -therapie der DGFDT ernannt, seit 2008 ist er Mitglied der Redaktion des zweisprachigen „Journals of CranioMandibular Function (CMF)“.
Ahlers ist vielfach mit wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet, so mit Tagungsbestpreisen der DGFDT in den Jahren 1996, 2001, 2008, 2009 und 2011, sowie mit dem Alex-Motsch-Preis der DGFDT für die beste wissenschaftliche Publikation des Jahres im Journal for Craniomandibular Function (CMF) in den Jahren 2015, 2016 und 2017. Von ihm liegen zahlreiche Zeitschriftenpublikationen und mehrere Lehrbücher vor. Er ist zudem in der Entwicklung von Software für die zahnärztliche Funktionsanalyse sowie zahlreicher Medizinprodukte aktiv. (Foto: Reetz)
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de