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Eine kritische Betrachtung und Diskussion zur Entscheidungshilfe in der täglichen Praxis

Allergische Hautreaktion nach Penicillingabe.

(c) shutterstock.com/Ammu67

„Die Zeit wird kommen, in der Penicillin von jedermann in Geschäften gekauft werden kann. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Unwissende das Penicillin in zu niedrigen Dosen verwendet. Indem er die Mikroben nun nicht tödlichen Mengen aussetzt, macht er sie resistent.“ (nach Alexander Flemming, 1945)

Seit Jahrzehnten sind Antibiotika in der Zahnmedizin unverzichtbare Medikamente. Sie werden nicht nur zur Behandlung zahlreicher, bakteriell bedingter Mundhöhlenerkrankungen eingesetzt, sie dienen auch zur Vermeidung systemischer Infektionen durch fortgeleitete orale Keime. Ihr flächendeckender Einsatz kann jedoch zu Resistenzentwicklungen sowie zu weitreichenden Gesundheitsschäden führen, so dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen kritischen Umgang mit Antibiotika fordert. Hierdurch sollen bei maximalem therapeutischen Nutzen die Nebenwirkungsraten und Resistenzentwicklungen möglichst gering gehalten werden26.

Den Erfordernissen einer modernen Zahnarztpraxis entsprechend, wendet sich das „Quintessenz Team-Journal“ an das gesamte zahnärztliche Team: Zahnärztinnen, Zahnärzte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von Auszubildenden bis zur Dentalhygienikerin. Neben dem Basiswissen für die Auszubildende sorgen Beiträge aus dem klinischen Bereich für ein Kompetenz-Plus. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Da ein sinnvoller Antibiotikaeinsatz stets nur dann gegeben ist, wenn der medizinische Nutzen der Verabreichung deren Gesundheitsrisiken übersteigt, lohnt es sich, letztere zunächst genauer zu betrachten, so Prof. Julia Blank in ihrem Beitrag für das Quintessenz Team Journal 5/20.

Unerwünschte Antibiotikawirkungen

Antibiotikaresistenzen

Die Resistenz der Mikroorganismen entsteht durch den Selektionsdruck des Antibiotikums auf die Bakterienpopulation. Während empfindliche Keime durch das Medikament abgetötet werden, können sich (durch Mutation) angepasste Erreger selektiv vermehren, so dass die Population schließlich aus resistenten Mikroorganismen besteht, gegen die das Antibiotikum seine Wirksamkeit verloren hat.

Dieser Wirkungsverlust konnte in den vergangenen Jahren zunehmend bei geläufigen bakteriellen Erkrankungen wie Harn- oder Atemwegsinfekten beobachtet werden, führte aber ebenso zur Entwicklung schwer beherrschbarer Infektionen mit multiresistenten Keimen wie MRSA oder VRE26. Aufgrund des Fehlens wirksamer Medikamente sind diese Erkrankungen mit erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten sowie längeren Krankenhausaufenthalten und höheren Gesundheitskosten verbunden6.

Durch die häufige Verordnung treten auch gegen die zahnmedizinisch relevanten Antibiotika zunehmend Resistenzen auf. So ist bei Aminopenicillinen wie Amoxicillin in 15–35 Prozent der Fälle mit einem Wirkungsverlust zu rechnen, bei Clindamycin sogar in bis zu 45  Prozent der Fälle2.

Häufige Antibiotikanebenwirkungen

Abb. 1 Allergische Hautreaktion nach Penicillingabe.
Abb. 1 Allergische Hautreaktion nach Penicillingabe.
Bild: shutterstock.com/Ammu67
Die schwerste Antibiotikanebenwirkung ist die anaphylaktische Reaktion (allergische Reaktion vom Soforttyp). Sie tritt nach der Verabreichung von Penicillinen mit einer Prävalenz von 0,05–0,1 Prozent auf. Etwa einer von 50.000 Fällen verläuft letal. Weitaus häufiger sind allergische Hautreaktionen (Abb. 1), die nach Penicillineinnahme in ca. 5 Prozent der Fälle auftreten19. Zudem kommt es – insbesondere bei langandauernder oraler Antibiotikagabe – fast regelhaft zu einer Schädigung der natürlichen Darmflora, was zu gastrointestinalen Beschwerden wie Übelkeit und Durchfall oder in schweren Fällen zur Entwicklung einer pseudomembranösen Kolitis führt. Auch neurotoxische Reaktionen oder Leber- und Nierenschädigungen können unter Antibiotikatherapie auftreten.

Um neben der Häufigkeit auch den Schweregrad der antibiotikaassoziierten Gesundheitsschäden zu bestimmen, wurde in einer US-amerikanischen Studie untersucht, inwieweit die Antibiotikanebenwirkungen einen Krankenhausaufenthalt der Betroffenen erforderten. Es zeigte sich, dass 0,1 Prozent der ambulanten Penicillinverordnungen zu einer stationären Aufnahme wegen medikamentenbedingter Komplikationen führte18.

Die Ausführungen machen deutlich, dass Antibiotika durchaus ein relevantes Gesundheitsrisiko sein können, so dass sich ihr routinemäßiger Einsatz verbietet. Der Verordnung sollte vielmehr eine kritische Risiko-Nutzen-Abwägung vorausgehen. Medizinisch gerechtfertigt ist insbesondere die prophylaktische Antibiotikagabe nur, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung ohne AB-Therapie wahrscheinlicher und schwerwiegender ist als die Medikamentenebenwirkung.

Prophylaktische Antibiotikagabe vor zahnmedizinischen Maßnahmen

Welche Patienten benötigen nun aber eine Antibiotikaprophylaxe vor dentalhygienischen und parodontologischen Maßnahmen?

Die Bakteriämie

Eine wichtige Rolle spielen bei dieser Überlegung stets die möglichen Komplikationen durch eine Bakteriämie nach invasiven zahnmedizinischen Eingriffen. Hierunter versteht man die Einschwemmung potenziell pathogener Mikroorganismen aus der Mundhöhle in die Blutbahn. Die Bakteriämie beginnt unmittelbar nach Eröffnung der intraoralen Blutgefäße und dauert ca. 20–60 Minuten. Nach dieser Zeit ist es dem Immunsystem in der Regel gelungen, die pathogenen Mikroorganismen aus der Blutbahn zu eliminieren. Das Risiko für das Auftreten einer Bakteriämie hängt wiederum von der Keimbelastung der behandelten Mundhöhlenregion ab. Hier haben Untersuchungen gezeigt, dass das Risiko bei Manipulationen im Bereich der PA-Tasche am höchsten ist10. So kommt es bei Infiltrationsanästhesien in die Mundschleimhaut nur in etwa 10 Prozent der Fälle zu einer Bakteriämie, während intraligamentäre Injektionen in den PA-Spalt mit 75- prozentiger Wahrscheinlichkeit eine hämatogene Einschwemmung von Mikroorganismen verursachen. Zahnextraktionen führen in 60  Prozent, subgingivale Parodontitisbehandlungen in 70  Prozent der Fälle zu einer Bakteriämie13.

Da die Einschwemmung und Weiterleitung von Mikroorganismen bei entsprechender Prädisposition zu Folgeerkrankungen führen kann, gibt es Bestrebungen, das Bakteriämierisiko präoperativ zu reduzieren. Eine nachhaltige Möglichkeit dazu besteht in der Etablierung einer suffizienten Mundhygiene und der Schaffung entzündungsfreier parodontaler Verhältnisse. Durch diese Maßnahmen kann die Anzahl der Mikroorganismen, die während einer invasiven Zahnbehandlung in die Blutbahn gelangen, um 50 % reduziert werden10. Zusätzlich verringert die präinterventionelle Mundspülung mit 0,2 -prozentiger Chlorhexidinlösung das Bakteriämierisiko um die Hälfte22. Noch etwas stärker (um ca. 60  Prozent) kann das Risiko durch eine präventive Antibiotikagabe reduziert werden12.

Wenn die Entscheidung für eine solche Antibiotikprophylaxe getroffen wurde, ist es wichtig, das Medikament so zu verabreichen, dass vom Beginn bis zum Ende der invasiven Behandlung wirksame Gewebespiegel vorliegen. Das gewählte Antibiotikum sollte nach Empfehlung des Arbeitskreises für Krankenhaus- und Praxishygiene bakterizid gegen das im OP-Gebiet erwartete Bakterienspektrum wirken, nebenwirkungsarm wie kostengünstig sein und die aktuelle Resistenzsituation sowie die Risikofaktoren des Patienten berücksichtigen3. Vor zahnmedizinischen Behandlungen kommt auf Grundlage dieser Empfehlung meist das Breitbandpenicillin Amoxicillin oder bei bekannter Penicillinallergie das Lincosamidantibiotikum Clindymycin zum Einsatz. Die orale Verabreichung eine Stunde vor Therapiebeginn ermöglicht eine effektive Prophylaxe bei einer Behandlungsdauer von bis zu zwei Stunden. Erst bei längeren Eingriffen muss eine Folgedosis verabreicht werden. Demgegenüber haben Studien gezeigt, dass eine Antibiotikagabe nach Behandlungsende keine zusätzliche Reduktion der Bakteriämie bewirkt3. Die Abbildungen 2a–c geben einen Überblick über die Möglichkeiten zur Reduktion des Bakteriämierisikos.

Empfehlungen für den Umgang mit AB-Prophylaxe in der Praxis

Im Folgenden soll für drei exemplarische Krankheitsbilder die Evidenz für den Nutzen einer prophylaktischen Antibiotikagabe vor dentalhygienischen und parodontologischen Behandlungen aufgezeigt werden.

1. Erhöhtes Endokarditisrisiko

Als Endokarditis bezeichnet man die meist bakteriell bedingte Entzündung der Herzinnenhaut inklusive der Herzklappen. Die häufigsten verursachenden Erreger sind dabei Staphylokokken (Staph. aureus) gefolgt von Streptokokken (Strept. viridans). Die Erkrankung ist zwar selten, aber vor allem aufgrund der oft konsekutiv entwickelten Herzinsuffizienz mit einer hohen Letalität (30  Prozent) verbunden. Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Endokarditis gelten angeborene oder erworbene Herz(-klappen)fehler, künstliche Herzklappen sowie rheumatische Erkrankungen21.

Aufgrund der Erkenntnis, dass invasive Maßnahmen in der Mundhöhle zu einer Bakteriämie mit den Mikroorganismen führen, die zu den hauptsächlichen Verursachern der Endokarditis gehören, existieren seit den 1950iger Jahren Empfehlungen, Personen mit erhöhtem Risiko vor invasiven Zahnbehandlungen antibiotisch abzuschirmen, obwohl klinische Studien zur Effektivität einer solchen Endokarditisprophylaxe fehlen5. Aufgrund neuer Erkenntnisse zum Bakteriämierisiko bei zahnmedizinischen Eingriffen (vor allem  im Vergleich zum Bakteriämierisiko durch Alltagsvorgänge wie Kauen oder Zähneputzen) und zu Risiken und Nebenwirkungen der Antibiotikatherapie wurde die Indikation zur Endokarditisprophylaxe in den folgenden Jahren sukzessive eingegrenzt und gilt heute höchstens für Hochrisikogruppen als obligat27. Während einige Länder (Großbritannien) auf die präventive Antibiotikagabe vollständig verzichten, schlossen sich die deutschen Fachgesellschaften 2007 den Richtlinien der American Heart Association (AHA) an und empfehlen die Gabe von 2 g Amoxicillin oder 600 mg Clindamycin eine Stunde vor der invasiven zahnmedizinischen Behandlung ausschließlich Patienten mit sehr hohem Endokarditisrisiko. Zu diesen gehören:

  • Patienten nach abgelaufener infektiöser Endokarditis,
  • Patienten mit künstlichen Herzklappen,
  • Patienten nach Herztransplantation bei vorhandener Herzklappenpro­blematik sowie
  • Patienten mit bestimmten angeborenen Herzfehlern.

Auf die Dosierung der Antibiotikamenge in Abhängigkeit vom Körpergewicht sowie auf eine postoperative Medikamentengabe soll nach wie vor verzichtet werden25.

2. Gelenkendoprothesen

Führen degenerative oder traumatische Erkrankungen zu irreversi­blen Funktionseinbußen der Gelenke, müssen diese durch alloplastisches Material (meist Titan- beziehungsweise NEM-Legierungen, Keramik oder Polyethen) ersetzt werden. Dabei kann entweder selektiv nur die Gelenkpfanne bzw. der Gelenkkopf oder das gesamte Gelenk ausgetauscht werden. In letzterem Fall spricht man von einer Totalendoprothese (TEP). Durchgeführt wird die Operation meistens an Hüfte oder Knie, seltener sind Sprung- oder Schultergelenke betroffen. Die Prävalenz nimmt mit steigendem Lebensalter zu. So trägt 1 Prozent der mehr als 70-Jährigen eine Hüftendoprothese, 0,7 Prozent sind mit einer Knieprothese versorgt23.

In Einzelfallberichten und kleineren retrospektiven Studien wurde über Infektionen von implantierten Gelenken nach invasiven zahnmedizinischen Eingriffen berichtet17. Aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zwischen den Ereignissen sowie aufgrund der Identifikation der verursachenden Keime als Mundhöhlenbakterien wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen der Zahnbehandlung und der Gelenkprotheseninfektion diskutiert und eine präventive Antibiotikagabe erwogen. Die Idee hinter dieser Überlegung ist, dass invasive zahnmedizinische Maßnahmen eine Bakteriämie verursachen. Dadurch werden virulente Bakterien aus der subgingivalen Plaque hämatogen zur Gelenkprothese fortgeleitet, wo sie eine Entzündung verursachen, die im schlimmsten Fall zum Verlust des implantierten Materials führt. Hierzu konnten Studien jedoch zeigen, dass nur ein sehr geringer Anteil der Protheseninfektionen durch typische Mundhöhlenkeime verursacht wird. Deutlich häufiger entstehen die Entzündungen durch Hautkeime wie Staphylokokkus aureus oder Bakterien aus dem Urogenital- beziehungsweise Analbereich (zum Beispiel Escherichia coli)11. Zudem wird die im Tiermodell ermittelte Keimdichte, die nötig ist, um eine akute Gelenksinfektion auszulösen, durch zahnmedizinische Maßnahmen in der Regel nicht erreicht17,28. Insgesamt ist das Risiko für eine Entzündung implantierter Gelenkprothesen durch Eingriffe in der Mundhöhle gering. Es wird auf ca. 0,05 Prozent beziffert8 und liegt damit deutlich unter dem Risiko für unerwünschte Antiobiotikanebenwirkungen. Von einer routinemäßigen Abschirmung von Gelenkprothesentägern sollte daher im Hinblick auf die Risiko-Nutzen-Relation abgesehen werden.

Gelegentlich wird die Indikation zur Gabe einer Antibiotikaprophylaxe vom Zeitintervall zwischen Gelenkimplantation und Zahnbehandlung beziehungsweise von den Begleiterkrankungen der Patienten abhängig gemacht. Jedoch konnten Studien keine erhöhte Prävalenz von Endoprotheseninfektionen im ersten Jahr nach der Implantation23 oder bei Patienten mit Komorbiditäten24 aufzeigen, so dass hier ebenfalls keine generelle AB-Prophylaxe indiziert ist.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass aktuell in Deutschland zwar keine Leitlinie zum zahnmedizinischen Umgang mit Patienten nach Endoprothesenimplantation vorliegt, die meisten Autoren sowie die wissenschaftliche Evidenz jedoch die Aussage der American Dental Association (ADA) unterstützen, nach der eine generelle Antiobiotikaprophylaxe bei Gelenkprothesenträgern unabhängig vom Alter des Implantates nicht empfohlen wird20.

3. Antiresorptive Therapie

Zu den antiresorptiv auf den Knochenstoffwechsel wirkenden Medikamenten gehören Bisphosphonate sowie der monoklonale Antikörper Denosumab. Beide Substanzen hemmen auf unterschiedlichen Wegen die Osteoklastentätigkeit während die Wirkung auf Osteozyten und Osteoblasten gering ist beziehungsweise fehlt, so dass mehr Knochen synthetisiert als abgebaut wird. Dadurch kommt es zu einer positiven Knochenbilanz. Da zudem die Gefäßneubildung im Knochen durch die Antiresorptiva gehemmt wird, entsteht unter der Medikation ein stärker mineralisierter, minderdurchbluteter und somit abwehrgeschwächter Knochen. Aufgrund dieser Wirkung sind antiresorptive Medikamente bei Erkrankungen mit defizitärer Knochenstruktur indiziert. Dazu gehören angeborene Knochenkrankheiten (Mobus Paget oder Osteogenesis imperfecta) Osteoporose, primäre Knochentumoren (zum Beispiel Plasmozytome) oder ossäre Metastasen solider Tumoren (vor allemMamma- oder Prostatakarzinome)15.

In ihrer Pharmakokinetik unterscheiden sich die beiden antiresoptiven Sub­stanzen. Bisphosphonate lagern sich nach oraler oder intravenöser Verabreichung am Hydroxylapatit der Knochenoberfläche an, werden dort von den Osteoklasten aufgenommen und hemmen deren Aktivität. Nach 2–4 Wochen werden die Bisphosphonate in die Knochenmatrix eingebaut. Hier verbleiben sie in Abhängigkeit von der applizierten Substanzgruppe einige Jahre oder Jahrzehnte, ohne jedoch weiterhin in gleichem Ausmaß in den Knochenstoffwechsel einzugreifen. Der meist subkutan verabreichte Antikörper Denosumab wird dagegen nicht in den Knochen eingebaut, so dass der Therapieeffekt nach sechs Monaten vollständig reversibel ist4.

Eine relevante Nebenwirkung unter antiresorptiver Therapie ist die Entstehung einer sogenannten Medikamenten-induzierten Kiefernekrose (MRONJ = Medication-releated Osteonecrosis of the Jaw). Diese schwer therapierbare Erkrankung entsteht, da es aufgrund der medikamentös verminderten Stoffwechsel- und Abwehrleistung des Knochens zu Nekrotisierungen im Kiefer kommen kann. Werden diese primär aseptischen Nekrosen sekundär bakteriell besiedelt, entstehen die mitunter ausgedehnten Knochenläsionen. Da die Verschleppung von Bakterien in den vorgeschädigten Kieferknochen häufig iatrogen erfolgt (vor allem durch Zahnextraktionen), empfiehlt die DGZMK in ihrer Leitlinie, für Patienten unter hochdosierter antiresorptiver Therapie vor operativen Eingriffen am Kieferknochen eine „prolongierte perioperative systemische Antibiotikagabe“ zum Beispiel mit 1 g Amoxicillin beziehungsweise 600 mg Clindamycin 3 x täglich einen Tag präoperativ bis zum „Abklingen klinischer Zeichen einer Keimbelastung“16.

In der klinischen Praxis stellt sich dennoch häufig die Frage, welche Patienten unter antiresorptiver Therapie einer antibiotischen Abschirmung bedürfen und vor welchen Maßnahmen die AB-Gabe erforderlich ist. Für diese Entscheidung spielt das individuelle MRONJ-Risiko des Patienten eine wichtige Rolle. Dieses wird maßgeblich durch die Grunderkrankung, wegen der die antiresorptiven Medikamente verordnet wurden, bestimmt. So weisen Patienten, die aufgrund einer Osteoporose behandelt werden, nur ein geringes Risiko für die Entwicklung einer Kiefernekrose auf. Die Prävalenz wird in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben, in der Regel aber auf < 0,1 Prozent beziffert9. Da das Risiko für Antibiotikanebenwirkungen die MRONJ-Wahrscheinlichkeit in diesen Fällen also übersteigt, ist die Indikation zur prophylaktischen Antibiotikagabe bei Patienten mit antiresorptiver Therapie aufgrund von primärer Osteoporose kritisch zu betrachten.

Zur tiefergehenden Lektüre in das Thema empfehlen wir das Buch „Antibiotika in der Zahnmedizin“ von Bilal Al-Nawas und Peter Eickholz, das 2021 erschienen ist. Es gibt eine praxisnahe Übersicht über die klinisch relevanten Aspekte der Antibiose in der Zahnmedizin. Autoren aus den Bereichen zahnärztliche Chirurgie, Parodontologie, Endodontie und Allgemeinmedizin beschreiben auf Grundlage aktueller Literatur und Leitlinienempfehlungen, für welche zahnärztlichen Behandlungen und bei welchen Patientengruppen der Einsatz von Antibiotika therapeutisch bzw. prophylaktisch indiziert ist. Die entsprechenden Antibiotikaklassen werden vorgestellt, Indikationen, Wirkungen, Nebenwirkungen und Regime erläutert. Informationen zum Buch gibt es im Quintessenz-Shop.

Demgegenüber entwickeln Patienten, die antiresorptive Medikamente aufgrund einer Krebserkrankung erhalten, mit einer Prävalenz von bis zu 20 Prozent eine MRONJ und gelten damit als Hochrisikopatienten16. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Kiefernekrosen wird durch verschiedene Begleitfaktoren wie lange Therapiedauer, Komorbiditäten (Rauchen, schlecht eingestellter Diabetes mellitus) und Begleitmedikationen (Chemotherapie, Kortikosteroide, Angiogenesehemmer) zusätzlich erhöht1. Auch bei diesen Hochrisikopatienten wird die Antibiotikaprophylaxe jedoch nur vor chirurgischen Eingriffen am Kieferknochen empfohlen. Dagegen wurden dentalhygienische (zum Beispiel professionelle Zahnreinigungen) und parodontologische Behandlungen (nicht chirurgische Parodontitistherapie) in der Literatur nicht als Maßnahmen identifiziert, welche das MRONJ-Risiko erhöhen14. Bisher existiert nur ein einzelner Fallbericht zu diesem Zusammenhang7, so dass bei Patienten unter antiresorptiver Therapie keine Evidenz für den Nutzen einer antibiotischen Abschirmung vor geschlossener Parodontitisbehandlung besteht.

Fazit

Situationen, die eine prophylaktische Antibiotikagabe vor zahnmedizinischen Eingriffen notwendig machen, sind selten. Dort, wo die Verabreichung indiziert ist, sollte sie rechtzeitig und mit geeigneten Wirkstoffen durchgeführt werden. In der überwiegenden Zahl der Fälle jedoch übersteigt das Risiko für das Auftreten von Medikamentennebenwirkungen den zu erwartenden positiven Effekt durch die Antibiose. Vor dem Hintergrund der zahlreichen antibiotikabedingten Gesundheitsschäden und insbesondere der globalen Resistenzentwicklung sollte die Entscheidung über eine prophylaktische AB-Gabe für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und nach kritischer Risiko-Nutzen-Abwägung getroffen werden. Der vorliegende Artikel soll lediglich eine Entscheidungshilfe darstellen.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Julia Blank, Köln

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Reference: Team Praxis Parodontologie

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