Nach derzeitigem Kenntnisstand sind vitalerhaltende Maßnahmen bei pulpanaher Karies nur an pulpavitalen Zähnen indiziert, die asymptomatisch sind oder allenfalls Symptome einer reversiblen Pulpitis aufweisen. Bei Vorliegen einer irreversiblen Pulpitis existiert mit der Wurzelkanalbehandlung nach Vitalexstirpation eine zuverlässige und etablierte Methode, die nach wie vor als Goldstandard angesehen werden sollte. Aktuell veröffentlichte klinische Studien zeigen jedoch, dass trotz Diagnose „irreversible Pulpitis“ nach partieller oder vollständiger Pulpotomie überraschend hohe Erfolgsquoten erzielt werden können. Dies stellt nicht nur derzeitige Konzepte zur Behandlung pulpitischer Zähne infrage, sondern auch die aktuelle Nomenklatur pulpaler Erkrankungen. Zwar ist eine Übereinstimmung der Diagnosestellung „irreversible Pulpitis“ mit histologisch nachweisbaren Bereichen von bakteriell infiziertem oder bereits nekrotischem Gewebe evident, jedoch sind diese Bereiche in direktem örtlichem Bezug zur kariösen Läsion in der Kronenpulpa lokalisiert und betreffen nicht das gesamte Gewebe. Bei der Pulpotomie wird entzündetes und somit stark blutendes Pulpagewebe vollständig und bis in das gesunde Restgewebe entfernt, um die Voraussetzungen für dessen Ausheilung zu schaffen. Bislang liegen 12 klinische Studien vor, die auf die Vitalerhaltung bei kariösen Zähnen mit irreversibler Pulpitis fokussieren. Der Behandlungserfolg nach Beobachtungszeiträumen von 1–5 Jahren liegt in den meisten Studien zwischen 85 % und 95 %, unabhängig von Patientenalter und Art der Pulpotomie (partiell oder vollständig). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Langzeitstudien fehlen und die Aussagekraft einzelner Studien durch diverse qualitative Mängel limitiert ist. Dennoch kann aufgrund der derzeitigen Datenlage die Pulpotomie als valide Behandlungsoption bei irreversibler Pulpitis angesehen werden und kommt als Alternative zur Vitalexstirpation durchaus infrage. Der Erfolg der Pulpotomie hängt, neben der korrekten Indikationsstellung, maßgeblich von der adäquaten Durchführung der erforderlichen Behandlungsschritte ab. Dazu gehören, neben dem aseptischen Behandlungskonzept mit konsequenter Anwendung von Kofferdam und sterilem Instrumentarium, auch die Verwendung von Vergrößerungshilfen, die ein ausreichend präzises Vorgehen bei der Amputation ermöglichen, die endodontische Fachkenntnis zur Beurteilung des exponierten Pulpagewebes, die Anwendung geeigneter Maßnahmen zur Desinfektion, die Abdeckung des Gewebes mit einem bioaktiven Material sowie die sofortige bakteriendichte koronale Restauration.
Die vorliegende wissenschaftliche Mitteilung wurde erstveröffentlicht in: Dtsch Zahnärztl Z 2021;76:114–122 – mit freundlicher Nachdruckgenehmigung des Deutschen Ärzteverlags.
Schlagwörter: partielle Pulpotomie, Pulpitis, Vitalerhaltung, vollständige Pulpotomie