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Wichtig ist, die Patientenautonomie zu würdigen und die Betreffenden nicht zu bevormunden, sondern den Weg zu einer (Re-)Inklusion zu öffnen

(c) shutterstock

Der vorliegende Beitrag von Prof. Dominik Groß für die Quintessenz Zahnmedizin 12/21 beschäftigt sich mit den ethischen Implikationen oraler Präventionsmaß­nahmen. Herausforderungen ergeben sich dabei vor allem aus der Tatsache, dass die betreffenden Maßnahmen nicht alle Adressaten erreichen: Ein Teil der Betreffenden lehnt Präventionsangebote ab, ein anderer Teil hat zu diesen keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang. Beide Ursachenkomplexe werden aus ethischer Sicht diskutiert und evaluiert. Dabei zeigt sich, dass im Fall der Ablehnung von Präventionsmaßahmen der Respekt vor der Patientenautonomie, im Fall von Zugangs­barrieren die ethischen Prinzipien Gerechtigkeit, Non-Malefizienz und Benefizienz berührt sind. Hinzu kommen weitere ethische Fallstricke, die eine Problembewältigung erschweren können und deshalb besonderer Achtsamkeit bedürfen.

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Problemstellung

In der Gesundheitsversorgung können wir – ethisch betrachtet – grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Szenarien unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es medizinische Maßnahmen, die moralisch als umstritten gelten – Beispiele wären Schwangerschafts(spät)abbrüche oder wie 2021 diskutiert, die Frage einer Impfpflicht gegen Covid-19. Auf der anderen Seite finden sich Initiativen, die durchweg befürwortet werden. Präventionsmaßnahmen in der Zahnheilkunde zählen üblicherweise zur letztgenannten Kategorie – vorausgesetzt, sie haben eine hinreichende Evidenz und werden als wirksam angesehen3,28.

Tatsächlich ist die Frage, ob gesundheitsfördernde Maßnahmen grundsätzlich sinnvoll und geboten sind, für das Gros der zuständigen „Gesundheitsexperten“ bereits positiv entschieden. Wir sprechen in der Medizinethik in derartigen Fällen von „A-priori-Entscheidungen“. Diese Sichtweise wird unterstrichen durch die rezente Feststellung der World Health Organization (WHO), dass die Mundgesundheit zu den Eckpfeilern der Gesundheitsversorgung gehört29.

Nun könnte man denken, dass Bereiche, die durch positive A-priori-Entscheidungen charakterisiert sind, keine ethischen Fragen aufwerfen. Doch das wäre ein voreiliger Rückschluss – insbesondere deshalb, weil die besagten Präventionsmaßnahmen nicht alle adressierten Personen, sondern nur einen Teil derselben erreichen. Dementsprechend ist aus ethischer Sicht nach den Hintergründen dieses Faktums zu fragen. Dabei sind prinzipiell zwei Ursachen denkbar:

  • Die Betreffenden lehnen die Präventionsangebote ab.
  • Die Betreffenden haben zu den Präventionsmaßnahmen keinen oder einen eingeschränkten Zugang.

Beide Szenarien sind ethisch höchst unterschiedlich zu bewerten. Dabei bietet es sich schon aus systematischen Gründen an, die betreffenden Ursachenkomplexe getrennt voneinander zu untersuchen. Zur Evaluation wird hierbei vor allem auf die Prinzipienethik von Beauchamp und Childress zurückgegriffen, bei der vier verschiedene ethische Prinzipien auf die klärungsbedürftige Situation bezogen und analysiert werden4:

  • Respekt vor der Patientenautonomie,
  • Non-Malefizienz-Prinzip oder Nicht-Schadens-Gebot,
  • Benefizienz-Prinzip oder Gebot der ärztlichen Fürsorge,
  • Gerechtigkeit.

Menschen, die Präventionsmaßnahmen nicht zugänglich sind

Menschen sind verschieden – sie besitzen nicht nur unterschiedliche Primärpersönlichkeiten, sondern bewegen sich auch in unterschiedlichen „sozialen Lagen“. Sie befinden sich überdies in unterschiedlichen Lebensphasen, gehören unterschiedlichen Altersgruppen an und müssen individuell unterschiedliche Lebensereignisse („Life events“) verarbeiten. All dies wirkt zurück auf ihre Lebenseinstellung und ihr Gesundheitsverhalten.

Gerade die sozialen Lagen – das heißt die spezifischen gesellschaftlichen Milieus, Lebensformen, Lebensstile und Lebensführungen einer Person – prägen das jeweilige Gesundheitsverhalten6,14. Menschen, die Präventionsangebote erhalten und registrieren, können hierzu grundsätzlich zwei verschiedene Haltungen einnehmen: Sie sind diesen gegenüber zugänglich oder sie sind es eben nicht.

Beide Einstellungen sind – in einen medizinethischen Fachterminus übertragen – Ausdruck der jeweiligen Patientenautonomie und insofern zu respektieren. Dies gilt umso mehr, als der traditionelle ärztliche Paternalismus ausgedient hat4,11,12. Voraussetzung einer autonomen Handlung ist freilich, dass es sich um entscheidungsfähige Personen handelt, das heißt um Personen, welche die Tragweite der von ihnen zu treffenden Entscheidung ermessen können.

Die Gründe für den Verzicht auf Prävention können durchaus unterschiedlicher Natur sein: Denkbar sind Menschen, die grundsätzlich keinen Wert auf Vorsorge legen und erst dann medizinische Experten aufsuchen, wenn sie Krankheitssymptome wahrnehmen. Andere hegen zwar keine Vorbehalte gegen Präventionsmaßnahmen, räumen diesen aber auch keinen hohen Stellenwert ein; hier genießen andere, konkurrierende Alltagsaufgaben Vorrang, sodass Prophylaxetermine de facto nicht zustande kommen. Auch der finanzielle Aufwand für Präventionsmaßnahmen kann ein Grund für eine ablehnende Haltung sein: Da man unter Umständen auch ohne prophylaktische Maßnahmen gesund bleibt, die Prävention aber auf jeden Fall Geld kostet, entscheiden manche sich dagegen. Hinzu kommen Patientinnen und Patienten, bei denen es psychische Gründe gibt, warum sie nur im äußersten Notfall medizinisches Fachpersonal aufsuchen („notfallorientiertes Besuchsverhalten“22). Ein Beispiel hierfür liefern Patienten, die an einer Zahnbehandlungsphobie (Dentalphobie) leiden7.

Nun ist der „Respekt vor der Patientenautonomie“ kein absolutes, sondern lediglich ein relatives ethisches Gebot. Es kann also mit anderen, gegenläufigen ethischen Geboten kollidieren, sodass eine Abwägung erfolgen muss. Eine derartige Diskussion über die Abwägung von Gütern erlebten wir beim Thema „Corona-Impfpflicht“: Befürworter der Impfpflicht argumentieren damit, dass die Verweigerung einer Impfung nicht nur den Betreffenden selbst, sondern auch die Gemeinschaft potenziell schädigt (Risiko der Übertragung) und fordern deshalb eine obligate Vakzination – zumindest für Gesundheitsberufe, aber teilweise auch darüber hinaus. Hier haben wir es also mit einem Konflikt zwischen dem Wert der Freiheit und dem Wert der Gesunderhaltung (beziehungsweise dem staatlichen Auftrag des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung) zu tun5.

Doch der Vergleich der (Zwangs-)Impfung mit Präventionsmaßnahmen hinkt: Eine Person, die sich gegen eine Impfung entscheidet, riskiert durch ihr Verhalten nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern potenziell auch diejenige dritter Personen. Es handelt sich hierbei also um eine Konkordanz von Selbst- und Fremdgefährdung16. Demgegenüber birgt der bewusste Verzicht auf Prävention zwar ebenfalls Risiken für die Betroffenen selbst, doch gilt dies nicht für andere.

Nun könnte man freilich auf einen möglichen wirtschaftlichen Schaden verweisen: Wer Präventionsmaßnahmen verweigert und erst im Krankheitsstadium (zahn-)ärztliche Hilfe sucht, bürdet der Versichertengemeinschaft letztlich höhere Kosten auf. Schließlich ist es günstiger, Krankheiten zu vermeiden als diese späterhin behandeln zu müssen. Allerdings sind viele Szenarien des Alltags bekannt, in denen sich Mitbürger gegen eine Risikoprävention entscheiden beziehungsweise ein gefahrengeneigtes Verhalten zeigen – man denke an Raucher, an Konsumenten von Alkohol oder Extremsportler. Die Betreffenden werden üblicherweise nicht zum Verzicht auf Nikotin, Alkohol oder riskanten Sport gezwungen, obwohl zum Beispiel die Behandlung von Lungenkrebs oder von Sport- und Freizeitunfällen erhebliche Kosten aufwirft, welche im GKV-System durch die Versichertengemeinschaft getragen werden. Hier übertrumpft das Recht auf Selbstbestimmung den gesellschaftlichen Wunsch nach der Begrenzung ökonomischer Schäden.

Und doch befasst sich die Medizinethik sowohl mit der Frage, welches Verhalten eine Person, die sich gegen Prävention entscheidet, der Gemeinschaft schuldet, als auch mit der gegenläufigen Frage, wie die Gesellschaft mit einer solchen „Präventionsverweigerung“ umgehen sollte. Bei dem Versuch, diese beiden Fragen zu klären, stößt man unweigerlich auf ethische Dilemmata – wie etwa das „Risiko-Ignoranz-Risiko“: Letzteres betrifft Personen, die sich der Prävention verweigern: Wer sich im Wissen um die bestehenden Risiken gegen Prävention entscheidet, sieht sich beim Auftreten einer Krankheit dem Vorwurf ausgesetzt, dass man sich hätte schützen können und sollen13. Der Präventionsverweigerer gerät also unter Rechtfertigungsdruck und befindet sich letztlich in einem (moralischen) Dilemma13.

Doch auch diejenigen, die „Präventionsverweigerern“ mit Vorwürfen entgegentreten, bewegen sich auf moralisch kritikwürdigem Terrain. Hier wird zum einen von „Victim blaming“14 (Opferbeschuldigung) gesprochen: Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass es verfehlt ist, einer Person die Schuld an ihrem Gesundheitsverhalten zu geben13 – nicht nur, weil Menschen grundsätzlich die Freiheit haben, sich für oder gegen medizinische Maßnahmen zu entscheiden, sondern auch, weil das individuelle Präventionsverhalten das Ergebnis komplexer sozialer Rahmenbedingungen ist. Wie Heilmann et al.14 betonen, hängt das Gesundheitsverhalten „mit den Bedingungen zusammen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, leben, arbeiten und alt werden“. Mit anderen Worten: Es ist gar nicht ohne Weiteres möglich, diesen sozialen Determinanten zu „entkommen“. Eine Kommunikation, die zwischen vermeintlich moralisch „korrektem“ Verhalten (hier: Bereitschaft zur Prävention) und „inkorrektem“ Verhalten (hier: Verweigerung von Prävention) unterscheidet, ist daher unangemessen – eben weil sie individuelle Entscheidungen moralisch diskreditiert und die Betreffenden somit letztlich diskriminiert. Ich darf selbstverständlich als Zahnarzt bestimmte Entscheidungen von Patienten (hier: die bewusste Nichtinanspruchnahme von Präven­tion) als falsch empfinden, doch diese persönliche Einordnung eines Verhaltens darf nicht zu einer Be- oder Abwertung der betreffenden Person führen. Denn letzteres bedeutet Ausgrenzung. Das langfristige Ziel von Gesundheitsexperten sollte jedoch immer das Gegenteil sein – nämlich Personen zu (re-)inkludieren.

Noch einen dritten normativen Fallstrick gilt es anzusprechen: Die Tendenz der modernen Gesundheitsfürsorge, die Prävention zu einem „Credo“, das heißt zu einem Glaubenssatz, zu erheben. Ein solches Credo bedeutet nämlich im Umkehrschluss eine „Abwertung des Nichtgesunden“13. Ebendies, so argumentieren Kritiker, sei aber moralisch fragwürdig: Krankheit gehört unabdingbar zum Leben dazu. Sie ist allgegenwärtig, sodass die starke Be­tonung der Gesunderhaltung eine Abwertung des Kranken und des Krankseins mit sich bringe. Daher dürfe die Gesunderhaltung nicht zu einer „Leistungspflicht“ des Einzelnen stilisiert werden – zumal Menschen nur begrenzten Einfluss auf ihren Gesundheitsstatus haben und unterschiedliche genetische Dispositionen und gesundheitliche Voraussetzungen mit unterschiedlichen Krankheitswahrscheinlichkeiten einhergehen.

Menschen, die keinen (unmittelbaren) Zugang zu Präventionsmaßnahmen haben

Ganz anders stellt sich die Situation dar bei Menschen, die keinen fairen Zugang zu Präventionsmaßnahmen haben. Wenn es um ungleichen Zugang geht, ist das ethische Prinzip der Gerechtigkeit berührt – konkreter: das Prinzip der Zugangsgerechtigkeit beziehungsweise der Verteilungsgerechtigkeit, weil in diesen Fällen das Gut „Prävention“ nicht allen zugänglich und damit ungleich verteilt ist (Tab. 1).

Tab. 1 Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen, hiervon berührte ethische Prinzipien und mögliche ethische Fallstricke.
Tab. 1 Gründe für die Nichtinanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen, hiervon berührte ethische Prinzipien und mögliche ethische Fallstricke.

Grundsätzlich ist zwischen „sozialer Ungleichheit“ und „sozialer Ungerechtigkeit“ zu differen­zieren. „Soziale Ungleichheit“ ist beschreibend (deskrip­tiv), „soziale Ungerechtigkeit“ ist demgegenüber wertend (normativ). Beides hängt jedoch zusammen, wie auch Frühbuß und Schäfer betonen: „Nach dem Gerechtigkeitsverständnis des Sozialprinzips gelten […] Lebensbedingungen, die es dem einen mehr und dem anderen weniger erlauben, ein Leben in Gesundheit zu führen, als ‚soziale Ungerechtigkeit‘“6.

Es ist altbekannt, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen von den sozialen Gegebenheiten abhängig ist. In der Vergangenheit wurde hierbei häufig von einem „(sozialen) Schichtgefälle“ oder einem „sozialen Gradienten“ gesprochen. Beide Bezeichnungen zielen auf das Faktum, dass Angehörige unterprivilegierter gesellschaftlicher Schichten im Durchschnitt schlechtere Lebensbedingungen, einen ungesünderen Lebensstil, ein höheres Krankheitsaufkommen und eben auch Barrieren beim Zugang zu den Versorgungssystemen vorfinden6.

Heute arbeitet man mit komplexeren Modellen, weil das traditionelle soziale Schichtmodell bestimmte Barrieren nur unzureichend beschreibt und zudem nicht alle Menschen erfasst: Die Schichtzuordnung richtet sich bei diesem Modell nach dem „Haupternährer“, während haushaltsführende Personen, Studierende, Arbeitssuchende und Rentner entweder gar nicht klassifiziert oder einfach dem Haupternährer beigesellt werden. Deshalb bevorzugt man heute „Modelle von sozialen Lagen“6. Hierbei werden „subjektive soziale Lebensformen, Milieus, Lebensstile und Lebensführungen mit der Analyse objektiv ungleicher Lebensbedingungen in Verbindung gebracht. Lebensformen werden beispielsweise die Art und Weise des unmittelbaren Zusammenlebens mit Mitmenschen in der Familie, in der Patchworkfamilie, als Single etc. genannt, soweit sie gesundheitlich vorteilhaft oder nachteilig sind. Milieuzugehörigkeit wird die Eingebundenheit in ein soziales Umfeld mit typischen Werthaltungen und Grundeinstellungen genannt. Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu ist nicht zwangsläufig schichtabhängig, führt aber häufig zu einer ähnlichen Gestaltung und Interpretation der Alltagswelt und den Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Zwischen den Sozialschichten und auch innerhalb bestehen deshalb verschiedene Milieus, die eher durch unterschiedlich zu erreichende Lebensziele gekennzeichnet sind“6.

Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass bestimmte Personengruppen einen leichteren Zugang zu Präventionsprogrammen haben als andere. In diesem Zusammenhang spricht man auch vom „Matthäus-Effekt“ – bezugnehmend auf die Bibel, konkret auf Mt 25,29: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe“: Privilegierte Personengruppen, die bestimmte Angebote bereits nutzen, werden künftige Angebote dieser Art in stärkerem Maße wahrnehmen und für sich in Anspruch nehmen und damit letztlich ihre privilegierte Position ausbauen. Speziell mit Blick auf Prophylaxemaßnahmen reden wir auch von einem „Präventions­dilemma“: A priori präventionsbewusste Bürger werden von derartigen Angeboten eher erreicht als präventionsferne Bürger, obwohl doch gerade Letztere der Prophylaxe bedürften18. Dies hat auch mit der „Komm-Struktur“ unseres Versorgungssystems zu tun: Unser System geht traditionell wenig auf Zielgruppen zu, sondern baut vielmehr darauf auf, dass diese von sich aus den Weg zum (Zahn-)Arzt finden. Auch hier gilt wieder: Menschen haben in der Regel wenig Spielraum, sich anders als ihr engeres soziales und kulturell-religiöses Umfeld zu verhalten. Außerdem gelten bestimmte (nachweislich ungesunde) Lebensstile und Rituale (zum Beispiel gemeinsames Konsumieren von Alkohol) in manchen Milieus als gemeinschaftsstiftend und sind deshalb sehr veränderungsresistent27.

Aus ethischer Sicht ist festzuhalten, dass es Zugangsbarrieren gibt, die Ungerechtigkeit hervorrufen oder verstärken. Ebenso ist festzustellen, dass diese Zugangsprobleme mit sozialen Lagen zusammenhängen und bestimme Gruppierungen in besonderem Maße betreffen: sogenannte „vulnerable Gruppen“7.

Doch welche Gruppierungen sind besonders verletzlich? Die einschlägige Fachliteratur fokussiert hierbei auf drei Gruppierungen: Am häufigsten werden Migranten beziehungsweise Personen mit Migrationshintergrund genannt. Aber auch Menschen mit Behinderung sowie (hoch)-betagte Menschen werden zu den vulnerablen Gruppen gezählt.

Migranten und Personen mit Migrationshintergrund

Die Betreffenden vereinigen mehrere „Risiken“, die den Zugang zur Prävention erschweren können1,2,17: Sie sind im Durchschnitt wirtschaftlich schlechter gestellt als die Bevölkerung des Ziellandes und wohnen tendenziell eher in medizinisch unterversorgten Wohngegenden. Dies beeinflusst die gesellschaftliche Teilhabe und den Zugang zu Gesundheits- und Präventionsprogrammen. Unter Umständen besteht zudem eine Sprachbarriere. Hinzu kommt ggf. das Phänomen der kulturellen Differenz bzw. der unvollständigen „Akkulturation“: Unter Akkulturation wird allgemein der Prozess der Übernahme von Elementen der zunächst fremden Kultur des Immigrationslandes durch Einzelpersonen verstanden. Je nach Prägung und Sozialisation fällt es Migranten unterschiedlich schwer, die kulturellen Eigenheiten des Ziellandes anzunehmen. Dies schließt auch etwaige Unterschiede im Krankheitsverständnis (z. B. ganzheitliches vs. organbezogenes Krankheitsbild) mit ein, welche ihrerseits ebenfalls auf das Gesundheits- und Präventionsverhalten Einfluss nehmen können.

Wer keine Präventionsprogramme kennengelernt hat, bringt unter Umständen weniger Aufmerksamkeit („Awareness“) für entsprechende Initiativen mit – und nimmt sie folglich seltener in Anspruch. So stellte das Robert Koch-Institut bereits vor Jahren fest, dass die Präventionsangebote der oralen Medizin von Menschen mit Migrationshintergrund teilweise kaum wahrgenommen werden

Reference: Zahnmedizin Prävention und Prophylaxe med.dent.magazin